Am Dienstag Abend sprach Olivier Besancenot, der Präsidentschaftskandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), vor rund 200 Anhängern in Amiens.
Besancenot spricht rasend schnell, in gehetztem Stakkato und ohne Manuskript. Er bedient sich eines kumpelhaften Umgangstons, würzt seine Bemerkungen mit Witzchen und rhetorischen Fragen und unterstreicht sie durch heftige Gesten mit Händen und Körper - eine pausenlose Agitation, über eine Sunde lang, ohne Zeit zum Luft Holen und Nachdenken.
Und nachgedacht werden sollte auch nicht. Besancenot reflektiert nicht, er agitiert. Er will nicht aufklären und bilden, sondern Stimmungen schüren. Die bitteren Erfahrungen, die die französische Arbeiterklasse in den vergangenen Jahren durchlebt hat, klammert er aus - von internationalen Erfahrungen ganz zu schweigen. Eine Welt außerhalb Frankreichs existiert für ihn nicht, sieht man von vereinzelten lobenden Hinweisen auf Hugo Chavez, Evo Morales und andere bürgerliche Politiker ab, die zur Zeit en vogue sind.
Völlig Tabu bleibt auch die Politik seiner eigenen Organisation. Wie einst der rechte deutsche Nachkriegskanzler Konrad Adenauer frönt Besancenot dem Grundsatz: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern."
Er begann seine Rede mit einem Abgesang auf Präsident Jacques Chirac, der am Tag zuvor seinen endgültigen Verzicht auf eine erneute Kandidatur erklärt hatte. Fünf Jahre lang habe die Rechte die französische Politik bestimmt, klagte Besancenot, und sie wolle dies auch weiterhin tun.
Dass er selbst vor fünf Jahren zur Wahl Chiracs aufgerufen hatte und damit eine Mitverantwortung für dessen Politik trägt, erwähnte er nicht. Die LCR hatte 2002, als Chirac im zweiten Wahlgang gegen den Rechtsaußen Jean Marie Le Pen antrat, die Gefahr einer Machtübernahme durch Le Pen maßlos übertrieben und Chirac als Garant republikanischer Werte und Verteidiger der Demokratie verherrlicht.
Doch Schwamm darüber! Die Erfahrungen der Wahl von 2002 waren Besancenot keine Silbe wert.
Ebenso unerwähnt ließ er die Kommunistische Partei (KPF), die von der LCR jahrelang heftig, aber erfolglos umworben wurde. Seit die französischen Wähler im Frühjahr 2005 die europäische Verfassung abgelehnt hatten, verfolgte die LCR das Ziel, aus dem damaligen Nein-Lager "eine neue antikapitalistische Kraft", "eine Linke, die 100 Prozent links ist" zu formen. Die KPF und die LCR sollten den Kern dieser neuen Formation bilden.
Wie nicht anders zu erwarten, blieb die KPF als verlässliche Stütze der bürgerlichen Ordnung ihrem Bündnis mit der Sozialistischen Partei treu. Ende vergangenen Jahres brach das Projekt einer "antikapitalistischen Linken" kläglich in sich zusammen.
Schwamm darüber! Kein böses Wort über die KPF. Schließlich will man sich die Möglichkeit zukünftiger Manöver mit ihr nicht verderben.
Auch auf näherliegende politische Fragen wie den Irakkrieg und die amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen den Iran ging Besancenot nicht oder nur beiläufig ein. Offenbar sieht er die Außenpolitik in den Händen der französischen Regierung gut aufgehoben.
Und selbst über die Probleme seiner eigenen Kandidatur verlor er kein Wort. Und das, obwohl in wenigen Tagen die Anmeldefrist abläuft und Besancenot die Unterschriften von 500 gewählten Bürgermeistern, die für die Wahlzulassung erforderlich sind, noch nicht erreicht hat.
Wie erklärt sich dieses merkwürdige Schweigen? Könnte es sein, dass es der LCR gelegen käme, wenn sie die nötige Unterschriftenzahl verfehlt? So würde sie Ségolène Royal, der Kandidatin der Sozialistischen Partei, nicht die Stimmen wegnehmen, die diese für den Einzug in die zweite Wahlrunde braucht. 2002 war der sozialistische Kandidat Lionel Jospin in der ersten Wahlrunde nicht zuletzt daran gescheitert, dass zehn Prozent der Wähler für die Kandidaten der radikalen Linken gestimmt hatten. Ein Wahlverzicht zugunsten Royals könnte die LCR vor ihren Anhängern zwar nur schwer rechtfertigen. Dass sie dennoch auf einen Wahlerfolg Royals setzt, steht aber außer Zweifel, nachdem sie vor fünf Jahren sogar Chirac unterstützt hatte.
In seiner Rede beschränkte sich Besancenot darauf, die Übel der kapitalistischen Gesellschaft zu verurteilen und diverse bürgerliche Politiker - Chirac, den liberalen Kandidaten François Bayrou, Royal - anzuklagen.
Er wetterte gegen Spekulanten und gegen die Privatisierung öffentlicher Betriebe. Er berief sich in einem Atemzug auf Papst Benedikt XVI, der die Kapitalisten mit Vampiren verglichen habe, und auf den militanten Bürgerrechtler Malcolm X. Er warf der Regierung vor, sie spalte die Bevölkerung. Er verurteilte die Sozialpartnerschaft und verdammte die Globalisierung als Quelle aller gesellschaftlichen Übel. Er glorifizierte die Massendemonstrationen der vergangenen Jahre und malte das Bild einer besseren Gesellschaft an die Wand.
Er traf damit die Stimmung der Oberflächlichsten unter seinen teilweisen jugendlichen Zuhörern, die am Beginn ihrer politischen Entwicklung stehen und über den Zustand der Gesellschaft wütend und empört sind.
Doch der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft erfordert mehr als nur Wut und Empörung. Er setzt ein Verständnis sozialer und politischer Kräfte voraus. Er erfordert die Kenntnis der historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung und der Lehren daraus. Kurz, er bedarf einer wissenschaftlich begründeten Perspektive, die es der Arbeiterklasse erlaubt, unabhängig von der herrschenden Klasse und ihren zahlreichen Hilfskräften ins politische Geschehen einzugreifen.
Darin besteht die Bedeutung des Marxismus und der trotzkistischen Bewegung, die den Marxismus gegen die Angriffe von Reformisten, Stalinisten und kleinbürgerlichen Radikalen verteidigt und die Lehren aus den großen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts gezogen hat.
Besancenot und die LCR lehnen eine solche Herangehensweise ab. Sie versuchen gezielt, die Arbeiterklasse vom Marxismus und ihrer eigenen Geschichte abzuschneiden. Sie locken radikalisierte Jugendliche an, um sie dann in eine Sackgasse zu führen, die nur in Niederlagen, Enttäuschungen und Frustration enden kann.
Besancenots Agitation mag anfangs erfrischend wirken, nach einer halben Stunde ist sie nur noch abstoßend und eklig. Der mittlerweile 33-jährige Vater eines Kindes und studierte Historiker kann das Image des unverbrauchten, jugendlichen Postboten nur noch mit Mühe aufrecht erhalten. Billige Sprüche ersetzen eine ernsthafte Analyse. Vor den schwerwiegenden Problemen, mit denen die Arbeiterklasse in Frankreich und weltweit konfrontiert ist, verschließt er die Augen.
Die kommende Präsidentschaftswahl ist mit einem deutlichen politischen Rechtsruck verbunden. Als Hauptkandidaten treten eine Sozialistin an, die sich offen zu den Konzeptionen Tony Blairs bekennt, und ein Gaullist, der mit den Auffassungen der Nationalen Front sympathisiert. Die Stimmung der Bevölkerung ist vorwiegend links, doch sie findet keinen politischen Ausdruck, weil die traditionellen Arbeiterorganisationen, einschließlich der Gewerkschaften, scharf nach rechts gegangen sind.
Besancenot verschließt vor diesen Fragen die Augen und versucht seine Anhänger aufzuheitern, indem er die großen Potestbewegungen der vergangenen Jahre beschwört - das Referendum gegen die EU-Verfassung oder die Massendemonstrationen gegen den Ersteinstellungsvertrag CPE.
Aber diese Bewegungen waren in erster Linie politische Erfahrungen. Sie konnten die Rechtsentwicklung der offiziellen Politik nicht aufhalten, haben aber den Bankrott der alten Arbeiterorganisationen einschließlich der Gewerkschaften aufgedeckt, die ihnen in den Rücken gefallen sind.
Von all dem findet sich bei Besancenot kein Wort. Seine Darstellung der politischen Lage ist eine Mischung aus politischem Leichtsinn und gezielter Täuschung. Er vertritt den linken Flügel der bürgerlichen Politik und dient dieser als Feigenblatt. Sein überdrehtes Auftreten dient auch dazu, die eigene Rechtwendung zu überdecken. In Italien und Brasilien sind die Schwesterorganisationen der LCR bereits einen Schritt weiter gegangen und haben Verantwortung in bürgerlichen Koalitionsregierungen übernommen.
Dabei hat die LCR den Zenith ihres Einflusses bereits überschritten. 2002 hatte Besancenot in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl überraschend 1,2 Millionen oder 4,25 Prozent der Stimmen erhalten. Nun sagen ihm Umfragen höchstens noch 3 Prozent voraus, falls er überhaupt zugelassen wird.
Auch die anderen Parteien der sogenannten Linken und extremen Linken erreichen niedrige Werte. Zusammengenommen sind es die niedrigsten Umfrageergebnisse seit vielen Jahren. Meinungsforscher gehen davon aus, dass die Wahl möglicherweise innerhalb des konservativen Lagers, zwischen dem gaullistischen Kandidaten Sarkozy und dem liberalen Bayrou, ausgemacht wird. Das ist das Ergebnis der Enttäuschung über eine "linke" Politik, die außer Phrasen nichts zu bieten hat.
Besancenot ist sich seiner Ablehnung des Marxismus sehr bewusst. Das zeigte sich, als er aus dem Publikum gefragt wurde, weshalb er sich öffentlich vom Trotzkismus distanziert habe. Er sparte sich die Antwort bis zum Schluss der Veranstaltung auf und antwortete dann mit großer Vehemenz.
"Ich habe mich nie als trotzkistischen Aktivisten bezeichnet", antwortete er. Er sei zwar Mitglied einer trotzkistischen Organisation und habe großen Respekt für Trotzki, "aber ich achte ebenso andere Strömungen, wie Libertäre und Syndikalisten." An der russischen Revolution habe er Kritik, weil sie nicht demokratisch war. Er stütze sich ebenso auf andere Revolutionen, wie die spanische oder die kubanische.
Das Beharren auf dem Trotzkismus bezeichnete er als "Sektierertum". Er sei und bleibe "Revolutionär", aber sein Ziel sei es, alle Organisationen zu sammeln, die links der Pluralen Linken stünden, d.h. die nicht unmittelbar mit der Sozialistischen Partei liiert sind.
Das sind keine Fragen der Etikette. Der Trotzkismus, den Besancenot zurückweist und als Sektierertum bezeichnet, ist das Beharren auf dem Marxismus und den historischen Lehren aus der Geschichte der Arbeiterklasse. Trotzki war in dieser Hinsicht unerbittlich. Ohne die Lehren aus den vergangenen Siegen und Niederlagen zu ziehen, beharrte er, ist die Arbeiterklasse dazu verurteilt, immer wieder dieselben bitteren Erfahrungen zu machen.
Seine wichtigste Lehre aus der spanischen Revolution betraf das Versagen der POUM, die ebenso wie heute die LCR die Einheit der Linken höher stellte als den Kampf für marxistische Prinzipien. Auf dem Höhepunkt der Revolution fiel sie den Arbeitern in den Rücken, indem sie in eine Volksfrontregierung eintrat und so ihre Niederlage besiegelte. Die heutige LCR steht allerdings weit rechts von der damaligen POUM. Sie stellt nur noch einen Schatten der bürgerlichen Politik Frankreichs dar.