Perspektive

2023: Die globale kapitalistische Krise und die wachsende Offensive der internationalen Arbeiterklasse

1. Die Neujahrsfeiern fallen diesmal kurz aus. Das alte Jahr ist Geschichte, aber seine Krisen bestehen fort und werden sich verschärfen. Zu Beginn des Jahres 2023 geht die Covid-19-Pandemie in ihr viertes Jahr und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Krieg der USA und der Nato gegen Russland eskaliert weiter. Die kapitalistische Weltwirtschaft wird von einer ruinösen Inflation und einer Rezession zugleich gebeutelt. Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – allen voran in den Vereinigten Staaten – befinden sich im Zusammenbruch. Das amerikanische politische System versucht mit wenig Erfolg, die Nachwirkungen des Umsturzversuchs vom 6. Januar 2021 zu bewältigen. Weltweit sind rechtsextreme und neofaschistische Bewegungen auf dem Vormarsch. Während der Lebensstandard der arbeitenden Massen weltweit sinkt, verschärft sich der Klassenkampf und durchbricht die Kontrolle der offiziellen Gewerkschaften.

2. Im Jahr 2022 erreichte der angestaute Druck der verschiedenen Faktoren der kapitalistischen Weltkrise gewissermaßen eine kritische Masse und verleiht der Krise nun eine Dynamik, die es den Regierungen unmöglich macht, die Entstehung eines sozialen Kataklysmus zu verhindern. Die herrschenden Klassen sind nicht in der Lage, die Krise einzudämmen; sie gebärden sich – wirtschaftlich, politisch und sozial – immer skrupelloser und regelrecht irrational. Mit ihrer Befürwortung der „Herdenimmunität“ als legitime Antwort auf die Pandemie und ihrer Bereitschaft, in der Konfrontation mit Russland einen Atomkrieg zu riskieren, legen die imperialistischen Mächte eine mörderische Verachtung für das Leben der großen Masse der Weltbevölkerung an den Tag. Nur die Intervention der Arbeiterklasse, bewaffnet mit einem internationalen sozialistischen Programm, kann der Menschheit einen Ausweg aus der vom Kapitalismus geschaffenen Katastrophe bieten.

Die Coronapandemie

3. Die Entstehung der Omikron-Variante im November 2021 wurde von den kapitalistischen Regierungen, allen voran der US-Regierung unter Biden, als Vorwand genutzt, alle Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Coronavirus aufzugeben. Die „Theorie“ der Regierung – für die es keine glaubwürdige wissenschaftliche Grundlage gab – besagte, dass Omikron einer „Lebendvirus-Impfung“ gleichkomme, die für ein gewisses Immunitätsniveau sorgen werde, sodass sich das Coronavirus nicht weiter verbreiten könne.

US-Präsident Joe Biden spielt in einer Rede die Gefahren von Omikron herunter, nachdem die WHO die Variante drei Tage zuvor für bedenklich erklärt hatte [AP Photo/Evan Vucci]

4. Die herrschende Klasse verlangte, die Bevölkerung solle „lernen, mit dem Virus zu leben“, und verbreitete das falsche Versprechen, dass es „endemisch“ und nicht gefährlicher als die saisonale Grippe werden würde. Die Medien warben dafür, die Maskenpflicht, Tests, die Nachverfolgung von Kontakten, die Isolationspflicht für Infizierte und die Meldung von Infektionen und Todesfällen einzustellen. Biden verkündete, dass „die Pandemie vorüber“ sei und das Leben zur Normalität zurückkehren könne. Damit setzte er die Bevölkerung den anhaltenden Gefahren aus, die von dem Coronavirus ausgehen.

5. Dieses Narrativ beruhte auf Lügen und Propaganda. Die wissenschaftliche Tatsache, dass Reinfektionen, die inzwischen häufig vorkommen, das Hospitalisierungs- und Todesrisiko erhöhen, wurde ignoriert. Long Covid und seine anhaltenden Folgen für einen beträchtlichen Prozentsatz der Infizierten wurden von den kapitalistischen Massenmedien kaum thematisiert. Sie logen über die von Virologen festgestellte Gefahr, dass die kontinuierliche und rasche Entstehung neuer Varianten die Wirksamkeit von Impfstoffen und die bei früheren Infektionen erworbene Immunität untergräbt. Das Jahr endete mit der Enthüllung, dass die für die Pandemiebekämpfung zuständigen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten die Verbreitung einer gefährlichen neuen Omikron-Subvariante vertuscht haben. Die Variante XBB.1.5 hat sich in den USA rasch durchgesetzt, nachdem sie zunächst im gesamten Nordosten des Landes eine Welle von Infektionen und Krankenhausaufenthalten verursacht hatte.

6. „Mit dem Virus zu leben“ bedeutet, unter Bedingungen unaufhörlicher Wellen von Infektionen und Reinfektionen ein hohes Maß an Tod und Invalidität in Kauf zu nehmen. Die weltweite Lebenserwartung ist zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gesunken. Mehr als 10 Millionen Kinder weltweit haben einen Elternteil oder eine primäre Bezugsperson durch Covid-19 verloren. Hunderte Millionen Menschen leiden an Long Covid, das nahezu jedes Organ im Körper betreffen kann.

7. Schätzungen zufolge sind innerhalb von drei Jahren mehr als 21 Millionen Menschen direkt oder indirekt an Covid-19 gestorben, was in etwa der Gesamtzahl der militärischen und zivilen Opfer in den vier Jahren des Ersten Weltkriegs entspricht. Eine aktuelle Übersterblichkeits-Studie der Weltgesundheitsorganisation ergab, dass Covid-19 im Jahr 2020 weltweit die dritthäufigste Todesursache und im Jahr 2021 die weltweit häufigste Todesursache war. Im Jahr 2022 gab es weltweit etwa 5,1 Millionen überzählige Todesfälle, womit sich die „milde“ Omikron-Variante als dritthäufigste Todesursache erwies. Die Regierungen haben zugelassen, dass sich ein neuartiges Virus weltweit verbreitet hat und zu einem der schlimmsten Killer geworden ist.

8. Allein in den USA belief sich die Zahl der Todesfälle, die erwiesenermaßen auf Covid-19 zurückgingen, im Jahr 2022 auf 270.000. Die Übersterblichkeit betrug 350.000. Der Anteil älterer Menschen ist sehr hoch. Drei Viertel der 2022 durch Covid-19 verursachten Todesfälle, d. h. 186.000, betrafen Menschen im Alter von über 65 Jahren, wobei dieser Prozentsatz im Laufe des Jahres anstieg. Die herrschende Klasse hat sich eine moderne Version der Malthus-Theorie zu eigen gemacht und begegnet dem Tod älterer Menschen mit schockierender Gleichgültigkeit. Die Worte des geizigen Scrooge in der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens sind zum Mantra der Finanzoligarchie geworden: „Wenn sie lieber sterben würden, so wäre es gut, wenn sie es täten und die überflüssige Bevölkerung verminderten.“

9. Bis November 2022 verfolgte China eine Null-Covid-Politik, setzte also im Bereich der öffentlichen Gesundheit die Maßnahmen um, die bekanntermaßen notwendig sind, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Dadurch wurde in den ersten drei Jahren der Pandemie die Zahl der Covid-19-Todesfälle in China auf etwas mehr als 5.000 beschränkt, und das bei einer Bevölkerungszahl von 1,4 Milliarden. Dies entspricht 0,1 Prozent der Todesrate in den USA im selben Zeitraum. Im März-Juni 2022 wurde mit der Null-Covid-Strategie ein Ausbruch der Subvariante Omikron BA.2 in Shanghai erfolgreich gestoppt und damit bewiesen, dass auch diese hochinfektiöse Variante wirksam bekämpft werden kann.

Mitarbeiter des Gesundheitswesens in Peking nehmen Rachenabstriche, um während der Omikron-Welle 2022 Coronavirus-Fälle zu ermitteln [AP Photo/Andy Wong]

10. Chinas Maßnahmen, so richtig sie an sich waren, wiesen einen grundlegenden und fatalen Mangel auf: Eine globale Pandemie kann nicht auf der Grundlage einer nationalen Strategie gestoppt werden. Staatsgrenzen können nicht undurchlässig abgedichtet werden. Es war eine Sisyphusarbeit, die Einschleppung des Virus nach China zu verhindern. Darüber hinaus führten die Regierungen und Medien in den großen kapitalistischen Ländern eine aggressive Kampagne, in der sie von China die Abkehr von der Null-Covid-Strategie verlangten. Als Begründung führten sie an, dass die Maßnahmen dem Welthandel und den Lieferketten, d. h. den Profitinteressen der transnationalen Unternehmen schadeten. Apple, Nike und andere große Unternehmen drohten damit, ihre Produktion in andere Länder zu verlagern.

11. Auf diesen wirtschaftlichen und geopolitischen Druck hin gab die regierende Kommunistische Partei Chinas (KPCh) im November ihre Null-Covid-Strategie auf. Innerhalb eines Monats wurden Lockdowns, Massentests, Kontaktverfolgung, Quarantäne- und Isolationsvorschriften sowie Reisebeschränkungen vollständig aufgehoben.

12. Allein in den ersten drei Dezemberwochen infizierten sich in China etwa 248 Millionen Menschen mit dem Coronavirus; das ist das Hundertfache der Infektionen in den ersten drei Jahren der Pandemie. Man geht davon aus, dass sich bis März 2023 die Mehrheit der 1,4 Milliarden Menschen in China angesteckt haben wird. Die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer reichen von 1 bis 2 Millionen. Die Krankenhäuser in den Städten Chinas sind mit Patienten überfüllt, und die Leichenhallen und Krematorien können die Menge der Verstorbenen nicht mehr bewältigen. Man geht davon aus, dass in China jeden Tag Tausende Menschen sterben.

13. Die Abkehr von der Null-Covid-Politik in China und die allgemeine Annahme einer „Covid-Forever“-Politik leiten eine neue und potenziell noch gefährlichere Phase der Pandemie ein. Wissenschaftler warnen, dass Masseninfektionen die Wahrscheinlichkeit neuer Varianten erhöhen. Die herrschenden Klassen weltweit spielen Russisch Roulette mit der Gesellschaft und erhöhen die Gefahr, dass eine infektiösere, immunresistentere und tödlichere Variante eine noch schlimmere globale Infektionswelle auslöst.

14. Es gibt in der modernen Geschichte keinen Präzedenzfall dafür, das Regierungen, die nicht offen faschistisch sind, eine Politik umsetzen, die bekanntermaßen zu Massenerkrankungen und Tod führt. Aber genau so haben sich alle kapitalistischen Staaten im Laufe der Pandemie verhalten.

15. Die Reaktion auf die Pandemie lässt keinen Zweifel daran, dass die kapitalistischen Regierungen auf die noch größere Bedrohung durch den Klimawandel nicht anders reagieren werden. Nicht einmal die Gefahr eines Massensterbens wird die herrschenden Eliten von ihrer destruktiven Jagd nach Profiten und privatem Reichtum abhalten. Im vergangenen Jahr hat sich die Klimakrise erheblich verschärft: furchtbare Überschwemmungen in Pakistan und in weiten Teilen Afrikas, verheerende Dürren in Europa, China und Ostafrika, der Hurrikan Ian und der „Bomben-Zyklon“ im Winter in den Vereinigten Staaten sowie weitere extreme Wetterereignisse auf der ganzen Welt. Wissenschaftler warnen, dass der Klimawandel die weltweite Nahrungsmittelkrise weiter verschärfen, Millionen von Menschen töten, Hunderte Millionen in die Flucht treiben und die Wahrscheinlichkeit künftiger Pandemien erhöhen wird.

Der Krieg von USA und Nato gegen Russland

16. Der Krieg von USA und Nato gegen Russland ist ein Meilenstein auf dem Weg zum dritten Weltkrieg. Die wesentliche Ursache und der Charakter eines Krieges werden nicht davon bestimmt, wer „den ersten Schuss abgefeuert“ hat, sondern von den sozioökonomischen und geopolitischen Interessen der Klassen, die in kriegführenden Ländern an der Macht sind. Die korrupte kapitalistische Oligarchie der Ukraine hat ihr Land dem US-amerikanischen und europäischen Imperialismus für einen Stellvertreterkrieg zur Verfügung gestellt. Der Imperialismus strebt eine Niederlage Russlands an, um 1) das riesige Land zu zerstückeln und sich seine enormen Vorkommen an wichtigen Rohstoffen zu sichern, 2) alle Hindernisse für die imperialistische Beherrschung des eurasischen Subkontinents unter der Ägide der Vereinigten Staaten zu beseitigen und 3) die Einkreisung Chinas und seine Unterordnung unter den amerikanischen Imperialismus durch eine Kombination von wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen zu vollenden.

Ukrainische Soldaten feuern im Dezember 2022 im Donezk-Gebiet eine französische Panzerhaubitze auf russische Stellungen ab [AP Photo/Lib's]

17. Die Propaganda der kapitalistischen Medien, die um die Behauptung kreist, Russland habe am 24. Februar 2022 ohne jeden Grund die Ukraine überfallen, basiert auf Lügen, Halbwahrheiten und der Unterdrückung wichtiger Informationen. Sie trennt den Konflikt von seiner gesamten Vorgeschichte und den Kriegen und Invasionen, die in den letzten 30 Jahren von den USA angeführt wurden.

18. Die Vereinigten Staaten betrachteten die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 als Gelegenheit, gestützt auf ihre militärische Stärke eine unangefochtene weltweite Vormachtstellung zu gewinnen. Die imperialistische Propaganda feierte dies als „unipolaren Moment“, in dem die USA im Interesse der Wall Street eine „neue Weltordnung“ errichten würden. In einem Dokument des Pentagons aus dem Jahr 1992 hieß es, die Strategie der USA müsse darauf beruhen, „das Aufkommen eines potenziellen künftigen globalen Konkurrenten zu verhindern“.

19. Dieselbe Regierung, die heute Russland des „Völkermords“ in der Ukraine beschuldigt, hat in ihrem Weltmachtstreben ganze Länder zerstört und Hunderttausende Menschen getötet. Auf den ersten Krieg gegen den Irak 1990-1991, der im letzten Jahr der UdSSR begann, folgte in den 1990er Jahren die Zerschlagung Jugoslawiens, die 1999 im Krieg gegen Serbien gipfelte. Dieselben imperialistischen Mächte, die jetzt auf die territoriale Integrität der Ukraine pochen und die Rückgabe der Krim fordern, hatten keinerlei Bedenken, Serbien den Kosovo zu entreißen.

20. Die Anschläge vom 11. September 2001 wurden genutzt, um den „Krieg gegen den Terror“ auszurufen und fortan die „Kriege des 21. Jahrhunderts“ zu führen, wie es Präsident George W. Bush ausdrückte. Die USA marschierten 2001 in Afghanistan ein und zettelten 2003 einen zweiten Krieg gegen den Irak an. Dann führten sie unter der Obama-Regierung Krieg gegen Libyen und inszenierten 2011 einen Bürgerkrieg in Syrien. Jeder dieser Kriege wurde damit gerechtfertigt, dass die USA für „Demokratie“ und „Freiheit“ gegen den einen oder anderen Satan kämpften, den es zu stürzen galt.

21. Das vom amerikanischen Imperialismus inszenierte und angeführte Blutbad verfehlte jedoch sein Ziel: die unangefochtene Kontrolle über den Nahen Osten, Zentralasien und die eurasische Landmasse. Die geopolitischen Strategen der USA fassten die Notwendigkeit eines direkten Konflikts mit Russland ins Auge, der als Vorstufe eines Konflikts mit China betrachtet wurde. Als Biden im August 2021 den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan ankündigte, behauptete er, er wolle dem „ewigen Krieg“ ein Ende setzen. Heute ist klar, dass dieser Abzug der Vorbereitung eines Krieges gegen Russland diente, den Biden „so lange wie nötig“ fortsetzen will.

Karte mit der Osterweiterungen der Nato seit 1949 [Photo by Patrickneil / CC BY-NC-SA 4.0]

22. Die USA und die europäischen Mächte haben diesen Krieg durch die jahrzehntelange Osterweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands provoziert. In den Jahren vor der Invasion – insbesondere nach dem von den USA inszenierten Staatsstreich in der Ukraine 2014, durch den eine prorussische Regierung abgesetzt wurde – haben die USA und die Nato Waffen im Wert von Dutzenden Milliarden Dollar in die Ukraine gepumpt, die inzwischen zwar nicht nominell, aber de facto Mitglied der Nato ist.

23. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel platzte unversehens mit der Wahrheit heraus, als sie letzten Monat gegenüber der Zeit erklärte: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“

24. Die Pläne für einen Krieg gegen Russland wurden 2022 in die Tat umgesetzt. Sieben Wochen vor Ausbruch des Krieges warnte die WSWS:

Die Biden-Regierung beginnt das neue Jahr mit einer rücksichtslosen, von der Nato unterstützten militärischen Aufrüstung der Ukraine. Sie ermutigt die rechte ukrainische Regierung, 125.000 Soldaten an der Grenze zu Russland zu stationieren, und warnt den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA „die roten Linien von niemandem akzeptieren“ werden. Weit davon entfernt, das ukrainische Regime zu zügeln, scheint die Regierung Biden darauf bedacht zu sein, einen militärischen Zusammenstoß herbeizuführen. Im Dezember drohte der demokratische Senator Chris Murphy: „Die Ukraine kann das nächste Afghanistan für Russland werden, wenn es sich entscheidet, weiter vorzurücken.“

25. Wie in jedem Krieg, den die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Komplizen führen, wird auch im Krieg gegen Russland immer wieder behauptet, es gehe um die Verteidigung der Demokratie. Dagegen findet sich in den Medien kein Hinweis auf die wirtschaftlichen Interessen, die dem Vorgehen der imperialistischen Mächte zugrunde liegen. Die World Socialist Web Site jedoch behandelte dieses Thema am 22. Mai 2022 in einem ausführlichen Artikel unter der Überschrift Kritische Rohstoffe, Imperialismus und der Krieg gegen Russland. Darin hieß es:

Russland ist das flächenmäßig größte Land der Welt. Seine Wirtschaftsleistung ist zwar verschwindend gering im Vergleich zu denen der imperialistischen Mächte, doch seine Landmasse umfasst zwei Kontinente und mehr als 17 Millionen Quadratkilometer. Die nächstgrößten Länder, Kanada (9,8 Millionen Quadratkilometer), China (9,5 Millionen Quadratkilometer) und die USA (9,3 Millionen Quadratkilometer) sind flächenmäßig deutlich kleiner. Russland macht insgesamt elf Prozent der gesamten Landmasse der Welt aus.

Diese immense Landmasse beherbergt eine ganze Reihe von wichtigen Mineralien und Rohstoffen.

Russland produziert etwa 40 Prozent des Erdgases der EU und fast 12 Prozent des weltweit benötigten Öls. Russland besitzt außerdem mit 175 Milliarden Tonnen die zweitgrößten Kohlevorkommen der Welt. Diese Rohstoffe spielen eine entscheidende Rolle in dem anhaltenden Konflikt. Angesichts schwindender globaler Energiereserven sind diese Rohstoffe ein wichtiges Hindernis für den US-Imperialismus weltweit, vor allem bei seinen Bestrebungen, den Aufstieg Chinas einzudämmen …

Abgesehen von Kohlenwasserstoff verfügt Russland auch über große Mengen von Grundmetallen, darunter mit 25 Milliarden Tonnen die drittgrößten Eisenvorkommen, die zweitgrößten Goldreserven (6.800 Tonnen) und fast die fünftgrößten Silberreserven. Daneben ist Russland auch der weltweit größte Förderer von Diamanten. Aus dem Land stammt fast ein Drittel der in den letzten zehn Jahren geförderten Diamanten.

Obwohl alle diese Rohstoffe Beachtung verdienen, wenn man die geostrategischen Ambitionen der USA und ihrer Verbündeten verstehen will, befasst sich dieser Artikel mit einem weniger bekannten Aspekt der globalen Rohstoffpolitik: den kritischen Mineralien. Dieser Begriff steht für eine Reihe von Metallen und Mineralien, die für die globale Produktion zunehmend wichtiger werden und deren Nachfrage in den nächsten zwei Jahrzehnten vermutlich stark steigen wird. In Russland befinden sich beträchtliche Vorkommen einer großen Bandbreite kritischer Mineralien, deren Kontrolle die USA als entscheidend für ihre globale wirtschaftliche und politische Vormachtstellung im 21. Jahrhundert erachten.

26. Auf der Grundlage eines sorgfältigen Überblicks über die Vorkommen strategischer Rohstoffe in Russlands wird der Schluss gezogen:

Die Aufteilung Russlands und seine Unterwerfung durch das amerikanische Kapital würde die amerikanische herrschende Klasse in die Lage versetzen, ein „neues amerikanisches Jahrhundert“ durchzusetzen und China und Eurasien ihren Zielen zu unterwerfen. Rohstoffe spielen dabei eine wichtige Rolle. Angesichts des anhaltenden Bedarfs an Öl und Erdgas sowie der rapide zunehmenden Nachfrage nach kritischen Mineralien gilt Russland dabei als wichtige Landmasse mit einer immensen Fülle von Reichtümern.

27. Der imperialistische Charakter des von der Nato geführten Krieges rechtfertigt jedoch nicht die russische Invasion in der Ukraine, geschweige denn, dass er ihr einen fortschrittlichen Charakter verleihen würde. Auf der Online-Kundgebung gegen den Krieg, die am 10. Dezember 2022 von den International Youth and Students for Social Equality veranstaltet wurde, hat das Internationale Komitee der Vierten Internationale das Verhalten des Putin-Regimes unmissverständlich verurteilt:

Ungeachtet der zentralen Verantwortung der USA und des Nato-Bündnisses für den Anstoß des Krieges war der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 eine reaktionäre und verzweifelte Tat des Putin-Regimes. Es handelte im Namen der herrschenden kapitalistischen Oligarchie, die nach der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 an die Macht kam.

Das Bestreben des Putin-Regimes, den Krieg durch die Beschwörung des reaktionären Erbes des Zarismus und des neostalinistischen nationalen Chauvinismus zu rechtfertigen, stellt einen verachtenswerten historischen Rückschritt dar. Die Nato hätte mit ihren Provokationen keinen Erfolg gehabt, wenn das Putin-Regime nicht das Ergebnis der völligen Zurückweisung der weitsichtigen demokratischen Prinzipien wäre, auf denen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Jahr 1922, fünf Jahre nach der Oktoberrevolution, gegründet wurde. Die bolschewistische Regierung unter der Führung von Lenin und Trotzki gründete die UdSSR als freiwilligen Zusammenschluss und war ihrer Verfassung nach der demokratischen Gleichstellung aller nationalen und ethnischen Gruppen verpflichtet. Die bewusste Förderung von nationalem Chauvinismus in Russland – der in der Ukraine sein offen faschistisches Pendant findet – schuf die ideologischen Voraussetzungen für den brudermörderischen Konflikt zwischen den Massen beider geschundener Länder.

Betrachtet man den US-Nato-Krieg in der Ukraine in seinem grundlegenden historischen Zusammenhang, so beweist er erneut die Notwendigkeit, den Kapitalismus und das Nationalstaatensystem zu beseitigen, in das er eingebettet ist. Tatsächlich äußert sich im Krieg gerade die fatale Unvereinbarkeit des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Aufteilung der Welt in feindliche Nationalstaaten mit der weiteren Entwicklung – und sogar dem Überleben – der Menschheit.

28. Der Krieg ist eine weitere tragische Folge der Auflösung der UdSSR. Alle Behauptungen von Gorbatschow, Jelzin und ihren Anhängern in der privilegierten Mittelklasse-Nomenklatura über die atemberaubenden Vorteile, die sich aus der Restauration des Kapitalismus ergeben würden, sind durch die Ereignisse der letzten 30 Jahre widerlegt worden. Die Abkehr vom gesamten Erbe und von den monumentalen sozialen und kulturellen Errungenschaften der Oktoberrevolution hat nicht zu Frieden, Wohlstand und Demokratie, sondern zu Bruderkriegen, Massenarmut und autokratischen Regimen geführt.

Anhänger rechtsextremer Parteien mit Fackeln und einem Porträt von Stepan Bandera in Kiew, 1. Januar 2019 [AP Photo/Efrem Lukatsky]

29. Die Regime in Kiew und Moskau, die beide aus der Auflösung der Sowjetunion hervorgegangen sind, nähren sich ideologisch aus den Jauchegruben der politischen Reaktion. Der Faschist Stepan Bandera, der Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die im Zweiten Weltkrieg beim Massenmord an Juden und Polen mit den Nazis kollaborierte, wird heute als Gründervater der Ukraine geehrt. Putin seinerseits verkörpert den politischen und gesellschaftlichen Typus „jenes echten Russen […], des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist“, wie es Lenin 1922 mit Blick auf Stalin ausdrückte. (W. I. Lenin, „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“, in: Werke, Bd. 36)

30. Eine der reaktionärsten Folgen des Stellvertreterkriegs in der Ukraine besteht darin, dass Atomwaffen als legitimes Instrument zur Austragung geopolitischer Konflikte normalisiert werden. Die ständigen Beteuerungen, die Nato-Mächte würden sich durch den möglichen Einsatz von Atomwaffen nicht „abschrecken“ lassen, können nur bedeuten, dass sie entschlossen sind, den Krieg bis zum vollständigen Sieg über Russland und zu gegebener Zeit auch über China fortzusetzen, selbst wenn damit das Leben von Milliarden Menschen aufs Spiel gesetzt wird.

31. Mit dem Anbruch des zweiten Kriegsjahrs nimmt die Logik der militärischen Eskalation unerbittlich ihren Lauf. Das dahinter stehende Bestreben, einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen, basiert auf unrealistischen Zielen und verhängnisvollen Fehleinschätzungen. Die gefährliche Dynamik des Kriegs zeigte sich, als die Ukraine am Neujahrstag ein Gebäude in Donezk angriff, in dem russische Soldaten untergebracht waren. Es gab zahlreiche, möglicherweise Hunderte Tote. Nur eine Woche vor diesem Großangriff hatte der ukrainische Präsident Selenskyj die Vereinigten Staaten besucht, um erklärtermaßen zusätzliche Waffen und militärische Unterstützung entgegenzunehmen.

32. Die Raketen vom 1. Januar 2023 wurden mit dem HIMARS-Artilleriesystem abgefeuert, das von den USA geliefert worden war. In Anbetracht der führenden Rolle der USA bei der Kriegsführung und der Komplexität dieses Systems steht außer Zweifel, dass der Angriff von der Regierung Biden genehmigt wurde und amerikanische Militärtechniker direkt daran beteiligt waren, die russischen Soldaten als Ziele auszuwählen und die Raketen abzuschießen.

33. Es ist nicht klar, ob die Regierung Biden eine drastische russische Reaktion provozieren will oder davon ausgeht, dass das Putin-Regime eine Eskalation des Kriegs mit der Nato vermeiden wird. Doch ob durch gezielte Provokation oder eine Fehleinschätzung der russischen Politik, das Weiße Haus geht Risiken ein, die zu einer globalen Katastrophe führen könnten. Die Vereinigten Staaten und die anderen Nato-Großmächte, die die Ukrainer als Kanonenfutter und Schachfiguren benutzen, sind entschlossen, einen militärischen Sieg zu erringen, und wollen sich nur mit der Kapitulation Russlands zufrieden geben. Wie die Financial Times, das wichtigste Organ des britischen Finanzkapitals, in einem Leitartikel vom 2. Januar feststellte: „Die Erfolge der Ukraine auf dem Schlachtfeld bedeuten nicht, dass ihre Verbündeten ihre Unterstützung zurückfahren können … Es ist auch nicht der richtige Zeitpunkt, um über einen Waffenstillstand oder Verhandlungen nachzudenken.“

34. Auch die anderen imperialistischen Großmächte bereiten sich auf einen Weltkrieg vor. Die massiven Militärhaushalte, die Deutschland und Japan im vergangenen Jahr verabschiedet haben, sind Kriegsbudgets. Und während die Großmächte derzeit im Konflikt mit Russland und China vereint sind, wurde auf der IYSSE-Online-Kundgebung festgestellt: „Das Nato-Bündnis und die zusätzlichen Militärpakte, die Länder in Asien und im asiatisch-pazifischen Raum einschließen, sind keine versöhnliche Bruderschaft, sondern eine Bande von imperialistischen Räubern und Halsabschneidern. Die Logik der interimperialistischen Rivalität wird in nicht allzu ferner Zukunft zu erbitterten Konflikten zwischen den vorübergehenden Verbündeten von heute führen. Die Feindschaften der Vergangenheit, wie z.B. zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland, werden unweigerlich wieder hervortreten.“

Der Putsch vom 6. Januar 2021 und die Krise der amerikanischen Demokratie

35. Die Skrupellosigkeit der US-Außenpolitik ist nicht nur den geopolitischen Interessen des amerikanischen Imperialismus zuzuschreiben. Ein zentraler Faktor ist auch die extreme innenpolitische Krise in den Vereinigten Staaten selbst. Ungeachtet ihrer Weltmachtträume regiert die amerikanische herrschende Klasse mit einem zunehmend dysfunktionalen politischen System. Schon während der Krisen im Zusammenhang mit dem Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton 1998-1999 und mit der Intervention des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2000, der eine Stimmenauszählung verhinderte und George W. Bush die Präsidentschaft zusprach, hat das Internationale Komitee davor gewarnt, dass sich die amerikanische herrschende Klasse auf diktatorische Herrschaftsformen zubewegt.

Am 6. Januar 2021 stürmen rechte Randalierer und Anhänger von Präsident Donald Trump bei einem Putschversuch das US-Kapitol in Washington [AP Photo/Jose Luis Magana]

36. Dieser lange Verfallsprozess der Demokratie gipfelte am 6. Januar 2021 in Donald Trumps Versuch, einen faschistischen Staatsstreich zu verüben, um die Machtübergabe an seinen Nachfolger zu verhindern und eine Präsidialdiktatur zu errichten. Dieser Staatsstreich wurde von der Mehrheit der Republikanischen Partei und bedeutenden Teilen der herrschenden Klasse und des Militär- und Staatsapparats unterstützt.

37. Im Laufe des vergangenen Jahres hielt der Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses eine Reihe von Anhörungen zum 6. Januar ab, die bewiesen, dass 1) Trump an der Spitze einer Verschwörung stand, um den Staatsstreich anzuführen und zu leiten, und 2) der Staatsstreich nur knapp scheiterte. Die Anhörungen endeten im Dezember mit der Empfehlung an das Justizministerium, Trump zu verhaften und wegen „Verschwörung zur Anstiftung, Unterstützung oder Beihilfe zum Aufruhr“ anzuklagen.

38. Das International Institut for Strategic Studies (IISS) weist in seinem jährlichen Bericht Strategic Survey for 2022 auf die Fragilität der amerikanischen Politik hin. Es schreibt:

Auch wenn Trumps Plan scheiterte, lässt die Dreistigkeit seines Vorhabens erkennen, dass sich das Bewusstsein und die Erwartungen, ob künftige Wahlergebnisse abgelehnt und rückgängig gemacht werden könnten, von Grund auf geändert haben. Ein solcher Ausgang ist nur deshalb denkbar, weil das Verhalten der politischen Eliten in Washington und in den Hauptstädten der Bundesstaaten in den Jahren 2021-2022 von einer stark ausgeprägten politischen Polarisierung bestimmt wird und weil sich auch die Amerikaner sozial und politisch stärker voneinander unterscheiden als je zuvor in der jüngsten Vergangenheit …

Zurzeit wird eine akademische Debatte darüber geführt, ob es in den USA im nächsten Jahrzehnt zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. Die Antwort hängt möglicherweise von den Definitionen ab. Gewalt ist wieder zu einem hervorstechenden Merkmal der amerikanischen Politik geworden.

39. In der amerikanischen Politik stellt Trump keineswegs die einzige Bedrohung durch faschistischen Autoritarismus dar. Wie das Auftreten von Politikern wie Gouverneur Ron DeSantis in Florida zeigt, lehnt die Republikanische Partei traditionelle demokratische Normen weitgehend ab und strebt einen autoritären Staat an, der politische Opposition rücksichtslos unterdrückt. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die Rechtsprechung in der Sache Roe v. Wade zu kippen und damit das Recht auf Abtreibung abzuschaffen, hat in den Bundesstaaten eine Welle von antidemokratischen Gesetzen ausgelöst, die Abtreibung kriminalisieren. Jahr für Jahr werden mehr als 1.000 Menschen von der Polizei ermordet. Hinter all diesen Erscheinungsformen der Aushöhlung der Demokratie steht ein ständiger Ausbau der innerstaatlichen Repressionsmaschinerie: massive Überwachungs- und Repressionsbehörden wie die NSA und das FBI sowie ihre Pendants in allen Bundesstaaten und Großstädten.

Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) auf der Abschlusskundgebung der Mitte-Rechts-Koalition in Rom, 22. September 2022 [AP Photo/Gregori Borgia, file]

40. Der Zusammenbruch der Demokratie und der wachsende politische Einfluss rechtsextremer und faschistischer Bewegungen ist ein weltweites Phänomen. In Italien kamen im Oktober unter Premierministerin Giorgia Meloni die Fratelli d’Italia (FdI) an die Macht, die Nachfolger des faschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) und Erben des faschistischen Diktators Benito Mussolini. In Frankreich gewann die neofaschistische Kandidatin Marine Le Pen bei der Stichwahl gegen Emmanuel Macron im März 45 Prozent der Stimmen. In Deutschland, wo die Nazi-Diktatur für die schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich war, wurde im Dezember bei einer Razzia ein faschistisches Terrorkomplott aufgedeckt, das sich die militärische Machtergreifung zum Ziel gesetzt hatte. Die „Reichsbürger“-Bewegung unterhält enge Beziehungen zur rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD), und die Neonazi-Bewegung reicht tief in den Verfassungsschutz und die Bundeswehr hinein.

41. In ganz Europa wurden faschistische Parteien legitimiert. Ihre politische Funktion besteht darin, die Förderung des Militarismus, die Abschaffung von Corona-Maßnahmen, die Angriffe auf Einwanderer und Flüchtlinge und vor allem die Vorbereitungen auf eine Konfrontation mit der Arbeiterklasse zu begleiten und voranzutreiben.

42. Wie die Erfahrungen aus der Geschichte beweisen, ist der Faschismus die Reaktion der herrschenden Klassen auf ihre Bedrohung durch die sozialistische Revolution. Mussolini und seine „Fasci“-Verbände wurden 1922 von der italienischen Bourgeoisie an die Macht gebracht, um die Arbeiterbewegung gewaltsam niederzuschlagen. Zum gleichen Zweck wurden mit noch größerer Brutalität Hitler und die Nazis in Deutschland eingesetzt. Die faschistischen Bewegungen nahmen von Land zu Land unterschiedliche Formen an. In einigen Fällen, wie in Deutschland und Italien, erlangten sie die nahezu absolute Kontrolle über den kapitalistischen Staat. In anderen Fällen – und in der Tat häufiger – fungierten faschistische Organisationen als paramilitärische Hilfsinstrumente der staatlichen Repression und unterstützten (beispielsweise in Spanien, Argentinien, Chile und Indonesien) die Armee und die Polizei bei ihrem blutigen Werk der staatlich gesteuerten Konterrevolution.

43. Heute treibt der Druck der objektiven Krise die herrschende Elite dazu, demokratische Formen der Herrschaft aufzugeben und einen Präventivschlag gegen die aufkommende Bewegung der Arbeiterklasse zu führen.

Die Wirtschaftskrise des amerikanischen und internationalen Kapitalismus

44. Ursache der extremen politischen Instabilität ist letztlich die zunehmend instabile wirtschaftliche und finanzielle Lage. Das zentrale Element der Politik der herrschenden Klasse in den letzten dreißig Jahren bestand darin, den Märkten in immer größerem Umfang Liquidität zuzuführen. Dies begann nach dem „Volcker-Schock“ von 1979, als die US-Notenbank unter Paul Volcker die Leitzinssätze drastisch anhob, um eine Rezession herbeizuführen und die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Die anschließende lange Niedrigzinsphase, die in den 1990er Jahren einsetzte und über die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts anhielt, ließ Geld in die Finanzmärkte fließen und sorgte für steigende Börsenkurse.

45. Auf die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 reagierte die herrschende Klasse der USA mit einer Rettungsaktion für die Wall Street. Die Staatsverschuldung wurde praktisch über Nacht verdoppelt, um den Ankauf spekulativer Wertpapiere im Wert von Hunderten Milliarden Dollar durch die Federal Reserve zu finanzieren. Dies wiederholte sich im Jahr 2020 in den ersten Monaten der Coronapandemie in noch größerem Ausmaß und trieb die Aktienkurse inmitten von Massensterben und sozialem Elend auf Rekordhöhen.

Der Vorsitzende der Federal Reserve Jerome Powell, Mitte, mit Teilnehmern des jährlichen Symposiums der Zentralbank im August 2022 [AP Photo/Amber Barsler]

46. Die Politik der herrschenden Klasse, angeführt von den Vereinigten Staaten, bestand darin, finanzielle Vermögenswerte durch das Drucken von Geld aufzublähen, während die Löhne durch die Unterdrückung des Klassenkampfes niedrig gehalten wurden. Der Reichtum der Unternehmens- und Finanzelite, aber auch bedeutender Teile der oberen Mittelschicht, wurde zunehmend vom eigentlichen Produktionsprozess abgekoppelt.

47. Die extremste Form dieses Spekulationswahns fand auf dem Markt für Kryptowährungen statt, fiktiver Währungen für fiktives Kapital, deren Wert im Jahrzehnt nach der Krise von 2008 buchstäblich explodierte. Der Preis eines Bitcoin, der 2009 entwickelten Kryptowährung, erreichte auf seinem Höhepunkt im Jahr 2021 mehr als 64.000 Dollar. Auf Grundlage des massiven Zustroms von Barmitteln in den gesamten Finanzmarkt stieg 2021 der Wert der am Markt gehandelten Kryptowährungen – einschließlich Bitcoin und anderer – auf mehr als 3 Billionen US-Dollar.

48. Im vergangenen Jahr ist diese Politik in eine Sackgasse geraten. Die Weltwirtschaft wurde von der höchsten monetären Inflation seit vier Jahrzehnten getroffen. Ursächlich sind neben dem Gelddrucken der Zentralbanken die Auswirkungen der Pandemie und des US-Nato-Kriegs gegen Russland auf die globalen Lieferketten.

49. Angeführt von der US-Notenbank haben die Zentralbanken mit den stärksten Zinserhöhungen seit den frühen 1980er Jahren reagiert. Die Maßnahmen, die auf die Inflation hin ergriffen wurden, verschärfen jedoch die Wirtschaftskrise und verstärken die sozialen Spannungen, die den Klassenkampf anheizen.

50. Die Anhebung der Zinssätze hat sich bereits deutlich auf die Finanzmärkte ausgewirkt. Die Kurse an der NASDAQ-Börse sind im Laufe des Jahres um fast 35 Prozent gefallen, der Aktienindex S&P 500 gab um 20,6 Prozent nach und der Dow-Jones-Index um 9,5 Prozent. Der Marktwert von Unternehmen wie Tesla, Google, Amazon, Microsoft und vielen anderen, die von Spekulationen lebten, ist stark gesunken. Der Marktwert der Kryptowährungen fiel um mehr als 60 Prozent, von 2,3 Billionen Dollar auf knapp über 800 Milliarden Dollar. Die Verhaftung von Sam Bankman-Fried, dem Gründer der insolventen Kryptowährungsbörse FTX, im Dezember zeigt besonders deutlich, dass dem Spekulationswahn des Finanzkapitals die Luft ausgeht.

51. Es mehren sich die Anzeichen, dass die Weltwirtschaft im Jahr 2023 in eine Rezession eintreten wird. Im Oktober prognostizierte der Internationale Währungsfonds, dass das weltweite Wachstum in diesem Jahr auf 2,7 Prozent sinken wird. Das ist der niedrigste Stand seit 2001, wenn man die Krise 2008-2009 und das erste Jahr der Pandemie ausklammert. Allerdings nimmt sich diese Schätzung übermäßig optimistisch aus. Im November bezeichnete der Economist eine globale Rezession im Jahr 2023 als „unvermeidlich“ und verwies auf die Auswirkungen der „Dauerkrise“ infolge geopolitischer Konflikte, steigender Rohstoffpreise und des „Verlusts der makroökonomischen Stabilität“ infolge steigender Zinssätze.

52. Aus Sicht der herrschenden Klasse stellen die Auswirkungen von Zinserhöhungen auf den Aktienmarkt ein notwendiges Übel dar, um das wichtigere strategische Ziel zu erreichen: den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den extremen Rückgang ihres Lebensstandards im vergangenen Jahr zu brechen. Als der Fed-Vorsitzende Jerome Powell im August ankündigte, dass die Zinserhöhungen weitergehen würden, betonte er, dass dies notwendig sei, um „die Klemme auf dem Arbeitsmarkt zu lockern“, d. h. um Massenarbeitslosigkeit zu erzeugen, was „den Privathaushalten und Unternehmen einige Schmerzen bereiten“ werde.

53. Die steigende Inflation hat verheerende Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Arbeiter in der ganzen Welt. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sanken die Reallöhne im Jahr 2022 um fast 1 Prozent – der erste weltweite solche Rückgang seit Jahrzehnten. In der Europäischen Union, wo die jährliche Inflationsrate im Oktober 2022 11,5 Prozent erreichte, sanken die Reallöhne im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um volle 2,4 Prozent.

54. Zeitgleich mit dem Sinken der Reallöhne ist die Arbeitsproduktivität weiter gestiegen, was erkennen lässt, dass die Ausbeutung der Arbeiterklasse neue Rekorde erreicht. Daher befürchten Unternehmensanalysten, dass im Jahr 2023 sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern Streiks und soziale Proteste vorherrschen werden. In einer Analyse der amerikanischen Arbeitsbeziehungen von Bloomberg Law heißt es, dass „mindestens 150 große Tarifverträge im nächsten Jahr auslaufen, was angesichts der steigenden Inflation und der zunehmenden Unternehmensgewinne weitere Unruhen unter den Arbeitnehmern auslösen könnte. Vom Auslaufen der Verträge sind mindestens 1,6 Millionen Arbeitnehmer betroffen, mehr als die Bevölkerung von Philadelphia.“

Die neue globale Offensive der Arbeiterklasse

55. Der Preisanstieg hat die Prozesse beschleunigt, die der Zunahme der Klassenkämpfe in der ganzen Welt zugrunde liegen. Die lange Periode, in der die Mechanismen der Gewerkschaftsapparate eine Stagnation erzwangen, stößt jetzt auf den Widerstand der Massen. In einem Land nach dem anderen kehrt die Militanz der Arbeiterklasse zurück. „Die Gesetze der Geschichte sind“, wie Trotzki einst schrieb, „stärker als die bürokratischen Apparate.”

56. Ein wichtiger Faktor für die Zunahme sozialer Unruhen sind die steigenden Lebenshaltungskosten, darunter die rasant ansteigenden Preise für lebensnotwendige Güter. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) stieg der Preis für Weizen von April 2020 bis Dezember 2021 im Zuge der weltweiten Coronapandemie um 80 Prozent und trieb die Lebensmittelpreise auf den höchsten Stand seit den 1970er Jahren. Die Preise für Weizen sind im Jahr 2022 um 37 Prozent und für Mais um 21 Prozent gestiegen. Die Kurse für Weizentermingeschäfte liegen um 80 Prozent höher als vor sechs Monaten, und bei Mais beträgt der Anstieg 58 Prozent.

Demonstranten auf einer Straße, die zum Amtssitz des Präsidenten von Sri Lanka führt, Colombo, 9. Juli 2022 [AP Photo/Amitha Thennakoon]

57. Ende März begannen in Sri Lanka Demonstrationen gegen die Regierung, die sich im April und Mai fortsetzten. Sie gipfelten in drei massiven Generalstreiks. Präsident Gotabaya Rajapaksa sah sich zum Rücktritt gezwungen und floh aus dem Land. Auch in Ecuador, Peru, dem Libanon, Pakistan und anderen Ländern kam es zu großen Demonstrationen gegen die Lebensmittel- und Kraftstoffpreise.

58. In der Türkei gab es im Dezember und bis in den Januar hinein eine Reihe spontaner Streiks, an denen Arbeiter in Stahlwerken, Papierfabriken und Schuhfabriken sowie Eisenbahner und Bauarbeiter beteiligt waren.

59. Im Iran brachen im September Proteste gegen die Regierung aus, als Mahsa Amin starb, nachdem sie wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Hijab-Gesetz von der Sittenpolizei verhaftet worden war. Anfangs waren an den Protesten vor allem Vertreter der Mittelschicht beteiligt, die sich gegen das bürgerlich-klerikale Regime von Ayatollah Khamenei auflehnten. Auch versucht der US-Imperialismus, die innenpolitische Krise im Iran auszunutzen, um seine eigenen Interessen im Nahen Osten durchzusetzen.

60. Im Dezember traten dann Teile der iranischen Arbeiterklasse im Rahmen der Demonstrationen in einen dreitägigen „nationalen Streik“, darunter Arbeiter der Raffinerien, Stahl- und Zementarbeiter sowie Busfahrer. Die Weiterentwicklung der Proteste in eine progressive Richtung – gegen die bürgerliche Regierung im Iran, ohne die Regimewechsel-Operationen des US-Imperialismus zu unterstützen – hängt vom Aufbau einer trotzkistischen Führung in der Arbeiterklasse ab.

61. Die Inflation hat immense Auswirkungen auf die Entwicklung des Klassenkampfs in Afrika. 23 der 54 afrikanischen Länder beziehen mehr als die Hälfte ihrer Grundnahrungsmittel aus Russland und der Ukraine. Der Preisanstieg verschlimmert den Hunger, und in den meisten afrikanischen Ländern gibt es kein soziales Sicherheitsnetz. Besonders extrem sind die Auswirkungen in den Ländern, die den größten Teil ihrer Nahrungsmittel importieren und in denen die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie am stärksten zu spüren sind, d. h. Nigeria, Kenia, Ghana, Ruanda und Ägypten. Die Zahl der Hungernden in Afrika wird auf über 500 Millionen der 1,2 Milliarden Bewohner des Kontinents geschätzt.

62. In ganz Afrika haben die Arbeiter trotz der Sabotage der Gewerkschaftsapparate den Kampf aufgenommen. Die Beschäftigten des kenianischen Gesundheitswesens sind entgegen einer gerichtlichen Anordnung am 9. Dezember in den Streik getreten. In Nigeria streikten auch Universitätsdozenten, Busfahrer und Staatsbedienstete. Von besonderer Bedeutung war der Streik der Busfahrer in Lagos (Nigeria), der im Widerstand gegen die offizielle Gewerkschaft, die National Union of Road Transport Workers, durchgeführt wurde.

63. Auch in Südafrika kam es zu Streiks, von Lohnkämpfen bei der Einzelhandelskette Makro bis hin zum südafrikanischen Stromversorger Eskom, bei dem entlassene Beschäftigte für ihre Wiedereinstellung streikten. In Südafrika stehen die Arbeiter der Bürokratie des Congress of South African Trade Unions gegenüber, der mit dem bürgerlichen African National Congress und der stalinistischen South African Communist Party ein reaktionäres Dreierbündnis bildet. Tausende von südafrikanischen Staatsbediensteten nahmen im November an landesweiten Demonstrationen teil, um eine 10-prozentige Erhöhung ihrer Gehälter zu fordern. Die Proteste mündeten in einen eintägigen Generalstreik im öffentlichen Dienst.

Kundgebung brasilianischer Mercedes-Benz Arbeiter in São Bernardo do Campo am 8. September 2022 [Photo: Adonis Guerra/SMABC/FotosPublicas]

64. Lateinamerika, das vor drei Jahren Schauplatz massiver Aufstände gegen die soziale Ungleichheit und die verkommenen politischen Regime der Region war, erlebte 2022 eine weitere Welle des Klassenkampfs. Neben Generalstreiks von Hafenarbeitern, Arbeitern in Reifenfabriken, Lehrern, Pflegekräften, Transportarbeitern und anderen verzeichnete Argentinien im Jahr 2022 mehr als 9.000 Straßenblockaden, womit es das Jahr mit der höchsten Anzahl dieser traditionellen Protestform (Piquetes) in der Geschichte des Landes war. In Brasilien hat eine Welle von Lohnkämpfen in der ersten Jahreshälfte zu 75 Prozent mehr Streiks und doppelt so hohen Ausfallzeiten wegen Arbeitsniederlegungen geführt wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

65. In einer Reihe lateinamerikanischer Länder kam es zu massiven Protesten gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, insbesondere nach den wirtschaftlichen Erschütterungen, die durch den von den USA und der Nato angezettelten Krieg in der mehr als 10.000 Kilometer entfernten Ukraine ausgelöst wurden. Sowohl offen rechte Regierungen – wie die von Ariel Henry in Haiti und Guillermo Lasso in Ecuador – als auch Regierungen der pseudolinken „rosa Flut“ – wie Pedro Castillo in Peru und Gabriel Boric in Chile – reagierten auf diese Demonstrationen mit brutaler staatlicher Repression.

66. In Europa wurde die französische Regierung unter Präsident Emmanuel Macron durch eine Reihe von Streiks der Ölraffineriearbeiter erschüttert. Nachdem er damit gedroht hatte, die Streikenden per Gesetz zur Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu zwingen, bediente sich Macron schließlich der CGT-Gewerkschaften, um die Offensive zu ersticken. Auch die Entwicklung in Deutschland war durch eine Radikalisierung der Arbeiterklasse gekennzeichnet, die sich in einer Reihe von Streiks niederschlug. Im Herbst sah sich die IG Metall gezwungen, Hunderttausende von Arbeitern in Warnstreiks zu rufen, um die wachsende Wut über die Auswirkungen der Inflation und die Kriegspolitik der Regierung einzudämmen. Weitere bedeutende Streiks fanden im Laufe des Jahres in der Krankenpflege und der Luftfahrt sowie im Sommer bei den Hafenarbeitern statt.

Streikende in der Auslieferungsstelle Alder Hills, Bournemouth, 23. Dezember 2022

67. Im Vereinigten Königreich haben Eisenbahner, Hafenarbeiter, Telekommunikationsarbeiter, Postzusteller und andere Teile der Arbeiterklasse eine Reihe von Kämpfen geführt, die wesentlich zur Destabilisierung der britischen Regierung beigetragen haben. Zum ersten Mal seit 1924 wurden innerhalb eines Jahres drei Premierminister verschlissen. Zum Ende des Jahres versuchten die Gewerkschaften, die zunehmenden Forderungen nach einem Generalstreik zu begrenzen. Die Medien sprechen von einem neuen „Winter der Unzufriedenheit“ in Großbritannien.

68. In Australien haben die Arbeitskämpfe ein Ausmaß erreicht, wie es seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr der Fall war, obwohl die Gewerkschaftsapparate versuchen, die Streiks zu begrenzen und zu spalten. Nach der Wahl der Labor-Regierung unter Premierminister Albanese im Mai 2022 kam es zu einer Zunahme der Streiks von Pflegekräften, Lehrern, Bahn-, Schifffahrts- und Transportarbeitern und anderen gegen unerträgliche Arbeitsbelastungen und inflationsbedingte Lohneinbußen. Sowohl die Bundesregierung unter Albanese als auch die Regierungen der Bundesstaaten reagierten mit einer Verschärfung der Antistreikgesetze und Maßnahmen, die seit mehr als vierzig Jahren gegen die Kämpfe der Arbeiterklasse eingesetzt werden.

69. In Neuseeland, wo die Inflation 7,2 Prozent erreichte, nahmen breite Schichten der Arbeiter den Kampf auf, um sich gegen steigende Lebenshaltungskosten und die durch die Coronakrise verursachten Probleme zu wehren. Zum ersten Mal seit 20 Jahren legten die Feuerwehrleute landesweit die Arbeit nieder. Außerdem streikten Beschäftigte an den Hochschulen, im verarbeitenden Gewerbe und im Gastgewerbe. Pflegekräfte der öffentlichen Krankenhäuser verweigerten Überstunden, um gegen die von der Labour-Regierung unter Premierministerin Ardern beschlossene Abschaffung der befristeten „Winterprämien“ zu protestieren.

70. In Kanada widersetzten sich 55.000 Beschäftigte des Bildungswesens in Ontario einem Anti-Streik-Gesetz. In der Arbeiterklasse gab es daraufhin breite Unterstützung für einen Generalstreik gegen die weit rechts stehende Regierung der Provinz unter Doug Ford. Ein solcher Generalstreik konnte nur verhindert werden, indem die Gewerkschaften den Streik im Bildungswesen abwürgten.

Streikende der University of California in Berkeley, 21. November 2022

71. Einige der explosivsten Klassenkämpfe fanden in den Vereinigten Staaten statt, dem Zentrum des Weltkapitalismus. Hier hat die Zahl der Streiks im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen, nämlich um 40 Prozent, wie aus einer Datenbank der Cornell University hervorgeht. Es kam zu Ausständen von Ölarbeitern, Pflegekräften und anderen Beschäftigten des Gesundheitswesens, Produktionsarbeitern sowie Lehrern und weiteren Beschäftigten im Bildungswesen. Das Jahr endete dem Abwürgen eines machtvollen Streiks von 48.000 akademischen Mitarbeitern der University of California, nachdem die Gewerkschaft United Auto Workers verschlechterten Tarifbedingungen zugestimmt hatte.

72. Allerdings lässt die bloße Anzahl der Streiks das wahre Ausmaß des Widerstands in der Arbeiterklasse nicht vollständig erkennen. Der bürokratische Apparat, der in enger Zusammenarbeit mit den Unternehmen und der Regierung verzweifelt um eine Eindämmung der sozialen Wut bemüht war, hat einen breiter angelegten Kampf verhindert. Dies nahm die Form an, dass der Kampf von 100.000 Eisenbahnern unterdrückt wurde. Trotz wiederholter Ablehnungen von Tarifeinigungen und entgegen den Ergebnissen von Urabstimmungen haben die Gewerkschaften einen Streik im Güterverkehr verhindert. Im Dezember wurde dann sogar ein Gesetz erlassen, mit dem ein Streik für illegal erklärt wurde. Diese staatliche Maßnahme, die im Wesentlichen faschistischen Charakter trug, wurde vom Gewerkschaftsapparat nicht bekämpft, sondern sogar unterstützt.

Das IKVI im Jahrzehnt der sozialistischen Revolution

73. Die Entwicklung des globalen Klassenkampfs stellt einen wichtigen historischen Wendepunkt dar. Der Abwärtstrend in der grafischen Zeitleiste des Klassenkampfs, der bis in die späten 1970er Jahre zurückreicht, hat sich eindeutig in eine Aufwärtskurve verwandelt.

74. In dieser neuen objektiven Situation sind die Rolle und die Praxis der revolutionären Partei entscheidend. Auf ihrer Sommerschule 2019 hat die Socialist Equality Party (US) auf der Grundlage einer Analyse der objektiven Krise des Kapitalismus und der Geschichte der Vierten Internationale eine qualitative Veränderung der politischen Situation konstatiert. Die aktuelle Phase, so stellte die SEP fest, sei gekennzeichnet durch „das Zusammentreffen eines neuen revolutionären Aufschwungs der internationalen Arbeiterklasse mit der politischen Aktivität des Internationalen Komitees“:

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ist in die fünfte Phase der Geschichte der trotzkistischen Bewegung eingetreten. Dies ist die Phase, in der das IKVI als Weltpartei der sozialistischen Revolution ein enormes Wachstum erleben wird. Die objektiven Prozesse der ökonomischen Globalisierung, die das Internationale Komitee vor mehr als 30 Jahren identifizierte, haben sich in riesigem Umfang weiterentwickelt. In Kombination mit dem Aufkommen neuer Technologien, die die Kommunikation revolutionierten, haben diese Prozesse den Klassenkampf in einem Maße internationalisiert, das selbst vor 25 Jahren noch kaum vorstellbar gewesen wäre. Der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse wird sich als eine zusammenhängende und vereinte Weltbewegung entwickeln. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale wird als bewusste politische Führung dieses objektiven sozioökonomischen Prozesses aufgebaut. Es wird der kapitalistischen Politik des imperialistischen Kriegs die klassenbasierte Strategie der sozialistischen Weltrevolution entgegensetzen. Darin besteht die wesentliche historische Aufgabe des neuen Stadiums in der Geschichte der Vierten Internationale.

75. Anknüpfend an diese Analyse bezeichnete die WSWS in ihrer Neujahrserklärung, die am 3. Januar 2020 veröffentlicht wurde, das kommende Jahrzehnt als das „Jahrzehnt der sozialistischen Revolution“. Wir schrieben: „Das Wachstum der Arbeiterklasse und die Herausbildung des Klassenkampfs auf internationaler Ebene bilden die objektive Grundlage für die Revolution. Die spontanen Kämpfe der Arbeiter und ihr instinktives Streben nach Sozialismus an sich reichen jedoch nicht aus. Um zu einer bewussten Bewegung für den Sozialismus zu werden, braucht der Klassenkampf eine politische Führung.“

76. Die Aufgabe der politischen Führung besteht darin, die objektive Logik der kapitalistischen Krise zu analysieren und auf dieser Grundlage Initiativen zu entwickeln, die das Bewusstsein der Arbeiterklasse anheben, ihr Selbstvertrauen stärken und den politischen Einfluss der kapitalistischen Parteien untergraben.

77. Im November 2021, als die weltweite Ausbreitung der Omikron-Variante gerade erst begann, leitete das IKVI den Global Workers’ Inquest zur Coronapandemie in die Wege. Im ersten Jahr dieser Untersuchung wurden Aussagen von Dutzenden Wissenschaftlern und Arbeitern gesammelt, die die kriminelle Reaktion der herrschenden Klasse dokumentieren und eine wissenschaftliche und vor allem politische Strategie darlegen, um die Pandemie ein für alle Mal zu beenden.

78. Am 10. Dezember 2022 veranstalteten die International Youth and Students for Social Equality, die Jugend- und Studierendenbewegung des IKVI, eine globale Online-Kundgebung, um eine internationale Antikriegsbewegung junger Menschen zu initiieren. Im November startete die Sozialistische Gleichheitspartei, die deutsche Sektion des IKVI, eine intensive Kampagne zu den Berliner Wahlen, die im Februar 2023 stattfinden werden. Die SGP ist die einzige Partei, die die Arbeiterklasse gegen den Krieg mobilisiert, den die USA und die Nato gegen Russland führen.

79. In Sri Lanka hat die Socialist Equality Party im Juli eine Initiative gestartet, in der sie zu einem demokratischen und sozialistischen Kongress der Arbeiter und ländlichen Massen aufruft. Ein solcher Kongress muss den Widerstand gegen die Verschwörungen innerhalb des politischen Establishments organisieren, die darauf abzielen, die verhasste Rajapaksa-Regierung durch eine neue Regierung zu ersetzen, die nicht weniger entschlossen ist, die vom IWF geforderten Sparmaßnahmen umzusetzen.

80. Ein Haupthindernis für den Kampf der Arbeiterklasse in allen Ländern sind die korporatistischen Gewerkschaften, die entscheidend dazu beigetragen haben, die seit Jahrzehnten zunehmende soziale Ungleichheit durchzusetzen. Sie unterstützen die Kriegspolitik der herrschenden Klasse und trieben die Arbeiter während der Pandemie zurück in die Betriebe. Das IKVI ruft dazu auf, die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees aufzubauen, damit die Kämpfe der Arbeiter in der ganzen Welt vereinigt werden können. Im Gegensatz zu all jenen, die auf der Unantastbarkeit des korporatistischen Gewerkschaftsapparats bestehen, tritt das IK für den Aufbau von Organisationen ein, die von den Arbeitern selbst gebildet und von ihnen kontrolliert werden.

Autobeschäftigte unterstützen Will Lehmans Kandidatur bei der Wahl zum UAW-Präsidenten, 2022

81. Der Kampf, die Arbeiter von der Gewerkschaftsbürokratie zu befreien, kam im vergangenen Jahr in der Kampagne von Will Lehman in den USA besonders kraftvoll zum Ausdruck. Lehman gab im Juni seine Kandidatur für den Vorsitz der Gewerkschaft United Auto Workers bekannt. Seine Kampagne fand breite Unterstützung bei den einfachen Arbeitern, die die Forderung nach der vollständigen Abschaffung des Gewerkschaftsapparats und der Übertragung der Macht an die Arbeiter in den Betrieben aufgriffen.

82. Die Kampagne von Will Lehman machte deutlich, welche große soziale Kluft zwischen den einfachen Arbeitern und dem UAW-Apparat besteht. Die Gewerkschaft beschäftigt Tausende Funktionäre, die aufgrund ihres Einkommens zu den obersten fünf Prozent oder sogar zu dem obersten einen Prozent der Bevölkerung gehören. Der Apparat, der aufgrund eines massiven Korruptionsskandals in der UAW gezwungen war, eine Direktwahl abzuhalten, reagierte mit dem gezielten Versuch, Arbeiter an der Stimmabgabe zu hindern.

83. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung von nur 9 Prozent war durch diese Sabotage und auch durch die Entfremdung der einfachen Arbeiter vom Apparat bedingt. Dennoch zeigen die rund 5.000 für Lehman abgegebenen Stimmen, dass in der Arbeiterklasse eine ausgesprochen große Basis für sozialistische Politik vorhanden ist. Die Kampagne hat die Grundlage für den Aufbau eines Netzes von Aktionskomitees in den Automobilwerken und anderen Betrieben im ganzen Land geschaffen.

84. Der Aufbau von Aktionskomitee in jeder Branche und in jedem Land ist notwendig, damit sich der Klassenkampf entfalten kann. Eine solche Entfaltung des Klassenkampfs wiederum ist die unabdingbare Grundlage für eine Bewegung nicht nur gegen Ausbeutung und Ungleichheit, sondern auch gegen Krieg, gegen die Pandemiepolitik der herrschenden Klassen und gegen ihr Streben nach Faschismus und Diktatur.

Die World Socialist Web Site und der einhundertste Jahrestag des Trotzkismus

85. Im Gründungsprogramm der Vierten Internationale schrieb Trotzki, außerhalb dieser Partei „gibt es auf unserem Planeten keine einzige revolutionäre Tendenz, die dieses Namens würdig wäre“. Das gilt auch für die Rolle des Internationalen Komitees der Vierten Internationale im weltweiten Klassenkampf und bei der Vorbereitung der Arbeiterklasse auf die sozialistische Weltrevolution. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ist nicht eine von vielen „Fraktionen“, die von sich behaupten, trotzkistisch zu sein. Das IKVI ist die einzige politische Partei, die in der marxistischen Tradition arbeitet und die historische Kontinuität der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution weiterführt. Das ist keine eitle Prahlerei. Es wird durch die Theorie, das Programm und die Praxis des IKVI bewiesen.

86. Am 14. Februar 2023 wird die World Socialist Web Site den 25. Jahrestag ihrer Gründung im Jahr 1998 begehen. Das IKVI nutzte die neue Kommunikationstechnologie des Internets und schuf die WSWS als erste wahrhaft globale Publikation der internationalen sozialistischen Bewegung. Die revolutionäre Technologie bot die Möglichkeit und die Mittel für eine solche Publikation. Aber die wesentliche Grundlage der WSWS – die eine tägliche Veröffentlichung über einen Zeitraum von 25 Jahren ermöglichte – war ihre Verankerung im gesamten theoretischen und politischen Erbe der Vierten Internationale. Der Umfang der Berichterstattung der World Socialist Web Site über politische, soziale, kulturelle und intellektuelle Ereignisse und Prozesse hat die Kraft der marxistischen Methode und die Stärke der historischen Perspektive des Trotzkismus unter Beweis gestellt.

87. Ausgehend von den Lehren aus den zentralen revolutionären und konterrevolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hat die WSWS über alle wichtigen politischen Ereignisse des 21. Jahrhunderts berichtet und sie analysiert. Als Gegenpol zur betäubenden und verlogenen Propaganda der kapitalistischen Medien hat sie einer ganzen Generation von Arbeitern, Studierenden und Jugendlichen eine intellektuell befreiende und revolutionäre Orientierung gegeben. Die WSWS hat tiefgehende politische Analysen geliefert und zugleich unermüdlich gegen die Verbreitung kultureller Rückständigkeit und theoretischer Täuschung und Scharlatanerie gekämpft.

Mitglieder der Linken Opposition im Jahr 1927 (vorne von links nach rechts) Leonid Serebrjakow, Karl Radek, Leo Trotzki, Michail Boguslawski, Jewgeni Preobraschenski; (hinten) Christian Rakowski, Jakob Drobnis, Alexander Beloborodow und Lew Sosnowski

88. Es gibt noch ein weiteres Jubiläum, das ab Herbst dieses Jahres begangen wird. Im Oktober 2023 jährt sich zum einhundertsten Mal die Gründung der Linken Opposition unter der Führung von Leo Trotzki. Sie markierte den Beginn der trotzkistischen Opposition gegen die stalinistische Bürokratie und gegen das Regime, dessen Verrat an den Prinzipien der Oktoberrevolution zu historischen Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse und schließlich zur Zerstörung der Sowjetunion und zur Restauration des Kapitalismus führte.

89. Einhundert Jahre nach der Gründung der Linken Opposition sind die Perspektive und das Programm der trotzkistischen Bewegung von der Geschichte bestätigt worden. Zahllose Verbrechen gegen die sozialistische Bewegung und die Arbeiterklasse zeugen von der Rolle Stalins und des Stalinismus als „Totengräber der Revolution“.

90. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale, die trotzkistische Weltbewegung, ist der einzige Vertreter des revolutionären Marxismus im 21. Jahrhundert. Die diversen pablistischen, staatskapitalistischen und sonstigen pseudolinken Organisationen sind als Erfüllungsgehilfen des Imperialismus, Verteidiger des Gewerkschaftsapparats und Gegner der Arbeiterklasse entlarvt.

91. Der Marxismus stützt sich auf ein historisch-materialistisches Verständnis der objektiven Gesetze und Prozesse, die zu revolutionären Massenbewegungen führen. Die von Trotzki entwickelte Theorie der permanenten Revolution bildet nach wie vor die wesentliche strategische Grundlage für die sozialistische Weltrevolution. Die Perspektive des IKVI ist von einem politischen Optimismus durchdrungen, der sich auf ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis der revolutionären Fähigkeit der Arbeiterklasse stützt, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen. Aber dieser Optimismus ist nicht der eines passiven Beobachters, der sich mit dem Gedanken tröstet, dass „die Geschichte auf unserer Seite ist“. Es stimmt, dass die Krise des Kapitalismus zur Revolution führt. Aber die Revolution muss vorbereitet und erkämpft werden. Die sozialistische Lösung der Krise des Kapitalismus setzt voraus, dass die Krise der Führung der Arbeiterklasse gelöst wird.

92. Zu Beginn des neuen Jahres rufen wir Arbeiter und Jugendliche auf, die Lehren aus dem vergangenen Jahr und die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und zu erkennen, dass der Kapitalismus in eine Sackgasse geraten ist. Die Zukunft der Menschheit hängt vom Sieg des Sozialismus ab. Wir rufen euch auf, euch diesem Kampf anzuschließen, die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees aufzubauen, am Global Workers’ Inquest über die Coronapandemie teilzunehmen, die Leserschaft der World Socialist Web Site zu erhöhen und vor allem die Entscheidung zu treffen, der Sozialistischen Gleichheitspartei in eurem Land beizutreten und am Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution mitzuwirken.

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