Perspektive

Tausende Zivilisten bombardiert, Kinder absichtlich getötet

„Civilian Casualty Files“ dokumentieren die Barbarei des US-Imperialismus im Irak und in Syrien

Am Sonntag veröffentlichte die New York Times einen umfassenden investigativen Bericht, die „Civilian Casualty Files“, begleitet von hunderten vertraulichen Pentagon-Dokumenten, aus denen hervorgeht, dass bei US-Luftangriffen im Irak und in Syrien tausende Zivilisten getötet wurden und das Militär dies systematisch vertuscht hat.

Die Civilian Casualty Files liefern Beweise für umfassende Kriegsverbrechen. Sie enthüllen, dass das US-Militär unter der Obama- und der Trump-Regierung vorsätzlich Zivilisten getötet hat, darunter auch Kinder. Die Pentagon-Dokumente offenbaren eine Verachtung für menschliches Leben, die erschreckend ist.

Die Hauptautorin und Rechercheurin, Azmat Khan, eine Assistenzprofessorin an der Columbia Graduate School of Journalism, verbrachte fünf Jahre mit der Aufdeckung der Geschichte. Sie stellte Anträge gemäß des Informationsfreiheitsgesetzes (Freedom of Information Act, FOIA), um die Berichte über den internen Überprüfungsprozess des Pentagons zu erhalten. Als diese Anträge abgelehnt wurden, reichte sie Klage gegen das Verteidigungsministerium und das U.S. Central Command ein und forderte die Freigabe der Dokumente.

Ein irakischer Junge trägt schwere Habseligkeiten durch die Trümmer, 15. Mai 2017 (AP Photo/Maya Alleruzzo)

Wenn das US-Militär von einer externen Quelle die Behauptung erhält, dass bei einem Luftangriff Zivilisten getroffen wurden, wird ein förmliches Prüfverfahren eingeleitet und ein Abschlussbericht erstellt. Zwischen September 2014 und Januar 2018 wurden 2.866 Berichte zu Luftangriffen im Irak und in Syrien erstellt. Vor der Veröffentlichung der Civilian Casualty Files wurde „kaum mehr als ein Dutzend“ veröffentlicht. Der Times wurden 1.311 Berichte übergeben, von denen nun Hunderte veröffentlicht wurden.

Khan überprüfte die Berichte anhand von Zeugenaussagen vor Ort und bereiste über 100 Orte im Irak, in Syrien und Afghanistan, an denen zivile Opfer gemeldet wurden, um Überlebende zu befragen. Sie stellt fest, dass „viele Behauptungen über zivile Opfer fälschlicherweise zurückgewiesen wurden ... [und] selbst wenn zivile Todesfälle zugegeben wurden, wurden sie oft erheblich unterschätzt“.

Ihre Untersuchung hat zum Beispiel ergeben, dass bei einem einzigen Luftangriff im Juli 2016 in der Ortschaft Tokhar in Nordsyrien mehr als 120 Zivilisten getötet wurden. Das US-Militär behauptete zunächst, es habe ISIS-Kräfte angegriffen, gab angesichts der Beweise, dass es sich bei den Opfern um Bauern handelte, jedoch zu, 24 Menschen getötet zu haben.

Der Militärbericht über das Massaker in Tokhar stellt fest, dass „keine Beweise für Fahrlässigkeit oder Fehlverhalten“ vorlägen und dass „keine weiteren Maßnahmen“ erforderlich seien. Keiner der Überlebenden wurde entschädigt. Dieses Muster zieht sich durch alle Berichte, die zusammengenommen auf eine umfassende Vertuschung hinweisen.

Kein einziger Bericht enthält eine Feststellung von Fehlverhalten oder eine Empfehlung für disziplinarische Maßnahmen. In vielen Fällen hat die Einheit, die einen Angriff ausgeführt hat, auch die Ermittlungen geführt. Ein Analyst für Drohnenaufnahmen, der anonym mit der Times sprach, berichtete, dass „vorgesetzte Offiziere oft ‚den Kameras sagten, sie sollten woanders hinschauen‘, weil ‚sie wussten, ob sie gerade ein schlechtes Ziel getroffen hatten‘.“ In vielen Fällen wurde berichtet, dass aufgrund von „Defekten in der Ausrüstung“ überhaupt kein Filmmaterial verfügbar war.

Die Times berichtet, dass sie „den Tod von tausenden Zivilisten, darunter viele Kinder“ aufgedeckt habe. Die Daten in den Pentagon-Berichten besagen, dass bei 27 Prozent der Luftangriffe, die zivile Opfer forderten, Kinder getötet oder verletzt wurden; Khans Überprüfung vor Ort hat ergeben, dass die Zahl bei 62 Prozent liegt.

Khan fasst ihre Ergebnisse zusammen: „Aus den mehr als 5.400 Seiten an Unterlagen geht hervor, dass Kollateralschäden institutionell als unvermeidlich akzeptiert werden. In der Logik des Militärs ist ein Schlag, wie tödlich er für Zivilisten auch sein mag, akzeptabel, solange er ordnungsgemäß beschlossen und genehmigt wurde – unter Abwägung der Verhältnismäßigkeit von militärischem Nutzen und ziviler Gefahr – und in Übereinstimmung mit der Befehlskette.“

Anders gesagt: Die Berichte offenbaren, dass das US-Militär bewusst Zivilisten tötet – darunter auch Kinder – und ein brutales taktisches Kalkül anwendet, das sie in jedem Bericht zu Papier bringen. Jeder Bericht offenbart in einer Kombination aus bürokratischen Akronymen und stumpfsinnigen Pöbeleien, dass Washington die Menschen im Nahen Osten als Abfallmaterial in seiner imperialistischen Wegschneise betrachtet.

Gebäude und Fahrzeuge werden als „slant“ („schräg“) eingestuft, so ist z. B. „bldg slant 4/1/3“ ein Gebäude, in dem vier Männer, eine Frau und drei Kinder leben. Diejenigen, die von einem Bombentatort fliehen, werden als „Squirters“ („Spritzer“) bezeichnet und oft von Drohnen gejagt und beschossen.

In einem Chatprotokoll der Drohnenpiloten in Mosul ist festgehalten, dass sie beim Beschuss eines Gebäudes – von dem sie wussten, dass sich darin Kinder befanden – fragten, wie viel „Spielzeit“ ihre Drohnen noch hätten, weil es dort wirklich „abging“. Acht Zivilisten aus drei Familien wurden getötet.

Diese Protokolle werden dann in undurchsichtigen bürokratischen Akronymen verfasst: „Ein CIVCAS-Vorfall hat stattgefunden.“ Jeder Bericht enthält drei mögliche Feststellungen mit entsprechenden Kontrollkästchen: „Die Fallmeldung ist glaubwürdig, führe weitere Untersuchungen durch“; „Sie ist glaubwürdig, ich leite jedoch keine Untersuchung ein“; und „Sie ist nicht glaubwürdig“.

Ein zufällig ausgewählter Bericht lautet: „Ich komme zu dem Schluss, dass die Zahl der getöteten Zivilisten 25 betrug“. Das Ergebnis? Glaubwürdig, keine weiteren Ermittlungen.

Aus einem als „nicht glaubwürdig“ eingestuften Bericht, der willkürlich ausgewählt wurde, geht hervor, dass in Raqqa am 16. August 2017 zwischen sechs und zehn Zivilisten getötet wurden, darunter auch Kinder. In dem eineinhalb Seiten langen Bericht wird diese Behauptung zurückgewiesen. An diesem Tag seien zu viele Luftangriffe durchgeführt worden, um eine Untersuchung einzugrenzen, und daher sei es unangemessen, eine Bewertung der Glaubwürdigkeit vorzunehmen.

Die Durchsicht der Pentagon-Berichte zeigt, dass das US-Militär ein Mordkalkül anwendet, mit dem es abwägt, wie viele Zivilisten es für ein bestimmtes Ziel zu töten bereit ist.

Am 20. März 2017 bombardierte Washington eine Fabrik in einem dicht besiedelten Wohnviertel im syrischen Tabaqa – wissend, dass dort Kinder beschäftigt waren. In dem Bericht heißt es: „Die TEA [Target Engagement Authority] stellte fest, dass der erwartete militärische Wert eines Angriffs auf dieses Ziel angesichts der Funktion des Ziels einen Schwellenwert für die Zahl der Opfer von [unkenntlich gemacht] rechtfertigte. ... abgeleitet aus den Vorhersagen der Bevölkerungsdichte ... wird der Kollateralschaden auf bis zu [unkenntlich gemacht] geschätzt.“ Es wurde festgestellt, dass die tolerierbare Zahl der Todesopfer den nicht näher spezifizierten „Non-combatant and Civilian Cutoff Value (NCV)“ („Grenzwert für Nicht-Kombattanten und Zivilisten“) nicht überschreitet. Es gab mindestens 10 zivile Todesopfer, darunter auch Kinder.

Bei der Entscheidung, Zivilisten zu töten, geht es jedoch nicht nur um die geschätzte durchschnittliche Todesziffer. Aus den Berichten geht hervor, dass sich das US-Militär bewusst dafür entschied, Bomben auf Kinder abzuwerfen, die es vor der Kamera sah. In einem besonders aussagekräftigen Abschnitt ihres Artikels über den „menschlichen Tribut“ beschreibt Khan, wie das US-Militär wissentlich auf einem Dach spielende Kinder bombardierte und dabei eine elfköpfige Familie tötete, ohne dass ISIS zugegen war.

Die Civilian Casualty Files vermitteln einen Eindruck von der ungeheuren Barbarei des US-Imperialismus. Tausende und abertausende Zivilisten wurden getötet, Familien und Haushalte wurden bei einem Luftangriff nach dem anderen ausgelöscht.

US-Bomben lösten ein Feuer in einem Wohnkomplex nördlich von Bagdad aus, bei dem 70 Menschen starben; Khan interviewte eine ältere Frau in einem „Vertriebenenlager“, die berichtete, dass ihre drei Enkelkinder im Alter von drei, zwölf und 13 Jahren in dem Feuer ums Leben kamen. Weiße Säcke mit „Sprengstoff“ erwiesen sich als Baumwolle aus einer Entkörnungsanlage; neun Arbeiter wurden getötet. Ein Luftangriff tötete einen Mann, der angeblich einen „unbekannten schweren Gegenstand“ trug, der sich jedoch später als „eine Person von kleiner Statur“ entpuppte. So bezeichnet das Pentagon ein Kind, das von seinem Vater getragen wurde und das sie verbrannt haben. Bei einem Luftangriff auf das Fahrzeug einer vor dem IS fliehenden Familie wurden sieben Menschen getötet; die Mutter wurde „in den Sitz eingebrannt, während sie ihren Säugling noch auf dem Schoß hielt“.

Qusay Saads Frau, sein vierjähriger Sohn und seine 14 Monate alte Tochter gehörten zu den acht Zivilisten, die getötet wurden, als die Schule, in der sie Schutz suchten, im Januar 2017 in Mosul mit einem Präzisionsluftangriff angegriffen wurde. Er sagte der Times: „Was passiert ist, war keine Befreiung. Es war die Zerstörung der Menschlichkeit.“

Die vom Militär freigegebenen Berichte beziehen sich auf den Irak und Syrien, für Afghanistan wurden noch keine Berichte vorgelegt. Erst nach dem schmachvollen Abzug des US-Militärs aus Afghanistan konnte Khan damit beginnen, die zivilen Opfer dort zu ermitteln. Sie schreibt: „Amerikas längster Krieg war in vielerlei Hinsicht der am wenigsten transparente. Jahrelang waren diese ländlichen Schlachtfelder für amerikanische Reporter weitgehend tabu. Doch nachdem die Taliban im August an die Macht zurückgekehrt waren, öffnete sich das Hinterland Afghanistans.“ Allein in einem Dorf fand sie heraus: „Im Durchschnitt verlor jeder Haushalt fünf zivile Familienmitglieder. Eine überwältigende Mehrheit dieser Todesfälle wurde durch Luftangriffe verursacht.“

Präsident Barack Obama prahlte im Jahr 2016: „Wir führen die präziseste Luftschlagkampagne in der Geschichte durch.“ Daran ist etwas Wahres dran. Washingtons Abschlachten von tausenden Zivilisten im Nahen Osten ist nicht das Ergebnis einer technischen Ungenauigkeit bei der Zielerfassung. Es ist vielmehr Ausdruck der kühl kalkulierten Bereitschaft, jeden zu töten – auch Kinder –, wenn sie die taktischen Ziele des US-Imperiums behindern.

Die Civilian Casualty Files sind die bisher bedeutendste Entlarvung von Washingtons Kriegen im Nahen Osten als eine ununterbrochene Serie von Kriegsverbrechen. Sie zeigen, dass die Barbarei, die Julian Assange als erster ans Licht gebracht hat, in Wirklichkeit die Grundlage des US-Imperialismus ist. Assanges prinzipienfester Mut, dies zu dokumentieren, wurde mit Verfolgung und Inhaftierung vergolten. Dieselben Verbrecher, die er entlarvt hat, trachten danach, ihn an die Vereinigten Staaten auszuliefern.

Das in der Times veröffentlichte Beweismaterial liefert hinreichende Gründe für eine Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen Obama, Trump und ihre obersten Militärbefehlshaber – und für die Freilassung von Julian Assange, um ihn in der Öffentlichkeit als Held zu feiern.

Die schockierenden Zahlen in den Civilian Casualty Files bleiben jedoch eine grobe Unterschätzung, da Khan nur einen Bruchteil der Todesopfer dokumentieren konnte. Die Trümmer der US-Bomben in Syrien und im Irak haben die Leichen von weit mehr Zivilisten bedeckt als die tausenden, die in diesem Bericht aufgedeckt wurden.

Der Bericht der Times wurde mit fast völligem Schweigen aufgenommen. Es wurde kein Ruf nach einer Untersuchung durch den Senat laut. Die herrschende Klasse Amerikas kann nicht einmal mehr den Anschein von Schock erwecken; sie beaufsichtigt aktiv das Massensterben in den Vereinigten Staaten.

Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der jahrzehntelangen mörderischen Politik Washingtons im Nahen Osten und der völligen Gleichgültigkeit des amerikanischen Kapitalismus gegenüber Menschenleben innerhalb der Vereinigten Staaten. Es ist das gleiche barbarische Kalkül am Werk. In weniger als zwei Jahren sind in den Vereinigten Staaten 800.000 Menschen an Covid-19 gestorben, doch weder Trump noch Biden werden etwas unternehmen, um die Ausbreitung der Pandemie zu stoppen. Die wissenschaftlich notwendigen Maßnahmen – Schließung aller nicht lebensnotwendigen Arbeitsplätze und Schulen, massive Subventionen für die Versorgung der Bevölkerung – würden die Produktion von Profit gefährden.

Wie die Militärs, die ihre Interessen verfolgen, berechnen auch die Kapitalisten die akzeptablen Todeszahlen und nehmen dabei auch Kinder ins Visier. Das Massensterben ist für die herrschende Klasse akzeptabel, sie wird es sogar begrüßen, solange es das ununterbrochene Wachstum der Finanzmärkte gewährleistet.

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