Vor wenigen Wochen jährte sich eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zum 80. Mal, der Massenmord an Tausenden Zivilisten, an Frauen, Alten, Kindern im weißrussischen Todeslager Osaritschi (Osarici oder Ozarichi).
Bei ihrem Rückzug nach der Niederlage von Stalingrad im Februar 1943 hinterließ die deutsche Armee überall eine Spur des Todes und der verbrannten Erde. Sie verwüstete Wirtschaft, Krankenhäuser, Eisenbahnlinien und andere Verkehrswege, brannte Dörfer nieder, rekrutierte die arbeitsfähigen Bewohner für Zwangsarbeit und verübte Massaker an der Zivilbevölkerung.
Das Geschehen von Osaritschi im März 1944 gilt dabei als „eines der schwersten Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten überhaupt“, wie Dieter Pohl, Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte, schreibt.[1] Bei diesem Verbrechen sei die „Sicherheitspolizei eher peripher beteiligt“ gewesen, betont Pohl.[2] Er tritt damit den Lügen von der „sauberen Wehrmacht“ entgegen, die bis zu den Hamburger Wehrmachtsausstellungen von 1995 und 2001 gängige Propaganda war und in rechten Kreisen bis heute vertreten wird.
Ab 12. März 1944 trieben Wehrmachtseinheiten der 9. Armee bis zu 50.000 Menschen in ein mit Stacheldraht umzäuntes Sumpfgebiet außerhalb des weißrussischen Dorfs Osaritschi, wo sie drei Lager ohne Unterkünfte oder sanitäre Einrichtungen errichtet hatten. Vor allem Frauen mit Kleinkindern, Alte und Kranke wurden dort ohne Wasser und Nahrung unter freiem Himmel eingepfercht. Sie waren Kälte, Hunger, Seuchen und dem Terror durch Wachsoldaten ausgesetzt.
Es war ihnen verboten, Feuer anzuzünden, um sich zu wärmen, und Ausbruchsversuche wurden mit Granatwerferfeuer beantwortet, berichtet Christoph Rass, Professor für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung an der Universität Osnabrück.[3]
Rass hat seit vielen Jahren zusammen mit Aliaksandr Dalhouski von der belarussischen Geschichtswerkstatt Minsk die Ereignisse vom März 1944 erforscht und 2006 gemeinsam mit Studenten den Film „Osaritschi 1944“ produziert.
Bis zum 19. März, in nur sieben Tagen, starben schon mindestens 9000 Zivilisten – „unnütze Esser“, wie das Oberkommando der 9. Armee dazu erklärte. Bereits bei der Deportation, die in überfüllten Viehwägen, vielfach auch zu Fuß stattfand, wurden mindestens 500 Menschen, darunter Kinder, ermordet, weil sie nicht mehr weiterlaufen konnten. Auch nach der Internierung schossen die Wachmannschaften der 35. Infanterie-Division „oft beim geringsten Anlass oder ganz ohne Grund, auch auf Kinder ..., sogar auf Versuche der Internierten hin, vom Sumpfwasser zu trinken.“
Weitere Tausende starben nach der Befreiung durch die Rote Armee an den Folgen, darunter Typhus und Fleckfieber, die auch sowjetische Soldaten infizierten. Bis zum 31. März sollen laut einer sowjetischen Untersuchungskommission 1526 Typhusfälle bei den Überlebenden aufgetreten sein. Zahlreichen Menschen mussten Hände und Beine amputiert werden. Weißrussische Quellen gehen von insgesamt bis zu 20.000 Toten aus.
„Es gab nur den Boden und um uns herum Stacheldraht“, wird sich die damals sechsjährige Larisa Staschkewitsch Jahre später gegenüber der Esslinger Zeitung erinnern. Die Gefangenen bekamen weder Nahrung noch Wasser, auch Decken gab es nicht, obwohl die Temperaturen nachts auf bis zu minus 15 Grad sanken. „Um uns gegen die heftigen Frühjahrsstürme zu schützen, haben wir uns hinter die Leichen gelegt“, so die Schilderung der überlebenden Larisa, die auf dem akademischen Blog der Universität Osnabrück im Jahr 2014, zum 70. Jahrestag, wiedergegeben wurde.
In einem detaillierten Forschungsbericht „Die Konzentrationslager bei Ozarichi“ zitieren Christoph Rass und René Rohrkamp einen Tagebucheintrag eines deutschen Militärgeistlichen, der zu einem der drei Lager geführt wurde, in dem zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 20.000 Zivilisten interniert waren:
Ich spürte die Veränderung zuerst an einem seltsamen erregenden Geräusch, welches ich nicht näher bestimmen konnte, bis ich in der Ferne das Lager entdeckte. Ein ununterbrochenes leises Wehklagen vieler Stimmen stieg daraus zum Himmel auf. Und dann sah ich, wie man gerade vor mir die Leiche eines alten Mannes abschleppte wie ein Stück Vieh. Man hatte einen Strick um sein Bein gebunden. Eine Greisin lag tot am Wege mit frischer Schusswunde in der Stirn. Ein Posten der Feldgendarmerie belehrte mich weiter. Er wies auf ein paar Bündel im Dreck hin: Tote Kinder, über die er ein Kissen gelegt hatte. Frauen haben ihre Kinder, die sie nicht mehr tragen konnten, am Wege liegen lassen. Auch sie wurden erschossen, wie überhaupt alles „umgelegt“ wird, was wegen Krankheit, Alter und Schwäche nicht mehr weiter kann.[4]
Ziel der Wehrmachtsoperation sei es gewesen, „Seuchenkranke, Krüppel, Greise und Frauen mit mehr als zwei Kindern unter zehn Jahren sowie sonstige Arbeitsunfähige loszuwerden bzw. nicht mehr versorgen zu müssen“.
Es handelte sich um „kalkulierte Morde“, wie auch der an der Universität Bern lehrende Historiker Christian Gerlach in seiner Dissertation an der TU Berlin 1998 schrieb.[5]
Das Oberkommando der 9. Armee („Heeresgruppe Mitte“) hatte sie gezielt geplant und durchgeführt. Die „arbeitsunfähige“ Bevölkerung sollte als „menschlicher Schutzschild“ den Vormarsch der Roten Armee verlangsamen. Vergleichbare Operationen beabsichtigte es überall entlang der Front zu wiederholen, was ihm allerdings nicht mehr gelang.
Im Kriegstagebuch der 9. Armee vom 8. März 1944 heißt es dazu:
Es ist geplant, aus der frontnahen Zone der Armee alle nicht arbeitsfähigen Einheimischen in den aufzugebenden Raum zu bringen und bei der Frontzurücknahme dort zurückzulassen, insbesondere die zahlreichen Fleckfieberkranken, die bisher in besonderen Dörfern untergebracht worden sind, um eine gesundheitliche Gefährdung der Truppe nach Möglichkeit auszuschalten. Der Entschluss, sich von dieser, auch ernährungsmäßig erheblichen Bürde nunmehr auf diese Weise zu befreien, ist vom AOK (Ameeoberkommando) nach genauer Erwägung und Prüfung aller sich daraus ergebender Folgerungen gefasst worden.[6]
Nach Abschluss der Deportation in die Lager wurden die Eingänge mit Minen gesperrt. Die Wehrmachtseinheiten zogen ab und ließen nur einige kleine Wachkommandos zurück. Am 17. März 1944 zogen sich auch diese letzten verbliebenen Wachen auf die neue Hauptfrontlinie der 35. Infanteriedivision zurück, wobei sie die Lager unter Beschuss nahmen, um die Internierten an der Flucht zu hindern. Als die Rote Armee am 19. März die Lager fand und die Minen räumte, konnten sie viele Befreite nicht mehr retten.
Das Kommando der 9. Armee bewertete die Aktion als Erfolg:
Die Erfassungsaktion hat für das gesamte Gefechtsgebiet eine wesentliche Erleichterung gebracht. Die Wohngebiete wurden erheblich aufgelockert und für Truppenunterkünfte frei. Für nutzlose Esser wird keine Verpflegung mehr verbraucht. Durch Abschieben der Seuchenkranken wurden die Infektionsherde bedeutend verringert.[7]
Täter nie belangt
Nach Ende des Kriegs wurden die hauptverantwortlichen Kommandeure der Wehrmacht und der Leiter des beteiligten SS-Sonderkommandos in Deutschland nie belangt. Nur diejenigen, die in sowjetische Gefangenschaft geraten waren, erhielten ihre Strafe, darunter der Befehlshaber der 35. Division, Generalleutnant Johann-Georg Richert, der in Minsk 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.
In „Die Konzentrationslager bei Ozarichi“ heißt es dazu:
Die meisten Täter jedoch, die unmittelbar verantwortlich für die Planung und Ausführung der Deportationen von Ozarichi waren, an erster Stelle Helmut Looss, „Führer“ des Sonderkommandos 7a, Josef Harpe, Oberbefehlshaber der 9. Armee, Friedrich Hoßbach, kommandierender General des LVI. Korps und ebenso Werner Bodenstein, der Oberquartiermeister der 9. Armee, wurden für ihre Verbrechen nie zur Verantwortung gezogen.
Der Oberbefehlshaber der 9. Armee, General Josef Harpe, hatte nach den Verbrechen von Osaritschi den Oberbefehl der berüchtigte 4. Panzerarmee in der Nordukraine übernommen, die bereits beim Überfall auf die Sowjetunion 1941 direkte Aufrufe zum Judenmord in die Tat umsetzte.[8] Mitte April 1945 in US-Kriegsgefangenschaft geraten, wurde er nach drei Jahren 1948 entlassen und lebte unbehelligt in der Bundesrepublik, wo er im Alter von 80 Jahren 1968 in Nürnberg starb.
Friedrich Hoßbach, kommandierender General des LVI. Korps der Infanterie, starb 1980 in Göttingen. Er wurde noch lange in Bundeswehr- und Vertriebenenverbänden für seine „Verdienste“ in der Abwehr der Roten Armee verehrt. Er sei ein „strategisch hervorragend begabter General“, der als zeitweiliger Kommandeur der 4. Armee „einigen 1000 Ost- und Westpreußen ... das Joch der roten Soldateska für eine Weile genommen“ habe und vielen „unvergessen“ sei, so ein Text der Kulturstiftung der Vertriebenen von 1992.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Helmut Looß tauchte 1945 unter dem Namen seiner Mutter, Helmut Gessert, in Bremen unter, wurde Grundschullehrer und kandidierte 1961 für die FDP in der Bundestagswahl. Erst Ende der 60er Jahre wurde er zu den Ereignissen an der Ostfront verhört und als Lehrer beurlaubt. Das Landgericht Bremen setzte jedoch die Verfolgung wegen Verjährung aus. Er starb 1988, ohne dass jemals Anklage gegen ihn erhoben worden war.
Werner Bodenstein, Oberst im Generalstab, wurde nach 1945 sogar an leitender Stelle beim Aufbau der Bundeswehr eingesetzt. Ab 1958 war er als „1. Deutscher Bevollmächtigter NORD“ Kommandeur eines der sechs Wehrbereiche, die ab 1956 aufgestellt wurden, 1960 wurde er zum Brigadegeneral befördert, und 1964 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Er starb 1983 im rheinland-pfälzischen Hirschberg, hochdekoriert und nie für seine Beteiligung am Massenmord Tausender Zivilisten in Osaritschi zur Rechenschaft gezogen.
Zwei Gedenkveranstaltungen
Zum 80. Jahrestag erinnerten zwei Gedenkveranstaltungen an das schreckliche Ereignis, am 15. März im Rathaussaal von Osnabrück und am 19. März im Museum Berlin-Karlshorst, das als „Kapitulationsmuseum“ bekannt ist, weil an diesem Ort in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet wurde. Bei beiden Veranstaltungen sprachen Christoph Rass von der Universität Osnabrück sowie Aliaksandr Dalhouski von der belarussischen Geschichtswerkstatt Minsk, die mit der IBB (Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte) Dortmund zusammenarbeitet.
Doch obwohl die beiden Gedenkveranstaltungen in vielen Medien und Programmzeitschriften angekündigt waren, zuletzt am Tag der Berliner Veranstaltung, dem 19. März, in einem ausführlichen Kalenderblatt-Beitrag des Deutschlandfunks, folgten danach bemerkenswerterweise keine Presseberichte!
Die Tatsache, dass ausgerechnet die Erinnerung an Osaritschi in den Medien übergangen wird, ist vielsagend. Nachdem die deutsche herrschende Klasse seit Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 wieder auf Konfrontation mit Russland setzt, sollen nun die Verbrechen der Wehrmacht ausgeblendet werden.
Tagtäglich trommelt die Regierungskoalition für die Wiederkehr des deutschen Militarismus, für „Kriegstüchtigkeit“ der Bundeswehr und für Waffenlieferungen im Stellvertreterkrieg der Ukraine gegen Russland. Es ist offensichtlich, dass der deutsche Staat dabei wieder an die Wehrmachtstraditionen anknüpft, wie dies der Osnabrücker Erlass von Verteidigungsminister Boris Pistorius deutlich macht.
Das Museum Berlin-Karlshorst, das im vergangenen Jahr den Namen „Deutsch-Russisches Museum“ aufgegeben hat, ist das einzige Museum Deutschlands, das an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erinnert. Der Trägerverein, der nach der Wiedervereinigung 1990 aufgrund einer völkerrechtlich bindenden Vereinbarung zwischen Russland und Deutschland gebildet wurde und auch Belarus und die Ukraine beteiligt, hatte im Katalog zur Dauerausstellung sein Ziel mit den Worten formuliert, es solle „ein Museum gegen den Krieg werden, ein Museum, das am Ort der Kapitulation für den Frieden wirbt“.
Das gilt für die deutschen Eliten jedoch heute nicht mehr. Immer vehementer fordern Vertreter der Regierung das Ende der Zusammenarbeit mit Russland und Belarus, insbesondere die Bundeskulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und die Verteidigungspolitikerin der FDP, Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Sollten sie sich durchsetzen, wäre dies das Ende dieses Museums.
Die Erinnerung an den Massenmord von Osaritschi passt nicht mehr ins heutige Konzept der kriegswütigen Oberschicht und soll daher verschwiegen werden. Doch Fakten sind hartnäckig. Die Mörder von Osaritschi, die ihre Karriere nach 1945 fortsetzten, als sei nichts geschehen, widerlegen das Geschwätz von der „Stunde Null“ und dem angeblichen Neuanfang. Sie machen deutlich, in welch schrecklicher Tradition die Wiederkehr des deutschen Militarismus steht.
Auch die Bilder aus Gaza von sterbenden Frauen, Kindern, alten Menschen, die den Bildern von Osaritschi erschreckend ähnlich sind, lassen Politprominenz und offizielle Medien vor einer Bekanntmachung der Kriegsverbrechen der deutschen Armee zurückschrecken. Ist doch die Ampel-Regierung an dem heutigen Völkermord ganz unmittelbar beteiligt, indem sie das rechtsextreme israelische Regime mit Finanzen, Waffen und Propagandalügen ausstatten!
Umso bedeutsamer ist es für jeden Arbeiter und Jugendlichen hierzulande, sich das Geschehen in Osaritschi vor 80 Jahren genau vor Augen zu führen.
Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. Oldenbourg, München 2008, S. 328.
Dieter Pohl: Die Kooperation zwischen Heer, SS und Polizei in den besetzten sowjetischen Gebieten. In: Christian Hartmann, Johannes Hürter, Ulrike Jureit: Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. München 2005
Christoph Rass, „Menschenmaterial“: Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003, S. 386–402
Christoph Rass und René Rohrkamp, „Die Konzentrationslager bei Ozarichi“, Universität Osnabrück, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften
Christian Gerlach: Kalkulierte Morde: Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, S. 1088 ff.
Bundesarchiv-Militärarchiv BA-MA Freiburg, zitiert nach Hans Heinrich Nolte: Osarici 1944. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 186-194.
Ebd.
Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. München: Oldenbourg 2009, S. 666 f.
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