Die Lebenssituation der Kinder der Welt hat sich dramatisch verschlechtert. Dies kann als Resümee zweier Studien des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF gezogen werden.
UNICEF stellt in seinem Jahresbericht "Zur Situation der Kinder in der Welt 2000" fest, dass rund 600 Millionen Mädchen und Jungen in absoluter Armut leben, "während an den internationalen Devisenmärkten täglich 15.000 Milliarden Dollar den Besitzer wechseln". Die Kindheit und Jugend dieser Armen ist geprägt von Mangelernährung, Krankheit und unzureichenden Bildungschancen. In Ländern wie Angola, Niger, Afghanistan, Mali, Malawi oder Somalia stirbt durchschnittlich jedes vierte Kind vor seinem fünften Geburtstag. Weltweit sterben jährlich fast 12 Millionen Kinder unter fünf Jahren (etwa 33.000 täglich) an Hunger und an Krankheiten, die mit medizinischer Behandlung leicht vermeidbar und behandelbar wären.
Rund 250 Millionen Kinder werden laut UNICEF weltweit wirtschaftlich ausgebeutet, müssen unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Über 150 Millionen Kindern wird das Grundrecht auf Bildung verwehrt. Jedes vierte Kind leidet direkt oder indirekt an den Folgen von Kriegen. Zwei Millionen Kinder sind in den letzten zehn Jahren in Kriegen gestorben, weitere sechs Millionen verletzt worden.
Insbesondere in Afrika existiert ein Teufelskreis von Armut und der Immunschwächekrankheit AIDS. Dort starben allein 1998 etwa zwei Millionen Menschen an AIDS. "Wie überall auf der Welt fallen vor allem die armen und unterprivilegierten Menschen [...] AIDS zum Opfer." In fünf Jahren wird die Versorgung der AIDS-Kranken in Kenia 50 Prozent, in Simbabwe sogar 75 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben dieser Länder verschlingen.
Eine zweite Studie der UNICEF, die bereits im November anlässlich des zehnten Jahrestags des Falls der Mauer in Deutschland vorgestellt worden ist, beschreibt die dramatische Verschlechterung der Situation der Kinder und Jugendlichen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Hohe Arbeitslosigkeit und Reallohnverluste um fast 50 Prozent stießen viele Familien in Armut. Da gleichzeitig fast überall die staatlichen Ausgaben für soziale Zwecke gekürzt worden sind, konnten sich Armutskrankheiten wie Diphterie und Tuberkulose erneut ausbreiten. Insgesamt 26 Millionen Menschen verloren nach 1989 ihren Arbeitsplatz. In einem Drittel der 27 Staaten der Region liegt das Bruttosozialprodukt immer noch 40 Prozent unter dem von 1989.
In der Studie "After the Fall" wird folgendes dokumentiert: "Im Zuge der wirtschaftlichen Schocktherapie [...] werden Sozialausgaben für Kinder heute vielfach als ,Luxus' betrachtet. Sinkende Staatsausgaben, der Niedergang der Sozialsysteme und zahlreiche bewaffnete Konflikte treffen vor allem die Kinder. Die acht Staaten der Region zerfielen nach 1989 in heute 27 Länder. In einem Drittel von ihnen kam es zu Kriegen und Bürgerkriegen. Rund acht Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen, zwei Millionen von ihnen sind Kinder." Allein der Bürgerkrieg in Tadschikistan hinterließ 55.000 Waisenkinder.
Wie es um Waisenkinder bestellt ist, zeigt der UNICEF-Bericht auf. Nirgends würden die sozialen Gegensätze in der Region so offensichtlich wie beim Blick auf die Lage der Heimkinder. Schätzungsweise eine Million Kinder können nicht mehr von ihren Eltern versorgt werden und sind daher der staatlichen Obhut überlassen. Ihre Zahl ist seit 1989 trotz sinkender Geburtenrate weiter gestiegen. Nur ein kleiner Teil ist in Pflegefamilien untergebracht. Die meisten leben in Waisenhäusern und Behinderteneinrichtungen, oft ohne angemessene Betreuung und Förderung.
UNICEF macht wachsende Gegensätze sowohl zwischen den einzelnen Ländern der Region, beispielsweise zwischen denen in Mitteleuropa auf der einen Seite und in Süd- und Osteuropa sowie im Kaukasus auf der anderen Seite, als auch in den Ländern selbst aus. In Russland lebten zum Beispiel 1997 zwei Drittel der Familien mit kleinen Kindern in Armut. Dort habe die Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich Ausmaße wie in Lateinamerika angenommen. "Heranwachsende reagieren besonders stark auf die sozialen Spannungen der Umbruchzeit", schreibt UNICEF. So hat sich die Zahl der Selbstmorde bei Jugendlichen in Russland zwischen 1989 und 1997 mehr als verdoppelt; die Zahl der Drogenabhängigen verdreifachte sich; die der Alkoholabhängigen ist sogar siebenmal so hoch wie 1989. Nicht zuletzt der angestiegene Drogenkonsum ist auch für die Ausbreitung von AIDS verantwortlich. Die HIV-Infektionen sind von 30.000 im Jahre 1995 auf 270.000 im Jahre 1998 empor geschnellt.
Auch für die Bildung werden immer weniger Finanzmittel zur Verfügung gestellt. Acht von 15 Ländern, für die Daten vorgelegen haben, kürzten ihre Bildungsausgaben. Russland und Rumänien verkürzten aus Kostengründen die Schulzeit. Im ehemaligen Jugoslawien, in Armenien, Georgien, Kasachstan und Tadschikistan blieben wegen Kriegen und/oder Mangel an Strom und Heizung Schulen monatelang geschlossen. Die Zahl der Kinder, die gar nicht erst zur Schule gehen, ist stark angestiegen. Allein in Russland bleiben 100.000 Kinder im Grundschulalter der Schule fern. Ein Grund sind mit Sicherheit die Kosten der Eltern für den Schulbesuch ihrer Kinder. Sie sind überall gestiegen. In Georgien zum Beispiel kosteten 1997 die Schulbücher für ein Schuljahr das Doppelte des monatlichen Durchschnittseinkommens. "Bildung wird so zu einem Privileg für Bessergestellte."
In der erstgenannten Studie registriert UNICEF: "Um allen Familien den Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung, Schulbildung, sauberem Wasser und Angeboten der Familienplanung zu ermöglichen, wären jährliche Mehrausgaben von 70 bis 80 Milliarden Dollar nötig. Zum Vergleich: Die weltweiten Rüstungsausgaben liegen bei 680 Milliarden pro Jahr." Das Geld, welches nötig ist, um den ärmsten Menschen der Welt ein Überleben zu sichern, könnte übrigens aufgebracht werden, wenn sich die Industrieländer an die Vereinbarungen halten würden, die sie auf jährlichen Konferenzen zum "Schutz der Kinder" regelmäßig und feierlich beschließen, nämlich 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe bereitzustellen. Diese 0,7 Prozent würden 100 Milliarden Dollar ausmachen, "mehr als für eine soziale Grundversorgung der ärmsten Menschen auf der Welt nötig wäre".