Vor vier Wochen verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz die Verdreifachung des Militärhaushalts und damit die größte deutsche Aufrüstungsoffensive seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seitdem dem geht es Schlag auf Schlag. Auf den Beschluss, Dutzende nuklearwaffenfähige F-35 Tarnkappenbomber zu beschaffen, folgt nun der Plan für die Errichtung eines nationalen Raketenabwehrsystems.
Gestern reiste eine Delegation des Verteidigungsausschusses des deutschen Bundestags nach Israel, um den Kauf des US-israelischen „Arrow 3“-Systems zu sondieren. Das System ist in Israel seit 2017 in Betrieb und darauf ausgerichtet, feindliche Langstreckenraketen schon in der oberen Atmosphäre oder sogar im Weltraum zu zerstören. Schätzungen zufolge beträgt die Reichweite der rund sieben Meter langen „Arrow 3“-Raketen etwa 2400 Kilometer.
Offenbar sind die Pläne für die Installation des milliardenschweren Systems bereits weit fortgeschritten. Die Flugkörper-Radarsysteme würden „an drei Standorten in Deutschland aufgestellt“ und „ihre Überwachungsdaten zum Nationalen Gefechtsstand in Uedem (Niederrhein) gemeldet“, berichtete Bild am Sonntag am 27. März. Die Radargeräte seien dabei „so leistungsstark, dass der Schutzschirm auch Polen, Rumänien oder das Baltikum abdecken könnte“.
Die Beschaffung des Systems ist Bestandteil der Nato-Kriegsoffensive gegen Russland und des Anspruchs des deutschen Imperialismus, Europa unter seiner Führung zu organisieren. Bild am Sonntag zitiert den Hauptberichterstatter im Haushaltsausschuss für den Verteidigungsetat, Andreas Schwarz (SPD), mit den Worten: „Wir müssen uns besser vor der Bedrohung aus Russland schützen. Dafür brauchen wir schnell einen deutschlandweiten Raketenschutzschirm. Das israelische System Arrow 3 ist eine gute Lösung. Wir können den Iron Dome auch über unsere Nachbarländer spannen. Damit würden wir eine Schlüsselrolle für Europas Sicherheit übernehmen.“
Am Sonntagabend bestätigte dann auch Scholz die Pläne. Er habe sich „vorgenommen, jetzt noch nicht die Einzelheiten eines noch nicht abgeschlossenen Plans auszuplaudern“, aber das Raketenabwehrsystem gehöre „ganz sicher zu den Dingen, die wir beraten“, erklärte er in der ARD-Sendung Anne Will. Es sei „dringend notwendig, dass wir die Bundeswehr mit mehr Mitteln ausstatten, mit mehr Panzern, mehr Möglichkeiten der Luftraumverteidigung und sie auf viele andere Weise befähigen, dass sie die Aufgabe wahrnehmen kann, die sie wahrnehmen muss“.
Wie bereits in seiner Kriegsrede im Bundestag am 27. Februar rechtfertigte der Kanzler die geplante Aufrüstung mit der angeblichen Bedrohung durch Russland. „Wir müssen uns alle darauf vorbereiten, dass wir gegenwärtig einen Nachbarn haben, der bereit ist, Gewalt anzuwenden, um seine Interessen durchzusetzen“, betonte er. „Und deshalb müssen wir uns gemeinsam so stark machen, dass das unterbleibt.“
Das ist die bekannte Propaganda. Tatsächlich wenden die imperialistischen Mächte ständig „Gewalt“ an, um ihre wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen durchzusetzen. Allein die völkerrechtswidrigen Angriffskriege und Regimewechsel-Operationen in Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien in den letzten 30 Jahren haben ganze Länder zerstört und Millionen von Menschenleben gekostet.
Auch die von Scholz verkündete außenpolitische „Zeitenwende“ wurde lange vorbereitet. Mit der systematischen militärischen Umzingelung Russlands durch die Nato haben die imperialistischen Mächte – allen voran Deutschland und die USA – Putins reaktionären Angriff auf die Ukraine regelrecht provoziert. Nun nutzt die herrschende Klasse die Situation, um sich wieder zur dominierenden Macht Europas aufzuschwingen und den Kontinent unter deutscher Führung zu organisieren.
Deutschland sei „das Land mit den größten Militärausgaben in der Europäischen Union, und wenn wir jetzt die zwei Prozent erfüllen, werden wir im europäischen Nato-Verbund das Land mit den höchsten Militärausgaben sein und mit der stärksten Verteidigungsinfrastruktur“, prahlte Scholz bei Anne Will. Die Bundeswehr werde „eine zentrale Rolle für die Bündnis- und Landesverteidigung spielen, gerade mit unseren Möglichkeiten auf dem Boden“. Neben den USA werde nur Deutschland „die Kraft haben, die notwendig ist, für das ganze Bündnis. Und die werden wir eben auch entsprechend organisieren müssen.“
Immer wieder drohte Scholz Russland. Deutschland werde sich so „stark machen, dass niemand es wagen kann, uns anzugreifen. Und das ist die Botschaft, die wir auch dem russischen Präsidenten senden: Wage es nicht!“ Er habe immer wieder betont, was der US-amerikanische Präsident Joe Biden „jetzt auch in Polen gesagt hat: die Beistandsverpflichtung der Nato gilt für uns“. Man „werde jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen. Ein Angriff auf die baltischen Staaten, auf Polen, auf die Slowakei oder andere Länder wäre wie ein Angriff auf uns selbst.“
Weder Anne Will noch Scholz erklärten dem Fernseh-Publikum, was diese Aussagen bedeuten. Die sogenannte „Beistandsverpflichtung“, die im Artikel 5 des Nato-Vertrags geregelt ist, besagt „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere“ Parteien „als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird“ und „dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen … der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, … einschließlich der Anwendung von Waffengewalt“.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Mit anderen Worten: Falls sich der Ukraine-Krieg, der von den imperialistischen Mächten durch Waffenlieferungen und die massive Aufstockung der Nato-Truppen in Osteuropa systematisch angeheizt wird, auf ein osteuropäisches Nato-Land übergreift, verpflichten sich Scholz und die Bundesregierung, gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Die Folge wäre ein vernichtender dritter Weltkrieg.
Anders als beim deutschen Überfall auf die die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, der zwischen 30 und 40 Millionen Menschenleben kostete, verfügt Russland heute über Nuklearwaffen. Diese könnten bei einer „Bedrohung der Existenz Russlands“ eingesetzt werden, warnten Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und der frühere russische Präsident und Premier Dmitri Medwedew, aktuell stellvertretender Leiter des russischen Sicherheitsrates, vor wenigen Tagen. Einflussreiche Kreise der Nato-Mächte betrachten den Einsatz von Atomwaffen ganz offen als legitime Option.
Die World Socialist Web Site hat in einem Artikel zwei Fragen an US-Präsident Biden gestellt, die auch Kanzler Scholz beantworten sollte: 1) Wann haben Sie in Ihrem Wahlkampf erklärt, dass Sie einen Atomkrieg mit Russland riskieren würden? 2) Wie viele hundert Millionen oder Milliarden von Menschen werden Ihrer Meinung nach in den Vereinigten Staaten, in Europa und weltweit bei einem nuklearen Schlagabtausch mit Russland sterben?
Geht es nach der herrschenden Klasse, muss die Arbeiterklasse die Kosten in jeder Hinsicht tragen. Als Kanonenfutter auf dem Schlachtfeld und in Form massiver Sozialangriffe. Auf Anne Wills Frage, ob er versprechen könne, „dass die Schuldenbremse 2023 wieder eingeführt wird“, antwortete Scholz lapidar: „Die steht im Grundgesetz.“ Das ist so knapp wie eindeutig. Jeder Cent, der in die militärische Aufrüstung fließt, wird wieder aus der Bevölkerung herausgepresst – selbst wenn es die Verarmung der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung bedeutet.
Die Reden der führenden deutschen Politiker erinnern zunehmend an die Kriegsreden während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. „Ja, es kommen auch auf uns in Deutschland härtere Tage zu,“ erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Sonntag. „Und die ganze Wahrheit ist: Viele Härten liegen erst noch vor uns… Unsere Solidarität und unsere Unterstützung, unsere Standhaftigkeit, auch unsere Bereitschaft zu Einschränkungen werden noch auf lange Zeit gefordert sein.“
Die Arbeiterklasse muss die größenwahnsinnige Aufrüstungs- und Kriegspläne der herrschenden Klasse genauso zurückweisen, wie ihre Forderung, für den deutschen Imperialismus „Härten“ und „Einschränkungen“ zu erdulden. Kein Cent für den deutschen Militarismus! Nie wieder Krieg! Es gibt nur eine Möglichkeit, einen Rückfall in Weltkrieg und Barbarei zu verhindern: den Aufbau einer Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse, die die Ursache von Krieg – den Kapitalismus – abschafft und für eine globale sozialistische Gesellschaft kämpft.