Mehring Books veröffentlicht Band I der Reihe „Gab es eine Alternative?“ von Wadim Rogowin

Geschichtsfälschung und der Kampf für Sozialismus

Unter dem Titel Was There an Alternative? 1923–1927. Trotskyism: A Look Back Through the Years hat Mehring Books vor Kurzem Band I der siebenbändigen Reihe herausgebracht, in der der sowjetische Historiker und Soziologe Wadim Rogowin die sozialistische Opposition gegen Joseph Stalin aufarbeitet. Drei weitere Bände sind bereits zuvor in englischer Sprache erschienen. In deutscher Sprache sind die Bücher beim Mehring Verlag erhältlich. Der entsprechende Band der deutschsprachigen Reihe trägt den Titel „Trotzkismus“ und kann hier bestellt werden.

Gab es eine Alternative? 1923-1927

Die Neuerscheinung ist ein bedeutendes Ereignis des politischen und intellektuellen Lebens. Thema des Bands ist die Zeit, in der die Linke Opposition unter der Führung Leo Trotzkis den Kampf gegen die bürokratische Clique aufnahm, die sich innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion um Stalin sammelte.

Rogowin (1937–1998) räumt mit dem von Antikommunisten und Stalinisten gleichermaßen verbreiteten Mythos auf, der Stalinismus habe sich natürlich und nahtlos aus dem Bolschewismus entwickelt. Er zeigt auf, dass diese Behauptung nur aufrechterhalten werden kann, wenn die sozioökonomischen und politischen Erschütterungen, die die UdSSR und die Kommunistische Partei erfassten, aus der Geschichtsschreibung getilgt werden – das heißt, indem, wie er es in seiner Einleitung ausdrückt, „alle Stadien zwischen der Oktoberrevolution und der Konsolidierung des stalinistischen Regimes als bedeutungslose Zickzackbewegungen“ abgetan werden. (S. 7 der deutschen Ausgabe)

Der Band, der ursprünglich 1992 auf Russisch erschien, ist ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung. Es stützt sich auf eine Vielzahl an Quellen, zu denen die Kreml-Regierung Sowjetbürgern bis in die späten 1980er und 1990er Jahre den Zugang verwehrte. Abgesehen von kleinen Auszügen, die in der historischen Forschung in Nordamerika oder Europa veröffentlicht wurden, war der größte Teil dieses Materials auch für Leser im Westen nicht zugänglich.

Rogowin präsentiert eine Fülle an Material: Korrespondenz zwischen Parteimitgliedern, Protokolle von Sitzungen auf hoher und niedriger Ebene, Notizen von Sekretären und anderen Beobachtern, Berichte und Mitteilungen regionaler und lokaler Parteiorgane und zahllose andere interne Dokumente sowie Artikel, Reden und Kommentare aus der damaligen Presse. Der Leser taucht in die Geschichte des wichtigsten politischen Kampfs des letzten Jahrhunderts ein und lernt seine Wendungen, Figuren, tragischen und erhabenen Momente und die zugrunde liegenden wirtschaftlichen und sozialen Faktoren kennen. Die Dramatik, man könnte sogar sagen die Hitze dieses Kampfs wird unmittelbar spürbar. Das gesamte Buch ist mit Fotografien sowie Original-Karikaturen und anderen Abbildungen versehen, die seit den 1920er Jahren in der Sowjetunion nicht mehr veröffentlicht wurden. Im Anhang finden sich biografische Notizen zu mehr als 70 historischen Persönlichkeiten. Im Text selbst kommen nicht nur Trotzki, sondern auch viele andere, weniger bekannte Oppositionelle zu Wort. Nachdem sie jahrzehntelang aus der offiziellen sowjetischen Geschichte getilgt worden waren, gibt Rogowin ihnen ihren rechtmäßigen Platz zurück.

Die englische Übersetzung weicht von der russischen Originalfassung ab, da Rogowin diesen Band aufgrund intensiver Diskussionen, die er Mitte der 1990er Jahre mit der trotzkistischen Bewegung führte, neu formulierte und erweiterte. Nachdem er jahrzehntelang in nahezu völliger Isolation gearbeitet hatte, war er endlich in der Lage, zahlreiche komplexe historische und politische Fragen in Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten im Internationalen Komitee der Vierten Internationale zu bewerten. Die Änderungen, die er an seinem Manuskript vornahm, wurden vom Übersetzer Frederick Choate sorgfältig geprüft und in die englische Fassung eingearbeitet. (Auch die deutsche Fassung basiert auf der von Rogowin überarbeiteten Version.)

Eingangs wird die innenpolitische Situation im Vorfeld der Konflikte Mitte der 1920er Jahre geschildert. Rogowin befasst sich mit der Bildung eines Einparteiensystems, der Haltung der Bolschewiki zu Privilegien für die Machthaber und dem 1921 unter der Führung Lenins verhängten Fraktionsverbot. Der Autor verfolgt ein zweifaches Ziel: Erstens geht es ihm darum, ein lebendiges Porträt des politischen Lebens der Bolschewistischen Partei vor Stalins Machtübernahme zu zeichnen, sodass der Leser die Kluft zwischen dem, was war, und dem, was werden sollte, nachvollziehen kann. Zweitens soll aufgezeigt werden, wie Lenin sich in der letzten Phase seines Lebens darauf vorbereitete, Stalin und die von ihm vertretenen Tendenzen offen zu bekämpfen.

Lenin und Trotzki (Mitte) bei Feierlichkeiten zum zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution

Die Prozesse der Bürokratisierung und der sozioökonomischen Differenzierung hatten 1922 bereits eingesetzt. Rogowin stellt fest, dass in jenem Jahr fast die Hälfte der 10.700 vom Zentralkomitee berufenen hohen Beamten ein Ernennungsverfahren durchlief, das vom Büro des Generalsekretärs, das Stalin innehatte, effektiv überwacht wurde. Im August 1922 billigte ein Parteitag einen Vorschlag Stalins und seiner Anhänger, eine Gehaltshierarchie für Parteifunktionäre einzuführen. Außerdem wurden ihnen spezielle Unterkünfte und medizinische Leistungen sowie besondere Betreuungs- und Bildungsangebote für ihre Kinder gewährt. Mit historischen Details dieser Art beleuchtet der Autor auf sehr konkrete Weise den Wandel, der sich innerhalb der Bolschewistischen Partei vollzog, und die von oben nach unten verlaufenden anti-egalitären Prozesse, gegen die sich die Oppositionellen zur Wehr setzten.

Anfang 1923 war der Konflikt innerhalb der Kommunistischen Partei in vollem Gange. Zum Ende des Vorjahres hatte Lenin begonnen, eine Reihe von Briefen zu diktieren, die als sein „Testament“ bekannt werden sollten. Darin protestierte er gegen die nationalistischen und bürokratischen Tendenzen in der Kommunistischen Partei. Er schlug Reformen der Partei- und Staatsstrukturen vor, um diesen Tendenzen entgegenzutreten. In einer Reihe von Beobachtungen über die Stärken und Schwächen einer Reihe führender Bolschewiki – Leo Trotzki, Grigorij Sinowjew, Lew Kamenew und andere – kritisierte er insbesondere Stalin, forderte seine Absetzung vom Amt des Generalsekretärs der Partei und unterzog die ihm unterstellten Arbeitsbereiche einer gesonderten Kritik.

Rogowin kommt immer wieder auf die Geschichte und das Schicksal des „Testaments“ zurück und zeigt auf, wie sich Stalin von Lenin verfolgt fühlte und versuchte, seine letzten Worte zu unterdrücken und ihre Auswirkungen einzudämmen. Rogowin argumentiert überzeugend, dass Stalin sich des „psychologischen Mordes“ an Lenin schuldig machte. Denn Lenin erlitt seinen letzten Schlaganfall kurz nachdem er eine Reihe von Parteitagsbeschlüssen gelesen hatte, in denen Trotzki und die Opposition wegen „kleinbürgerlicher Abweichung“ verurteilt wurden.

Mitglieder der Linken Opposition im Jahr 1927 (vorne von links nach rechts) Leonid Serebrjakow, Karl Radek, Leo Trotzki, Michail Boguslawski, Jewgeni Preobraschenski; (hinten) Christian Rakowski, Jakob Drobnis, Alexander Beloborodow und Lew Sosnowski

Der Autor geht auch der Möglichkeit nach, dass Stalin sich der Vergiftung Lenins schuldig gemacht hatte – eine Schlussfolgerung, zu der auch Trotzki gelangen sollte. Nachdem sich der Gesundheitszustand des bolschewistischen Führers viele Monate lang verbessert hatte, verschlechterte er sich Mitte Januar 1924 auf unerklärliche Weise rapide, und zwar zu einem Zeitpunkt, als, wie Rogowin feststellt, „die Hauptgefahr für Stalin nicht Trotzki … sondern Lenin“ war. Stalin hatte sowohl das Motiv als auch die Mittel dazu. In jedem Fall freute er sich über das Ausscheiden Lenins aus dem Gang der Geschichte. Stalins Sekretär beschreibt den Generalsekretär in seinen Erinnerungen wie folgt: Er war „in bester Laune und strahlte. Auf den Versammlungen und Sitzungen trug er aber eine tragisch bekümmerte, heuchlerische Miene zur Schau, hielt falsche Reden und schwur Lenin pathetisch Treue und Ergebenheit. Bei seinem Anblick dachte ich unwillkürlich: Was für ein Schurke du doch bist!“ (S. 212–213).

Lenins Tod stellte Trotzki vor neue politische Herausforderungen, denn seine Gegner warfen sich in die falsche Pose der Erben Lenins und versuchten, die Differenzen über die Art der bevorstehenden russischen Revolution, die Lenin und Trotzki vor 1917 austrugen, zu ihrem Vorteil zu verdrehen. Trotzki hatte auf der Grundlage seiner Theorie der permanenten Revolution schon sehr früh betont, dass die Aufgabe der russischen Arbeiterklasse nicht nur im Sturz des Zarismus bestand, sondern auch im Umsturz der kapitalistischen Ordnung, die in Russland Wurzeln geschlagen und den Feudalstaat eng mit der Weltwirtschaft verflochten hatte. Die Arbeiter, so Trotzki müssten ein Bündnis mit den Bauernmassen eingehen, in diesem Bündnis jedoch die Führung übernehmen und sich dabei auf ein antifeudales, explizit antikapitalistisches und sozialistisches Programm stützen. Demgegenüber hatte Lenin argumentiert, dass die russische Arbeiterklasse und Bauernschaft sich mit dem Ziel einer „demokratischen Diktatur“ gegen die Bourgeoisie und für den Sturz des Zarismus vereinen müssten. Die Arbeiterklasse müsse entschieden für ihre eigenen Interessen kämpfen, doch eine solche Diktatur könne vorerst „die Grundlagen des Kapitalismus nicht angreifen (ohne eine ganze Serie von Zwischenetappen der revolutionären Entwicklung)“. Im April 1917 gab Lenin diese Position zugunsten von Trotzkis Konzeption auf und führte einen politischen Kampf gegen diejenigen in seiner eigenen Partei – darunter Stalin, Kamenew und Sinowjew –, die im Wesentlichen an Illusionen in die bürgerliche Herrschaft festhielten. Diese politische Vorgeschichte lag den Konflikten der 1920er Jahre zugrunde.

Rogowin vertritt die Ansicht, dass Trotzki zum Zeitpunkt des Todes von Lenin im Januar 1924 einen entscheidenden Fehler begangen hatte, weil er Anfang 1923 seine Kritik an der Parteipolitik nicht über das Politbüro hinaus geäußert und bekannt gemacht hatte. In einem Kapitel mit dem Titel „Trotzkis Fehler“ argumentiert Rogowin, es habe diesem Anführer der Revolution von 1917 an Entschlossenheit gemangelt. Hier unterschätzt der Autor die Komplexität der Lage. Die politischen Führer mussten sich in einer innerparteilichen Situation und historischen Konstellation orientieren, in der sich widersprüchliche Tendenzen herausgebildet hatten, deren künftige Entwicklung noch äußerst unklar war.

Zu Beginn des Jahres 1923 hatte der „georgische Zwischenfall“, den Rogowin in seinem Buch behandelt, scharfe Gegensätze innerhalb der Partei über die sowjetische Nationalitätenpolitik und den großrussischen Chauvinismus offenbart. Es gab Meinungsverschiedenheiten über die Gefahren, die mit der Neuen Ökonomischen Politik verbunden waren – eine Politik, die Lenin als notwendiges politisches Zugeständnis befürwortet hatte. Das 1921 verhängte Verbot, innerhalb der Partei offizielle Fraktionen zu bilden, fügte der Situation eine weitere komplexe Dimension hinzu. Aber zugleich bestand die Aussicht, dass eine Revolution in Deutschland die Weltlage grundlegend verändern, die UdSSR aus ihrer Isolation herausholen und den sowjetischen Arbeitern neue revolutionäre Energie verleihen würde. Es war auch durchaus möglich, dass Lenin sich erholte, ins politische Leben zurückkehrte und die „Bombe“ gegen Stalin zündete, die er laut seinen privat diktierten Niederschriften für den 12. Parteitag vorbereitete. Die Situation stand auf Messers Schneide.

Die Abwesenheit Lenins wurde 1923–1924 von Stalin und seinen Verbündeten Sinowjew und Kamenew – zwei alten Bolschewiki, mit denen der Generalsekretär ein illegales „Triumvirat“ gebildet hatte – genutzt, um ihre Macht zu festigen. Diese Gruppe, die später in eine „Siebenergruppe“ umgewandelt wurde, arbeitete auf Geheimtreffen eine eigene Agenda aus und bediente sich aller möglichen Tricks. Doch trotz all ihrer Manöver, ihrer Demagogie, ihren Manipulationen bei Parteiabstimmungen und des erfundenen Vorwurfs des „Trotzkismus“ konnten sie die Lage nicht entscheidend zu ihren Gunsten wenden. Aus Rogowins Bericht geht klar hervor, dass die Machenschaften und Verschwörungen der Stalin-Fraktion ein Symptom für ihre grundlegende Instabilität waren. Sinowjew beispielsweise bestand darauf, dass er und seine Mitverschwörer hinter verschlossenen Türen – insbesondere ohne Trotzki – zusammentreffen mussten, damit sie sich untereinander abstimmen konnten. Sie konnten Trotzkis Kritik nicht direkt entgegentreten.

Rogowin geht in seinem Buch ausführlich auf diese Kritik und die anderer linker Oppositioneller ein. Vor allem in Bezug auf die Innenpolitik und die Frage der innerparteilichen Demokratie ist sein Resümee sehr treffend. Besonders aufschlussreich ist die Verwendung von Primärquellen, aus denen die heftigen Einwände der Oppositionellen im Wortlaut hervorgehen. Rogowin dokumentiert sowohl den Inhalt als auch die Form des sich entfaltenden politischen Konflikts und zeigt auf, in welchem Zusammenhang die Kritik Trotzkis und der Linken Opposition mit dem Hauptproblem der UdSSR stand: Wie konnte ein rückständiges und bis dahin politisch isoliertes Land, das durch eine sozialistische Revolution in die Zukunft katapultiert wurde, aber nur über eine kleine, durch den Krieg dezimierte industrielle Basis und eine riesige, primitive bäuerliche Wirtschaft verfügte, Ressourcen mobilisieren, sich entwickeln und sich gegen die umliegenden kapitalistischen Staaten behaupten? Rogowin gelingt eine Darstellung, die der Komplexität der Lage gerecht wird und dennoch verständlich bleibt.

Die Stalin-Fraktion, die keine wirkliche Antwort auf die Kritik Trotzkis und der Linken Opposition hatte und von Krisen heimgesucht wurde, die sie durch ihre eigene Politik selbst verursacht hatte, reagierte mit dem Versuch, Trotzkis Autorität politisch und organisatorisch zu untergraben. Die Arbeit von Rogowin ist äußerst wertvoll, um die Methoden dieses politischen Betrugs zu beleuchten.

Die Kabale übernahm die Kontrolle über das Archiv Lenins. Sie entfernte Personen, die Trotzki nahe standen, aus führenden Positionen in der Roten Armee. Mit der Begründung, diejenigen Parteimitglieder zu überprüfen, die keine „Arbeiter an der Werkbank“ waren, wurden 5.763 Parteimitglieder ausgeschlossen. Von dieser Säuberung waren „hauptsächlich jene Organisationen hart betroffen“, die „oppositionelle Resolutionen verabschiedet hatten“. So wurde sichergestellt, dass auf dem 13. Parteitag im Mai 1924 keine Oppositionellen über entscheidende Stimmen verfügten. Dies betraf sogar führende Mitarbeiter Lenins: „Selbst Trotzki, Radek Rakowski und Pjatakow als ZK-Mitglieder waren nur mit beratender Stimme zugelassen.“ (S. 223) Die Stalin-Fraktion belog die sowjetischen Massen, indem sie falsche Stimmenauszählungen druckte, um den Anschein zu erwecken, dass die Opposition in der Partei kaum Unterstützung finde.

Bei der Erörterung des zentralen politischen Problems, mit dem die Stalin-Fraktion konfrontiert war, zitiert Rogowin den französischen KP-Führer Boris Souvarine, der 1924 ganz unverblümt feststellte: dass die „überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse trotzkistisch ist“. Trotz aller Angriffe, so Souvarine weiter, sei „die Popularität Trotzkis gewachsen, seine langen Reden vor unterschiedlichen Zuhörern haben alle in Begeisterung versetzt. Oft wurde gesagt, dass nur er neue Gedanken äußere, dass nur er etwas gelernt habe usw. Ein solches Verhältnis zu ihm hob sich stark ab von der Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Verachtung, die man der Banalität und Trivialität entgegenbrachte, mit denen die Seiten der ‚Prawda‘ angefüllt waren.“ (S. 233)

Das Zitat von Souvarine ist nur eines von vielen, die dem Leser Aufschluss darüber geben, wie die breiten Massen gegenüber Trotzki eingestellt waren und welche Unterstützung er in der Partei und der Komintern für seine Positionen erhielt. Die Auswirkungen der Lehren des Oktober – Trotzkis scharfer Kritik am Versagen der sowjetischen Kommunistischen Partei, ihre deutschen Genossen richtig zu orientieren, als sie 1923 unmittelbar mit einer revolutionären Situation konfrontiert waren – beschrieb ein Kommunist 1924 mit den Worten: „Die ‚Lehren des Oktober‘ werden verschlungen – die Arbeiter glauben nicht, dass sich Trotzki gegen den Leninismus habe wenden können.“ (S. 257)

Bis Mitte 1926, so Rogowin, waren mehr als die Hälfte der Bolschewiki, die 1918, 1919 und 1920 in das Zentralkomitee der Partei gewählt worden waren, der Opposition beigetreten. Sinowjew und Kamenew, Stalins Handlanger und führende Architekten des Angriffs auf die Opposition, waren schließlich so entsetzt über das, was sie angerichtet hatten, dass sie ein Bündnis mit Trotzki eingingen. Die Schilderung ihrer verbrecherischen und tragischen Rolle lässt den Leser Schlimmes ahnen, und tatsächlich: Sowohl Sinowjew als auch Kamenew wurden später während des Großen Terrors vor Gericht gestellt und hingerichtet. 1927, nachdem beide mit der Opposition gebrochen hatten und zur herrschenden Fraktion zurückgekehrt waren, fragte Sinowjew Stalin unter Hinweis auf seine frühere Loyalität: „Weiß Genosse Stalin, was Dankbarkeit ist?“ Und Stalin antwortete: „Na, gewiss weiß ich das, das ist so eine Hundekrankheit.“ (S. 230)

Rogowin konstatiert, dass die nationalistische und rechtsgerichtete Wirtschaftspolitik unter Stalins Führung im Laufe der Jahre 1926–1927 zu einer Katastrophe führte. Die britische Arbeiterklasse wurde von Stalin verraten, indem er die Zusammenarbeit mit den britischen Gewerkschaften über jeden unabhängigen Kampf der Massen um die politische Macht stellte. In China wurde die Kommunistische Partei von der Guomindang (GMD) niedergemetzelt, nachdem sie von Moskau angewiesen worden war, ein Bündnis mit der GMD zu schmieden.

Weder die Landwirtschaft noch die Industrie hatten ihr Vorkriegsniveau wieder erreicht, und das Pro-Kopf-Einkommen des Landes betrug nur noch 80 bis 85 Prozent desjenigen von 1913. Die reichsten 4 Prozent der Bauern kontrollierten ein Drittel aller landwirtschaftlichen Maschinen. Die Löhne des Proletariats stagnierten und Millionen waren arbeitslos. Schließlich kam es zu einer ausgewachsenen Getreidekrise, da der Staat nicht in der Lage war, genügend Lebensmittel für die Versorgung der Städte zu kaufen. In diesem Zusammenhang traf das Programm der Opposition auf offene Ohren. In Moskau und Leningrad fanden nun Treffen statt, die nicht mehr sanktioniert wurden. Tausende nahmen daran teil.

Gerade weil Stalin und seine Unterstützer keine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme der UdSSR und keine Antworten auf ihre Kritiker hatten, mussten sie die Opposition in die Illegalität treiben. Im Laufe der Jahre 1926 und 1927 wurde die Parteimitgliedschaft mit neuen und unerfahrenen Mitgliedern überschwemmt. Versammlungen, auf denen die Parteipolitik im Prinzip auf breiterer Basis in der Mitgliedschaft hätte diskutiert werden sollen, wurden immer seltener abgehalten. Immer häufiger wurde der Vorwurf des „Trotzkismus“ erhoben. Die Erklärungen der Oppositionellen wurden vor der Verteilung so bearbeitet, dass ihre Positionen nicht in vollem Umfang erkennbar waren. Die Wahlen für die Parteigremien fanden statt, bevor die Positionen der Opposition ausgeteilt worden waren.

Trotzki und Kamenew wurden aus dem Politbüro und Sinowjew als Vorsitzender der Komintern abgesetzt, und alle drei sollten in Kürze aus der Partei ausgeschlossen werden. Auf Parteiversammlungen wurden ihren Anhängern „desorganisatorisches Verhalten“ (S. 374) und „Fraktionalismus“ vorgeworfen. Dabei wurde Antisemitismus geschürt – Trotzki, Sinowjew und Kamenew entstammten jüdischen Familien. Auf dem 15. Parteitag im Dezember 1927 wurden die Reden der Oppositionellen durch plumpe und dumme Zwischenrufe aus dem Publikum übertönt. Wir werden Zeuge, wie die politische Kultur der Bolschewistischen Partei zerstört wird.

Rogowins Bericht ist mitreißend. Der parteiische Leser wird sich wünschen, in diese Geschichte einzusteigen und sich auf die Seite der Trotzkisten zu stellen. Rogowin selbst empfand offenbar ähnlich. Man gewinnt den Eindruck, dass er Trotzki deshalb an der einen oder anderen Stelle vorwirft, er sei nicht früh oder scharf genug gegen seine Gegner vorgegangen, weil er versteht, dass das Schicksal der Revolution vom Ausgang dieser Schlacht abhing. Nichts war vorherbestimmt.

Die Umstände der intellektuellen Isolation Rogowins setzten seinen Forschungen gewisse Grenzen. Gerade, als er diese in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale zu überwinden suchte, setzte eine Krebserkrankung seinem Leben ein tragisches Ende. So enthält der Band zwar wertvolles Material über die Auswirkungen des Stalinismus auf einige Sektionen der Komintern, wie z. B. die Kommunistische Partei Polens, handelt aber vorwiegend von der Situation innerhalb der Sowjetunion selbst.

Rogowins Wissen über die Folgen, die der „Sozialismus in einem Land“ weltweit nach sich zog, und seine Erkenntnisse über den Kampf der Linken Opposition außerhalb der Grenzen der UdSSR waren noch im Entstehen begriffen. Sein Zugang zu Primär- und Sekundärquellen zu diesem Thema war beschränkt. Die Erörterung internationaler Fragen in diesem Band ist kurz und, insbesondere im Hinblick auf den politischen Konflikt über die Ereignisse in Deutschland 1923, etwas verwirrend. Wenn der Autor sich mit Stalins „Sozialismus in einem Land“ und den Aussichten auf die Weltrevolution befasst, ist seine Charakterisierung der Weltlage, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, einseitig. Er überschätzt die unter amerikanischer Hegemonie erreichte Stabilität und das Ausmaß der Zugeständnisse und Reformen der Kapitalistenklasse. Er behauptet fälschlicherweise, dass Trotzki „der Meinung war, dass für die Vereinigten Staaten von Amerika die Perspektive einer sozialistischen Revolution in absehbarer Zeit nicht real sei“. (S. 329)

Trotz dieser Einschränkungen ist Rogowins siebenbändiger Zyklus einzigartig in der Geschichtsschreibung über den Aufstieg Stalins und des Stalinismus. Aus diesem Grund wurde sie von Akademikern fast völlig ignoriert. Seine Forschungen stehen im Gegensatz zu denen einer langen Liste von Wissenschaftlern, die von dem einen oder anderen Standpunkt aus argumentiert haben, dass 1) der Trotzki-Stalin-Konflikt kaum mehr als ein Sturm im Wasserglas gewesen sei, 2) der Stalinismus eine Manifestation tief verwurzelter Gefühle innerhalb der sowjetischen Massen gewesen sei oder 3) die wirkliche Alternative zu Stalin nicht Trotzki und die Linke Opposition gewesen sei, sondern der rechte Flügel der Partei, der sich um Nikolai Bucharin gruppierte. Bisweilen werden diese drei Einschätzungen auch kombiniert.

In all dem mischen sich die Heiligsprechung Stalins mit Hass auf Trotzki. Ungeachtet ihrer Unterschiede haben die Arbeiten von Sheila Fitzpatrick, J. Arch Getty, Stephen F. Cohen, Stephen Kotkin, Robert Service, Ian Thatcher und anderen ein gemeinsames Merkmal: die Weigerung, Trotzki und die Linke Opposition als sozialistische Alternative zum Stalinismus anzuerkennen, als Verkörperung der revolutionären Bestrebungen der Arbeiterklasse und als politische Kraft, deren Sieg eine objektive Möglichkeit war.

Rogowin macht aus seinen politischen Sympathien keinen Hehl. Er ist offen gegenüber seinen Lesern. Seine Arbeit erreicht historische Objektivität nicht dadurch, dass er im Hinblick auf die von ihm untersuchten Ereignisse Gleichgültigkeit vortäuscht, sondern dadurch, dass er die sozialen Kräfte und Klasseninteressen aufdeckt, die den politischen Konflikten innerhalb der Kommunistischen Partei in den 1920er Jahren zugrunde lagen. Hinter der Brutalität des Stalinismus stand die Intensität und Heftigkeit der nationalistischen bürokratischen Reaktion gegen die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Bestrebungen, gegen ihren Kampf für Gleichheit. Trotzki und die Linke Opposition vertraten dagegen die Arbeiterklasse und ihre Gefühle. Bei allen Opfern, die der bürokratische Apparat verschlang, waren stets sie das Hauptobjekt der stalinistischen Repressionen. Rogowin ist der einzige Historiker, der dies verstanden hat.

Die vorherrschenden Tendenzen der russischen und sowjetischen Geschichtsschreibung der letzten 40 Jahre sind in einer Epoche der politischen Reaktion entstanden. Rogowin schrieb dieses Werk, als die Kommunistische Partei dabei war, die UdSSR aufzulösen und alles zu stehlen, was nicht niet- und nagelfest war. Groteske Jubelgesänge über die Tugend der Ungleichheit als neue Form der „sozialen Gerechtigkeit“ füllten die Presse. Viele dieser Traktate stammten aus der Feder sowjetischer Intellektueller, die darauf hofften, dass sie nun selbst ein größeres Stück vom Kuchen abbekommen würden. Mit seiner Konzentration auf Ungleichheit und Bürokratie in den Konflikten der 1920er Jahre bietet Rogowin nicht nur einen Einblick in die sowjetische Vergangenheit, sondern auch in die jüngere sowjetische Gegenwart.

In seiner Einleitung argumentiert der Autor, dass die „falsche Interpretation wahrer Tatsachen“ – bestehend aus der „tendenziösen Überbetonung und Interpretation bestimmter Fakten und dem Verschweigen anderer“ – „weniger aus einem ehrlichen Irrtum herrührte als vielmehr eine bewusste oder unbewusste Bedienung politischer Forderungen darstellte“. Geschichtsfälschungen hätten „als ideologisches Instrument gedient, um das Volk zwecks Durchsetzung einer reaktionären Politik zu täuschen“. (S. 8) Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion durch die Stalinisten mit all ihren sozialen Verwüstungen erforderte neue Lügen und Verdrehungen über die sozialistische Opposition, d. h. über den Unterschied zwischen den Vorkämpfern der Revolution und ihren Henkern.

Heute, da die soziale Ungleichheit ungeheuerliche Ausmaße annimmt, tauchen neue Fälschungen auf. In den Vereinigten Staaten wird die amerikanische Geschichte einer rassistischen Neuinterpretation unterzogen, die den Klassengegensatz als grundlegende Trennlinie in der Gesellschaft leugnet und bestreitet, dass die amerikanische Revolution und der amerikanische Bürgerkrieg etwas Fortschrittliches an sich hatten. In Deutschland werden die Verbrechen Hitlers und der Nazis beschönigt und zugleich Rechtsextreme und ihre Politik begünstigt. Auf den Philippinen werden die Verbrechen des Stalinismus beschönigt, um eine politische Elite zu fördern, die dem amerikanischen Imperialismus verpflichtet ist. Und es gibt viele weitere Beispiele.

Die politische Reaktion verträgt sich nicht mit der Wahrheit. Die Verbreitung von Lügen über die Geschichte ist niemals ein unschuldiger Fehler. Rogowins Buch ist nicht nur eine eindrucksvolle Darstellung der Geschichte des Kampfs für den Sozialismus, sondern auch eine Warnung an die Arbeiterklasse vor den politischen Absichten derjenigen, die mit historischen Lügen hausieren gehen, und vor den Folgen solchen Lügen.

Das Buch kann hier beim Mehring Verlag bestellt werden. (Wadim S. Rogowin, Trotzkismus. Band I der Reihe „Gab es eine Alternative?“ ISBN: 978-3-88634-080-4)

Die englischsprachige Ausgabe gibt es hier.

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