„Wenn Studierende und Arbeiter sich zusammenschließen, sind sie wohl eine der stärksten Kräfte der Gesellschaft“ – Charlie, Student aus Nijmegen.
Inmitten der unermesslichen menschlichen Tragödie, die sich im Gazastreifen abspielt, haben Studierende und Fakultätsmitglieder der Radboud-Universität Nijmegen am 27. Mai die Arbeit niedergelegt. Die Universität gehört zu den größten der Niederlande.
Hunderte Studierende und auch Dozentinnen und Dozenten nahmen an dem Ausstand teil, trugen palästinensische Flaggen und Schilder und skandierten Slogans wie: „Free Palestine“, „Cut the ties“, „Disclose, boycott, and divest“ und: „From the river to the sea, Palestine will be free“.
Zuvor war es schon an den Universitäten von Amsterdam, Leiden, Utrecht, Groningen, Eindhoven und Maastricht zu Protestcamps und Kundgebungen gekommen. Nun forderten auch in Nijmegen Studierende und Fakultätsangehörige ein sofortiges Ende des Völkermords in Gaza. Sie beschuldigten die Universitätsleitung, durch ihre Verbindungen zu israelischen Einrichtungen und der Rüstungsindustrie direkt an der ethnischen Säuberung der Palästinenser beteiligt zu sein.
Die Mitglieder des Lehrkörpers der Radboud-Universität haben einen offenen Brief verfasst, um die Forderungen der Studierenden zu unterstützen. Der Brief, den mehr als 400 akademische Mitarbeiter unterzeichnet haben, solidarisiert sich politisch mit den Studierenden, die seit dem 13. Mai vor dem Maria-Montessori-Gebäude auf dem Campusgelände ein Protestcamp aufrechterhalten.
Auf der anderen Seite der Barrikade dieses regelrechten Klassenkampfs hat sich die niederländische herrschende Klasse unter dem kommissarischen Premierminister Mark Rutte konsequent auf die Seite des Netanjahu-Regimes gestellt, dessen Kriegsverbrechen gegen die Palästinenser sie als Akt der „Selbstverteidigung“ rechtfertigt. Die Studierenden und Lehrenden der Universität wissen sehr wohl, dass diese Terminologie einer angeblichen „Selbstverteidigung“ bloß ein politischer Blankoscheck für das faschistische Regime in Tel Aviv ist, um die „Endlösung“ der Palästinenser-Frage zu vollziehen.
Im ganzen Land haben schon Zehntausende gegen den Völkermord demonstriert. Sie beschuldigen die niederländische Regierung und ihre Institutionen der Mitverantwortung.
Inzwishen hat sich eine neue Regierungskoalition gebildet, die aus Geert Wilders‘ rechtsextremer Partei für die Freiheit (PVV), Pieter Omtzigts Partei Neuer Gesellschaftsvertrag (NSC), Caroline van der Plas' Bauern–Bürger–Bewegung (BBB) und Mark Ruttes Liberalen (VVD) besteht. Die Koalition steht kurz davor, Dick Schoof zum nächsten Ministerpräsidenten zu ernennen.
Der 67-jährige ehemalige Abgeordnete der niederländischen Sozialdemokraten (PvdA), selbst ein Absolvent der Nijmegen Radboud–Universität, bekleidet derzeit das Amt eines Generalsekretärs im Ministerium für Justiz und Sicherheit. Unter den vorangegangenen Rutte-Regierungen war er schon Chef des Geheimdienstes (AIVD), der Agentur für Terrorismusbekämpfung und Sicherheit (NCTV) und des Amts für Migration und Einbürgerung (IND) gewesen.
Schoof ist dafür berüchtigt, demokratische Rechte mit Füßen zu treten. Seine Ernennung zum nächsten Ministerpräsidenten ist eine ernste Warnung an die Arbeiterklasse und die protestierenden Studierenden. Es ist die Schlussfolgerung aus dem 26-seitigen Koalitionsvertrag mit dem Titel „Hoffnung, Mut, Stolz“.
Die World Socialist Web Site (WSWS) hat darauf hingewiesen, dass die Vereinbarung eine „Kampfansage an die Arbeiterklasse und jede Form sozialer und linker Opposition“ ist. Das Abkommen hat zwei zentrale Ziele: die Einführung des „schärfsten Asylgesetzes aller Zeiten“ und die Errichtung eines Polizeistaates. Die Ereignisse der letzten Wochen haben die Analyse der WSWS bestätigt. Nun befürwortet die niederländische Bourgeoisie die Ernennung eines ehemaligen Geheimdienstchefs an die Spitze ihres neuen Polizeistaats.
Die WSWS sprach mit den Studierenden, führte Interviews auf der Demonstration vom Montag und verteilte einen QR-Code, der auf die Erklärung verweist: „Der Angriff auf Rafah und die ethnische Säuberung von Palästina“.
Charlie, ein Student der Radboud Universität Nijmegen, erklärte:
Unsere Universität unterhält direkte Verbindungen zu israelischen Universitäten; diese sind Teil der zionistischen Ideologie, die auf ethnische Säuberung und Judaisierung ausgerichtet ist. Die Politik der Universität Tel Aviv, die Dahiya-Doktrin, besagt, dass als Vergeltung für die Ermordung israelischer Bürger beispiellose Gewalt gegen palästinensische Zivilisten angewendet werden kann. Dieses Ungleichgewicht, was den Wert der verschiedenen Leben betrifft, hat zu der Situation geführt, in der jetzt im Gazastreifen 40.000 Menschen in einem Genozid der Vergeltung ermordet werden. Wenn wir als Studierende wissen, was unsere Universität tut, wenn wird das live miterleben, müssen wir Verantwortung übernehmen. Wir müssen aufstehen und zusammenhalten.
Seit 76 Jahren unterhalten die Niederlande enge Beziehungen zu Israel. 76 Jahre seit der Nakba sind 76 Jahre Mord, Völkermord und ethnischer Säuberung; es sind auch 76 Jahre niederländischer Komplizenschaft am Völkermord.
Im April beantragte Maikel Boon, ein ehemaliger Gefreiter der holländischen Armee und Abgeordneter der PVV von Geert Wilders, in der Tweede Kamer, dem Unterhaus des niederländischen Parlaments, den Slogan „From the river to the sea“ zu verbieten, weil er „antisemitisch“ sei und als „kriminelle Aufforderung zur Gewalt“ verstanden werde. Am 21. Mai wurde der Antrag mit 74 zu 73 Stimmen angenommen.
Dazu erklärte Charlie:
Wir verwenden den Slogan „From the river to the sea“ nicht im Sinne eines palästinensischen ethno-nationalen Staates. Wir verwenden diesen Begriff und werden dies auch weiterhin tun, weil er für eine bessere Zukunft steht als es ethnische und religiöse Spaltungen und ein ethnisch-nationaler Staat sein können. Nationalismus ist exklusiv und undemokratisch und führt zu ethnischen Säuberungen, wie wir jetzt sehen können.
Wir haben enorme Unterstützung von den Mitarbeitern: Innerhalb von 48 Stunden haben wir über 400 Unterschriften erhalten. Wir haben massive Unterstützung aus der Nijmegener Community. Wir haben erlebt, wie die belgischen Hafenarbeiter Waffenlieferungen nach Israel boykottiert haben. Das hat uns sehr inspiriert und uns Mut gemacht, weil man sehen kann, wie die Arbeiter sagen: „Nein, wir machen da nicht mit.“ Wenn Studierende und Arbeiter sich zusammenschließen, sind sie wohl eine der stärksten Kräfte der Gesellschaft.
Aisha, eine Studentin der Radboud-Universität, die es aus Sicherheitsgründen vorzog, nicht fotografiert zu werden, steht täglich in Kontakt mit einem Freund in Gaza. Sie war sehr emotional und hatte Schwierigkeiten, ihre Gedanken über die schreckliche Situation des palästinensischen Volkes zu formulieren.
Ich habe einen Freund in Gaza und stehe täglich in Kontakt mit ihm. Er sagte mir, ich solle die globale Bewegung weiterführen und die Menschen darüber informieren, was in Palästina vor sich geht. Besonders nach der letzten Nacht, als wir in Rafah verbrannte Babys sahen, Babys ohne Kopf und verbrannte Menschen [... ]
Was in Gaza geschieht, wird jetzt normalisiert. Als wir sahen, wie das erste Krankenhaus bombardiert wurde, waren wir schockiert. Mittlerweile gibt es in Gaza schon gar keine Krankenhäuser mehr. Es wird auch zum Normalfall, dass Babys verbrennen, auch das Verbrennen von Menschen bei lebendigem Leib wird normalisiert [...] Dies alles sollte nicht zum Normalfall werden.
Aisha wies die Behauptung zurück, die Demonstranten seien „antisemitisch“, und fügte hinzu: „Es gibt viele jüdische Menschen, die sich an diesem Protest beteiligen, und viele von ihnen übernehmen auch selbst Führung. Daher ist es empörend, die Proteste als ‚antisemitisch‘ zu bezeichnen.“
Wie ein Sprecher des Streiks erklärte, haben Sicherheitskräfte der Radboud-Universität zwei protestierende Studenten gewaltsam zu Boden gedrückt und ihnen Fesseln angelegt. Die Studenten wurden anschließend der Polizei übergeben. Um Mitternacht drang ein großes Polizeiaufgebot in das Erasmus-Gebäude auf dem Universitätsgelände ein, um die Besetzung des zweiten Stocks durch fünfzig Studierende zu beenden. Die Bereitschaftspolizei durchbrach die Barrikade und zerrte die Studierenden aus dem Gebäude.
In der gleichen Nacht kesselte die Bereitschaftspolizei auf dem Dam-Platz in Amsterdam eine große Gruppe pro-palästinensischer Demonstranten ein, nahm 73 von ihnen fest und klagte sie wegen drakonischer „Straftaten“ an.
Die jüngsten Angriffe auf Proteste gegen Völkermord in den Niederlanden und auf internationaler Ebene verdeutlichen die Verbindung zwischen imperialistischer Außen- und Innenpolitik. Diese dreisten Angriffe untergraben nicht nur grundlegende demokratische Rechte, sondern dienen auch dazu, Krieg, Massenmord und polizeistaatliche Maßnahmen zu rechtfertigen.
Während US-Präsident Joe Biden einen Rekord-Militärhaushalt von über 825 Milliarden Dollar unterzeichnete, um den Krieg der USA/NATO in der Ukraine zu finanzieren, Israel aufzurüsten, den Iran ins Visier zu nehmen und einen Krieg in Ostasien mit China vorzubereiten, arbeitet die niederländische Bourgeoisie ihren eigenen Schlachtplan für einen globalen Krieg aus.
Allein in diesem Jahr wird die Ukraine zusätzliche 400 Millionen Euro an militärischer Unterstützung aus den Niederlanden erhalten, zusätzlich zu den 2 Milliarden Euro, die bereits für 2024 vorgesehen waren. Sieben Monate vor Jahresende hat die Regierung außerdem bereits 1,5 Milliarden Euro für die Ukraine für 2025 zugeteilt.
Zusätzlich zu den Milliarden, die Kiew bereits zugewiesen wurden, wird der Verteidigungshaushalt 2024 voraussichtlich um fast 43 Prozent steigen. Dieser Kriegshaushalt soll jährlich steigen und bis 2030 eine Summe von zunächst 21,4 Milliarden Euro erreichen, was etwa 2 Prozent des niederländischen BIP entspricht. Es wird vorgeschlagen, dies in der Verfassung zu verankern, was die Niederlande in einen immerwährenden Kriegszustand versetzen würde.
Am Mittwoch errichteten Mitarbeiter der Universität Amsterdam (UvA) das erste Camp des Uni-Personals zur Unterstützung der Studierenden. Eine Teilnehmerin ist die assoziierte Professorin Sruti Bala von der Fakultät für Geisteswissenschaften und Theaterwissenschaften. In ihrem weit verbreiteten Instagram-Clip vom Camp des Personals betonte sie: „Das ist kein verrückter Haufen hysterischer Spinner, die zu viel Social Media schauen. Dies ist vielmehr eine Bewegung von Akademikern, die sich als Intellektuelle, als Menschen öffentlich für Themen einsetzen, die in der Gesellschaft von Bedeutung sind.“
Die niederländische herrschende Klasse fürchtet, genau wie ihre internationalen Pendants, vor allem eins: dass die Studierendenproteste die niederländische Arbeiterklasse zu einem Kampf gegen imperialistischen Krieg, Sparmaßnahmen und Ungleichheit inspirieren könnten. Schon in mehreren Städten der Niederlande gewinnt das, was ursprünglich als Studierendenproteste begann, jetzt an Schwung und zieht einen breiteren Teil der Arbeiterklasse in die Antikriegs- und Anti-Genozid-Bewegung mit hinein. Das beginnt bei den Fakultätsmitgliedern der Universitäten und geht bereits auf Arbeitende in den Wohnvierteln über, in denen die Universitätscommunity lebt.
Entwicklungen in dieser Woche deuten darauf hin, dass auch Arbeitende in den Industrievierteln beginnen, sich in unabhängigen Netzwerken zu organisieren. Sie vernetzen sich über die sozialen Medien und bauen enge Verbindungen zu den Universitätscamps auf. Von dort gehen politische Aktivitäten aus, die eine breitere Unterstützung gewinnen können, vor allem in Form von Appellen, die Proteste gegen polizeiliche Übergriffe zu schützen, sowie auch Finanzen und Fachwissen beizusteuern. Nicht zuletzt schaffen sie es, eine unabhängige Medienberichterstattung zu entwickeln, die der offiziellen Medienkampagne gegen die Anti-Genozid-Proteste widerspricht.
Die Studierenden und Arbeitenden in den Niederlanden müssen sich an die internationale Arbeiterklasse wenden und sich auf eine sozialistische Perspektive stützen, um den Kampf gegen Polizeiwillkür im Innern und den imperialistischen Militarismus nach außen, einchließlich dem der Völkermord in Gaza, und gegen seine Ursache, das kapitalistische System, zu führen.