Der Enron-Kollaps und die Krise des Profitsystems

Der Zusammenbruch des Energiehändlers Enron am 2. Dezember - die größte Firmenpleite in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte - hat eine Reihe zunehmend kritischer Kommentare in der amerikanischen und der internationalen Presse ausgelöst.

Diese Kommentare beschreiben zwar manchmal in recht deutlichen Worten das Ausmaß des Zusammenbruchs und die korrupten und möglicherweise kriminellen Aktivitäten, die eine zentrale Rolle im Funktionieren von Enron gespielt haben; dennoch dienen sie im wesentlichen einem politischen Zweck. Sie sollen die Untersuchung an dem Punkt stoppen, an dem sie eigentlich tiefer gehen müsste.

Die eigentliche Frage, die nicht gestellt, geschweige denn beantwortet wird, ist, welche wirtschaftlichen Triebkräfte eine Situation herbeigeführt haben, in der Korruption und kriminelles Verhalten zu einem zentralen Bestandteil des Wirtschaftslebens geworden sind. Enron war nicht nur der siebtgrößte US-Konzern, es wurde auch als "Marktführer" angesehen.

Der rechte Kommentator der Washington Post, George Will, behauptet in einem Artikel vom 22. Januar in der Australian Financial Review, dass die Probleme, die beim Zusammenbruch von Enron sichtbar wurden, ihre Wurzeln "in den Veränderungen im Anwalts-, Finanz- und Buchprüfungsgewerbe" haben, die in den achtziger Jahren mit einer "Welle der Aggressivität" begannen. "Vertreter aller drei Gewerbe betrachteten sich als 'Macher', als 'Problemlöser', die keine Denkverbote akzeptieren."

Als Ergebnis dieser Mentalität und dem zunehmenden Einsatz von Aktienoptionen, behauptet er, entwickelte sich ein "hyperaggressiver Managementkader, der beständig bestrebt ist, Analysten mit ehrgeizigen Wachstumszielen des Aktienkurses zu beeindrucken. Wenn die Ziele erreicht wurden, dann legten die Analysten die Latte höher, und gelegentlich konnten die immer höheren Erwartungen nicht ohne Finanz- und Buchhaltungspraktiken erfüllt werden, die man nur als Doping bezeichnen kann."

Will folgert, dass der wichtigste Grund für das "riskante Verhalten" von Enron die "wachsende Arroganz der Manager" sei. "Sie vertrauten darauf, dass ihnen niemand über die Schultern sieht und beobachtet - und versteht -, was sie tun."

Alle wichtigen Fragen bleiben hier unbeantwortet, zum Beispiel: Wie kann man sich die Veränderungen bei den Finanzierungs- und Buchhaltungspraktiken in den achtziger Jahren erklären und wie kam es, dass sie derart überhand nahmen? Weshalb die Konzentration auf Aktienwerte und die ständig wachsenden Erwartungen? Und warum wurden Regelwerke aufgegeben, die über Jahrzehnte entwickelt worden waren? Keine dieser Fragen wird auch nur berührt.

In einem Kommentar vom 15. Januar bezeichnet der Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, die Enron-Affäre als "US-Variante des Günstlingskapitalismus" und weist darauf hin, dass "die Sache in Wirklichkeit viel weiter geht" und nicht nur eine Firma betrifft. Drei Tage später wurde er unter dem Titel "Ein korrumpiertes System" noch deutlicher: "Das Enron-Debakel ist nicht nur die Geschichte einer Firma, die scheiterte, es ist die Geschichte eines gescheiterten Systems. Und das System scheiterte nicht aufgrund von Unaufmerksamkeit oder Faulheit, sondern weil es korrumpiert war."

Laut Krugman zeigt die Enron-Affäre, dass die Einrichtungen, die das kapitalistische Wirtschaftsleben regeln - moderne Buchhaltungsvorschriften, unabhängige Prüfer, Anleihe- und Finanzmarktregeln und das Verbot des Insiderhandels - korrumpiert sind. "Die Wahrheit ist, dass zentrale Einrichtungen unseres Wirtschaftssystems korrumpiert sind. Die einzige noch offene Frage ist, wie weit und wie hoch nach oben die Korruption reicht."

Aber trotz seiner Tiraden gegen "das System" bleibt Krugman mit seiner Analyse an dem Punkt stehen, wo sie eigentlich beginnen sollte. Seine Artikel laufen auf Beschreibungen hinaus, die letztlich nichts erklären. Die Korruption von Enron wird mit der Korruption des Systems erklärt, das es eigentlich kontrollieren sollte. Im Ergebnis wird also Korruption durch Korruption erklärt, deren Quelle aber nicht untersucht.

Die ökonomischen Veränderungen der Nachkriegszeit

Die Bedeutung des Zusammenbruchs von Enron kann nur im Rahmen der historischen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, besonders in der Periode nach dem zweiten Weltkrieg, verstanden werden.

Diese Epoche kann man grob in zwei Abschnitte unterteilen. Die Periode von 1945 bis 1973 war von einer Ausdehnung der Kapitalakkumulation, einem Ansteigen der Profite und einem allgemeinen Anwachsen des Lebensstandards in den großen kapitalistischen Ländern gekennzeichnet. In den letzten 25 Jahren, beginnend mit der weltweiten Rezession von 1974-75, waren die Profitraten nur noch etwa halb so hoch wie in der vorangegangenen Periode, der Lebensstandard stagnierte oder sank sogar und die Arbeitslosigkeit war höher.

In beiden Perioden gab es Konjunkturzyklen - Boom, Abschwung, Rezession und Aufschwung -, aber sie hatten deutlich unterschiedliche Charakteristiken. Leo Trotzki sagte einmal, dass der Konjunkturzyklus für den Kapitalismus das sei, was für den Menschen das Atmen. Geatmet wird von der Geburt bis zum Tod, aber die Veränderungen der Atmung lassen Rückschlüsse auf die Gesundheit des Körpers zu.

Ebenso begleiten die Konjunkturzyklen den Kapitalismus seit seiner Entstehung und werden ihn begleiten, solange das System existiert. Wie das Atmen sind sie ein Zeichen des allgemeinen Gesundheitszustands.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet steht die wirtschaftliche Expansion des letzten Jahrzehnts in den USA - der Periode des Aufstiegs von Enron und anderer Firmen der "New Economy" - in deutlichem Gegensatz zu früheren Zyklen. Aufschwung und Boom der neunziger Jahre waren die längste Wachstumsperiode in der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus. Aber insgesamt betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der US-Wirtschaft in diesen Jahren nur 3,1 Prozent. Das war weniger, als in den siebziger Jahren und nur geringfügig mehr, als in den achtziger Jahren - die als ein Zeitraum mit beträchtlichen ökonomischen Problemen angesehen werden - und deutlich weniger als die vier Prozent plus, die die US-Wirtschaft in den 50er und 60er Jahren erzielte.

Der Kontrast wird noch offensichtlicher, wenn wir den Charakter des Wirtschaftslebens der neunziger Jahre mit dem der fünfziger und sechziger Jahre vergleichen. Die letzte Periode, besonders das letzte Jahrzehnt, war aufgrund der Computerisierung von enormen Veränderungen des Produktionsprozesses geprägt, während sich die vorherige Periode durch eine relative Stabilität der Produktionsprozesse auszeichnet. Trotzdem war die Wachstumsrate in der früheren Periode viel höher als im vergangenen Jahrzehnt. Andres ausgedrückt ist heute eine weit umfassendere ökonomische Aktivität erforderlich, um die gleichen Resultate zu erzielen, die "Atmung" des kapitalistischen Systems wird mühsamer.

Das weist auf Veränderungen im Kern des kapitalistischen Produktionsprozesses hin. In diesem System wird nicht produziert, um den gesellschaftlichen Reichtum zu erhöhen oder gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um das Kapital durch die Akkumulation von Profit auszudehnen. Dieser Prozess findet von der Geburt des Kapitalismus bis zu seinem Tod statt. Die entscheidende Frage, die den Gesundheitszustand jeder gegebenen Periode bestimmt, ist, mit welcher Rate diese Akkumulation stattfindet. D.h. letztendlich drückt das "Atmen" der kapitalistischen Wirtschaft, der Konjunkturzyklus, die Rate dieser Akkumulation, bestimmt durch die Profitrate, aus.

In seiner Analyse der kapitalistischen Wirtschaft wies Marx nach, dass der Rate der Kapitalakkumulation, gemessen an der Profitrate, eine fallende Tendenz innewohnt. Diese Tendenz ergibt sich aus der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft. Die einzige Quelle des Profits ist der Mehrwert, der im Verlauf des Produktionsprozesses aus der lebendigen Arbeitskraft extrahiert wird. Der Anteil der Ausgaben für diese Arbeitskraft wird im Vergleich zum Gesamtaufwand für den Produktionsprozess immer kleiner. Dadurch muss ein immer geringerer Anteil an lebendiger Arbeit eine immer größere Masse an Kapital vermehren. Wenn die Rate der Steigerung des Mehrwerts, der aus dieser Arbeit extrahiert wird, nicht mehr mit der Ausdehnung des Kapitals mithält, beginnt die Profirate zu fallen. Dieser Fall der Profitrate setzt andere Prozesse in der kapitalistischen Wirtschaft in Gang, die ihm entgegenwirken sollen - Prozesse, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer deutlicher hervorgetreten sind.

Marx schrieb: "Sinkt die Profitrate, so einerseits Anspannung des Kapitals, damit der einzelne Kapitalist durch bessre Methoden etc. den individuellen Wert seiner einzelnen Waren unter ihren gesellschaftlichen Durchschnittswert herabdrückt und so, bei gegebnem Marktpreis, einen Extraprofit macht; andrerseits Schwindel und allgemeine Begünstigung des Schwindels durch leidenschaftliche Versuche in neuen Produktionsmethoden, neuen Kapitalanlagen, neuen Abenteuern, um irgendeinen Extraprofit zu sichern, der vom allgemeinen Durchschnitt unabhängig ist und sich über ihn erhebt." (Marx: Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 269)

Produktivitätssteigerungen

In seiner ganzen Geschichte hat der Kapitalismus ständig die Arbeitsproduktivität durch neue Produktionsmethoden und den Einsatz neuer Technologien entwickelt. Aber die Steigerung der Arbeitsproduktivität hat eine widersprüchliche Wirkung auf die Profitrate. Insoweit die Steigerung der Arbeitsproduktivität die Arbeit aus dem Produktionsprozess verdrängt, sinkt tendenziell die Masse des Profits und die Profitrate gerät unter Druck. Insoweit die gesteigerte Arbeitsproduktivität aber die Auspressung von Mehrwert aus den im Produktionsprozess verbleibenden Arbeitern steigert, tendiert sie dazu, die Masse des Mehrwerts zu steigern und die Kapitalakkumulation auszudehnen.

Das bedeutet, dass eine Steigerung der Arbeitsproduktivität in der ganzen Wirtschaft zu einer Erhöhung der Profitrate führt, insoweit die letztere Tendenz die erstere überwiegt. Wenn das der Fall ist, dann erfährt die kapitalistische Wirtschaft eine Ausdehnung und das "Atmen" wird leichter.

Das war ganz sicher in den drei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg der Fall. Das enorme Anwachsen der Arbeitsproduktivität durch die Verbreitung der Fließbandproduktion in allen wichtigen kapitalistischen Ländern führte zu einem Steigen der Profitrate und einer allgemeinen Ausdehnung der Akkumulation. Seit Mitte der siebziger Jahre begannen die Profite aber zu sinken.

In den letzten 25 Jahren hat das Kapital so reagiert, wie Marx es beschrieben hat. Einerseits unternahm es verzweifelte Anstrengungen, die Arbeitsproduktivität zu steigern, andererseits nahmen Versuche zu, die fallenden Profite durch spekulative Finanzoperationen auszugleichen.

Es ist nicht zu leugnen, dass technologische Neuerungen zu einer enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität geführt haben. US Steel beschäftigte z.B. 1980 120.000 Menschen. Zehn Jahre später war die Beschäftigtenzahl auf 20.000 gefallen, der Ausstoß war aber nur geringfügig niedriger. In den achtziger Jahren wurden in der Stahlregion von Sheffield Zehntausende Arbeitsplätze vernichtet. Aber die Produktion ist in dieser Region so hoch wie je. Im gleichen Jahrzehnt verringerte General Electric die Zahl seiner Beschäftigten um 40 Prozent, seine Verkäufe verdreifachten sich aber.

Auch aus anderen Industrien könnten viele Beispiele angeführt werden, die zeigen, dass es eine erhebliche Steigerung der Arbeitsproduktivität gegeben hat. Aber es ist auch klar, dass dieser Produktivitätsanstieg die Profitrate kaum, wenn überhaupt, erhöht hat.

Dem US-Ökonomen Fred Moseley zufolge fiel die Profitrate von 22 Prozent Ende der vierziger Jahre auf 12 Prozent Mitte der siebziger Jahre - ein Rückgang von fast 50 Prozent. Umfangreiche Veränderungen in der US-Wirtschaft in den nächsten zwei Jahrzehnten - dazu gehörte auch das Absenken der Reallöhne - haben wieder zu einem Ansteigen geführt. Aber trotz dieser Anstrengungen hatte sich die Profitrate Mitte der neunziger Jahre nur von 12 Prozent auf 16 Prozent erhöht. D.h., sie hatte nur 40 Prozent ihrer Verluste wieder wettgemacht und lag immer noch ein Drittel unter ihrem Höchststand.

Es gibt noch viele ökonomische Prozesse, die in allen Bereichen der Industrie zu dem andauernden Druck auf die Profitraten beitragen: die Überkapazitäten in vielen Schlüsselindustrien, der scharfe Wettbewerb in allen Wirtschaftszweigen und die Milliarden-Dollar-Fusionen der jüngsten Vergangenheit, mit denen Konzerne versuchen, Kosten zu senken und den Wettbewerb auszuschalten.

Das Scheitern der Bemühungen, den Druck auf die Profitraten auf der Produktionsseite zu überwinden, hat immer häufiger zu Versuchen geführt, ihm mit Mitteln der Finanzmärkte beizukommen. Dem britischen Ökonomen Harry Shutt zufolge stammt seit Beginn der achtziger Jahre ein zunehmender Anteil der Gewinne aus Kapitalgewinnen (einer Steigerung des Marktwerts von Finanzanlagen) statt aus dem laufenden Geschäft. Er schätzt, dass in der Zeit seit 1979 etwa 75 Prozent aller Gewinne in Großbritannien und den USA aus dieser Quelle stammen, gegenüber unter 50 Prozent in der Periode von 1900 bis 1979.

"Das weist eindeutig darauf hin," schlussfolgert er, "dass die Wertsteigerung mehr von dem zunehmenden Zufluss von Mitteln in den Markt und von der Spekulation, dass die Preise weiter steigen werden, getrieben wurde,... als von tatsächlich von den Wertpapieren erarbeiteten Gewinnen." ("The Trouble with Capitalism", Harry Shutt, S.124)

Finanzkontrollen beseitigt

Das weist auf einen wesentlichen Zug der politischen Ökonomie der jüngsten Zeit hin. Wenn Profite zunehmend die Form von Gewinnen aus Finanztransaktionen annehmen, dann müssen immer mehr Mittel in den Markt strömen, um sie zu stützen - eine regelrechte "Mauer von Geld". Der Kauf von Finanzanlagen (zum Beispiel Aktien) zu Preisen, die kurz vorher noch als "irrational" abgetan worden wären, macht nur Sinn, wenn weiteres Geld in den Markt strömt, die Preise noch höher treibt und so einen Kapitalgewinn beschert.

Dieses Bedürfnis nach zusätzlichem Geldzufluss ist einer der Gründe, warum im vergangenen Jahrzehnt vorhandene Regelungssysteme abgeschafft wurden - die Abschaffung des Glass-Steagall-Gesetzes 1999 in den USA, das es den Banken verbot, sich in Investitionen und Handelsaktivitäten zu engagieren, ist da ein Beispiel - und für die Feindschaft gegen die Einführung neuer Kontrollmechanismen. Die Opposition gegen Regulierungen liegt in der Tatsache begründet, dass sie letztlich als Bremsen für den Zufluss frischen Kapitals wirken, der aber nötig ist, um die Finanzmärkte flüssig zu halten.

Der Bedarf der Finanzmärkte an zusätzlichem Kapital ist eine der Triebkräfte für die Veränderungen des Rentensystems in den USA und in anderen Ländern. Im Wesentlichen geht es darum, die Rentenfonds direkt an die Finanzmärkte zu binden. Als Folge sind die Arbeiter dem Risiko ausgesetzt, ihre gesamten Ersparnisse und zukünftigen Einkünfte über Nacht zu verlieren, wie dies bei Enron geschehen ist.

Das Ausmaß dieser Veränderungen wird von Zahlen beleuchtet, die die OECD - die Gruppe der 30 wichtigsten Industrieländer - zusammengestellt hat. Sie fand heraus, dass der Wert des Finanzvermögens institutioneller Anleger in den Mitgliedsstaaten (d.h. von Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften) von 1990 bis 1995 um 9.800 Milliarden Dollar angestiegen ist - ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 10 Prozent des BSP. (A.a.O., S.110-111)

Viele der Illusionen in die sogenannte "New Economy" wurden durch diesen wachsenden Kapitalfluss in den neunziger Jahren genährt - Illusionen, die von der Funktionsweise des Kapitals selbst erzeugt werden.

Eine der Quellen der Mystifikation im kapitalistischen System besteht darin, dass vom Standpunkt des Markts alle Teile des Kapitals gleich erscheinen. Es sieht so aus, als würde eine gewisse Menge Geld in ihrer Eigenschaft als Geld Profit erzeugen.

Aber es gibt zwischen den verschiedenen Formen des Kapitals große Unterschiede. Finanzkapital wirft zwar einen Ertrag ab, ist aber nicht selbst produktives Kapital, das an der Gewinnung von Mehrwert aus der Arbeiterklasse beteiligt ist. Es ist nur Eigentumstitel, d.h. Anspruch auf von anderen Teilen des Kapitals gewonnenen Mehrwert. Es ist daher für Konzerne zwar durchaus möglich dem Druck auf die Profitrate durch Aktivitäten auf den Finanzmärkten entgegenzuwirken, aber dem sind unumstößliche Grenzen durch die Tatsache gesetzt, dass letztendlich die Quelle aller Formen von Kapitalerträgen der aus der Arbeiterklasse extrahierte Mehrwert ist.

Das Anrennen gegen diese Grenzen hat wichtige Veränderungen in der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft zur Folge.

Gezwungen, sich auf die Finanzmärkte zu orientieren, werden alle Sektionen des Kapitals zunehmend abhängig von ihrer Fähigkeit, neues Geld anzuziehen. Keynes hat die Finanzmärkte einmal mit einem Schönheitswettbewerb verglichen. Bei so einem Wettbewerb müssen die Teilnehmer sich schön anziehen, ihre Makel überdecken und alles vor den Preisrichtern verbergen, was einen schlechten Eindruck macht.

So ähnlich ist es auch in den Finanzmärkten. Aber anders als bei einem Schönheitswettbewerb, einem einmaligen Ereignis, ist die Beurteilung durch die Märkte ein nie endender Prozess. Im Kampf um Anlagekapital kann jede schlechte Nachricht ein Desaster auslösen, da sie den Börsenwert drückt. Unter Bedingungen, wo jeder Konzern nicht nur Profit machen, sondern "die Erwartungen des Marktes" übertreffen muss, wird der Druck unerträglich hoch, die reale Situation zu verschleiern.

Deshalb werden unangenehme Nachrichten, wie etwa größere Schulden, nach dem Beispiel von Enron vertuscht, in der Kostenrechnung müssen Verkäufe und Profite aufgebläht und schlechte Neuigkeiten "weggerechnet" werden. Betriebsrenten und Abfindungen der Mitarbeiter müssen einbezogen werden, um fallende Börsenkurse zu vermeiden. Betrug und Fälschung nehmen chronische Ausmaße an.

Im NBC-Programm "Meet the Press" vom letzten Sonntag erklärte Joseph Berardino, der Chef der großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen, die Enron überwacht hatte, welches Ausmaß diese Methoden angenommen hatten. "Meines Wissens haben wir nichts Illegales gefunden." Mit anderen Worten, die Finanzierungs- und Buchführungspraktiken bei Enron wurden als normal betrachtet.

In den kommenden Wochen und Monaten wird es zunehmend Rufe nach Kontrollen, Regulierung und schärferen Buchprüfungsmethoden geben, damit so etwas wie Enron niemals wieder passiert... so wie schon bei früheren finanziellen Desastern.

Ein Kommentar im Magazin Newsweek vom 28. Januar gibt den Ton vor: "Der Schlüssel zur Enron-Katastrophe", heißt es da, "ist, dass der Gesellschaft erlaubt wurde, jahrelang irreführende Informationen über ihre Finanzlage in die Welt zu posaunen. Diese verfälschten Zahlen, die immer hübsch steigende Profite zeigten, ermöglichten es Enron, zum siebtgrößten Unternehmen des Landes aufzusteigen, mit 100 Mrd. Dollar Einnahmen im Jahr. Als dann im Oktober die richtigen Zahlen herauskamen, dank des Drucks der Aktionäre, der Kreditgeber und der SEC, war Enron in sechs Wochen bankrott. Ergo: Wir müssen die Regeln ändern, um den Konzernen tödliche Angst vor unehrlichen Zahlen zu machen, und wir müssen den Wirtschaftsprüfern tödliche Angst machen, ihnen ein falsches Zeugnis auszustellen. Alles andere ist nur Fassade."

Solche Kommentare zielen einerseits darauf ab, den Ärger der Öffentlichkeit zu besänftigen und gleichzeitig eine gründlichere Untersuchung des Zusammenbruchs zu verhindern. Das Enron-Debakel war nicht das Ergebnis falscher Buchprüfungsmethoden, sondern in den Veränderungen der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft selbst tief verwurzelt.

Kenneth Lay und die anderen Enron-Vorstände haben nicht von vornherein geplant, ein korruptes und womöglich sogar kriminelles Unternehmen aufzubauen. Es waren vielmehr die gesamten wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sie arbeiteten, und denen die tiefe Krise des Profitsystems zugrunde lag, die sie zu immer dubioseren Praktiken trieb. Darüber hinaus waren die Änderungen bei den Buchprüfungsmethoden, die Absenkung der Prüfungsstandards, die Entwicklung von Interessenkonflikten usw., die dem Management von Enron den Weg ebneten, allesamt selbst Ausfluss dieser Bedingungen. Die Prüfungsgesellschaften, die für Bewertung und Finanzaufsicht zuständig sind, sind nicht weniger dem Druck der Märkte ausgesetzt als ihre Klienten.

Die Rufe nach mehr Kontrollen bleiben im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft und des Profitsystems, sie treffen deshalb nicht den wesentlichen Punkt. Das Enron-Debakel, durch das die soziale Existenz von Tausenden Menschen vernichtet wurde, ist ein Symptom, nicht die Krankheit selbst.

Es ist das Ergebnis einer Krise der gesamten kapitalistischen Wirtschaft. Die Unterordnung der Produktion von Reichtum unter die Prämissen privater Profiterzielung - die Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft - hat nun ein Stadium des Verfalls erreicht, wo Täuschung und Betrug zur normalen Funktionsweise geworden sind.

Wirkliche Kontrolle kann es nicht geben, wenn nur Prüfungsnormen und -verfahren verschärft werden. Die Prüfungsgesellschaften sind nämlich selbst große Unternehmen und das Prüfungssystem selbst beruht auf eben dem System des Privateigentums und privaten Profits, das der Krise zugrunde liegt. Wirkliche Kontrolle kann auch nicht von einer Beamtenkaste ausgeübt werden. Es kann sie nur dann geben, wenn die Gesellschaft insgesamt und ihre Mitglieder, die Produzenten allen Reichtums, demokratisch festlegen, wie dieser verwendet und entwickelt wird. Eine solche Gesellschaftsordnung setzt voraus, dass die Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum überführt werden. Das ist die zentrale Lehre aus dem Zusammenbruch von Enron.

Siehe auch:
Enron: Das wahre Gesicht der "New Economy"
(20. Dezember 2001)
George W. Bush und der Enron-Skandal
( 22. Januar 2002)
Enron und die Bush-Regierung: Brüder im Geiste bei Betrug und kriminellen Machenschaften
( 31. Januar 2002)
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