Der vierwöchige Streik in der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen, Brandenburg und Berlin um die Einführung der 35-Stunden-Woche hat eine beispiellose Welle der Entrüstung ausgelöst. Im Gleichklang denunzieren täglich Spitzenvertreter der Wirtschaft, der Medien und der Politik diesen Streik als ein Werk von "Wahnsinnigen" (Der Spiegel).
Den etwa 10.000 streikenden Metallarbeitern wird unverhohlen mit Massenentlassungen gedroht: geplante Investitionen und Arbeitsplätze in Ostdeutschland seien gefährdet. Der BMW-Vorstand kündigte an, er wolle seine Entscheidung, in Leipzig ein neues Werk zu bauen, überdenken.
Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) wirft der IG Metall vor, sie hinterlasse mit ihrem Arbeitskampf eine "blutige Spur" von wachsender Arbeitslosigkeit. Das sagt Dohnanyi, der in den 90er Jahren als Berater der Treuhandanstalt mitgeholfen hat, die ostdeutsche Industrie "abzuwickeln". In der Zeit fragt die Hamburger Rechtsanwältin Gisela Wild: "Was gibt den Gewerkschaften solche Macht?" und fordert: "Es ist höchste Zeit, ein Tabu zu brechen: Das Streikrecht muss beschnitten werden."
Dabei fordert die IG-Metall nichts weiter, als gleiche Arbeitszeiten in Ost und West. Auch 13 Jahre nach der Wiedervereinigung arbeiten die Beschäftigten der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie immer noch mindestens 38 Stunden die Woche - also drei Stunden mehr als ihre Kollegen im Westen. Auf das Jahr gerechnet bedeutet das einen ganzen Monat unbezahlte Mehrarbeit, während im Westen, oft in den gleichen Konzernen - wie bei VW, BMW oder DaimlerChrysler - die 35-Stunden-Woche schon seit Jahren gilt. Dazu kommt noch, dass die Effektiv-Einkommen im Osten immer noch nur 70 Prozent des Westniveaus betragen. Für Beschäftigte im Osten bedeutet das: länger arbeiten für weniger Geld.
Selten zuvor ist in diesem Land ein regulärer Streik derart angefeindet und so unter politischen Beschuss genommen worden. Ein immer und immer wieder vorgebrachtes Argument mit dem diese außergewöhnliche Hetze begründet wird, lautet: eine Arbeitszeitverkürzung auf Westniveau könne sich der Osten nicht leisten, dadurch würde der ostdeutsche Wettbewerbsvorteil zunichte gemacht.
Die Fakten sprechen allerdings eine andere Sprache: Die meist hochmodernen Produktionsstätten - vor allem in der Auto- und ihrer Zulieferindustrie -, die von westdeutschen Konzernen nach der Wende im Osten mit großzügigen staatlichen Subventionen errichtet wurden, erreichen oft eine höhere Produktivität als vergleichbare Betriebe im Westen. Die Lohnstückkosten-Ost liegen bei nur 94 Prozent des Westniveaus. Dazu kommt, dass diese Konzerne dank der rot-grünen Steuerreform praktisch von allen Steuern befreit wurden.
Es ist unübersehbar: Die wüsten Angriffe auf den Metallerstreik sind Bestandteil der gegenwärtigen politischen Bestrebungen, alle sozialen Rechte der Bevölkerung in Frage zu stellen. Mit der Agenda 2010 hat die Bundesregierung den umfassendsten Sozialabbau eingeleitet, den je eine Regierung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrieben hat. Während Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner und Kranke drastische Kürzungen hinnehmen müssen und an Kindergärten, Schulen und Universitäten immer größere Beträge eingespart werden, zieht die Regierung eine Steuerreform vor und beschenkt die Reichen.
Begründet wird diese Politik, die seit langem von den Wirtschaftsverbänden gefordert wird, mit der Behauptung, es handle sich um "Erfordernisse aus globalen wirtschaftlichen Sachzwängen". Wer sich diesen widersetze, sei verantwortlich für weiteren Wirtschaftsrückgang und steigende Arbeitslosigkeit. Alle Parteien, die in der Vergangenheit irgendwie mit einer Politik des sozialen Ausgleichs in Verbindung gebracht wurden, haben sich diese Argumentation der Wirtschaftsverbände zu eigen gemacht.
Deshalb reagierte das ganze politische Establishment auf den Streik der Metallarbeiter in Ostdeutschland wie von der Tarantel gestochen. Dass es jemand wagt, der bizarren Logik entgegenzutreten, laut der die gesellschaftlichen Probleme gelöst werden, indem die Unternehmer immer weniger Steuern zahlen und die Reichen immer reicher werden, und dass jemand mehr Gleichheit fordert - selbst wenn die Forderung nur auf die Arbeitszeit beschränkt ist -, wird als Provokation empfunden. Derartigen Forderungen soll ein Riegel vorgeschoben werden, und zwar mit allen Mitteln.
Angesichts streikender Arbeiter gerät der konservative Berliner Tagesspiegel völlig aus der Fassung und versucht verzweifelt, die Realität auszublenden: "Es gibt sie nicht mehr, die Arbeiterklasse, es gibt ihn nicht mehr den Klassenkampf," behauptet der Kommentator und versucht seinen Lesern klar zu machen, dass die Forderung nach mehr Gleichheit in eine völlig falsche Richtung führt. "Ausgerechnet bei einem Streik, der mit dem Kampfruf Gleichheit!’ geführt wird, gelingt es der IG Metall nicht, sich als selbstbewusste und kampfbereite Einheitsgewerkschaft zu präsentieren."
Derselbe Tagesspiegel hatte vor einer Woche zum 50. Jahrestag des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 eine Extraausgabe herausbracht. Darin wurden die Bauarbeiter der Stalinallee und die DDR-Stahlwerker aus Hennigsdorf, die gegen Normenerhöhungen kämpften, als Helden gefeiert, die sich der "kommunistischen Diktatur" widersetzten. Wenn es der antikommunistischen Propaganda dient, werden Arbeitskämpfe gelobt. Doch wehe wenn heute Arbeiter es wagen, für mehr soziale Gleichheit zu streiken, dann werden sie als undemokratische Minderheit beschimpft, die nur ihren eigenen Vorteil verfolge und die Wirtschaft ruiniere.
Die demagogische Hetze kennt keine Grenzen. Hier nur noch einige Kostproben von Dutzenden ähnlichen Stimmen.
BDA-Präsident Dieter Hundt wetterte: "Ein Streik wie in Brandenburg und Sachsen, wo nur acht Prozent der Arbeitnehmer für einen Arbeitskampf gestimmt haben, muss gesetzlich untersagt werden. Es kann nicht sein, dass eine Minderheit ganze Wirtschaftszweige lahm legt".
Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) behauptete: "Das ist ein Angriff auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft." Lothar Späth, Schattenwirtschaftsminister der CDU, prophezeite: "Da haben wir jahrelang für den Standort gekämpft, und dann dieser Blödsinn. Wenn der Osten kaputt geht, geht ganz Deutschland kaputt."
Der Wirtschaftsexperte der CDU Friedrich Merz fragte: "Wo bleibt die demokratische Legitimation?" Und CDU-Chefin Angela Merkel machte in der ihr eigenen plumpen Art deutlich, worum es geht: Sie forderte den Osten nicht an den Westen anzupassen, sondern umgekehrt.
Der Streik wird vermutlich in den nächsten Tagen zu Ende gehen, weil die IG-Metall - von der Medienkampagne sichtbar eingeschüchtert - eine schnelle Einigung anstrebt und buchstäblich zu jedem Kompromiss bereit ist.
Die prinzipielle Verteidigung des Arbeitskampfs und die Unterstützung der berechtigten Forderung nach Einführung der 35-Stundenwoche im Osten hat nichts mit einer Unterstützung der Streikführung und zuständigen Gewerkschaft zu tun. Ganz im Gegenteil! Die IG Metall hat diesen Streik in einer Art und Weise durchgeführt, die zeigt, dass sie nicht bereit ist, einen konsequenten Kampf zur Verteidigung der Arbeiter zu führen. Von den 284.000 Mitgliedern im Osten wurden nur etwa 10.000 in den Arbeitskampf einbezogen. Die Metaller im Westen wurden nicht mobilisiert, der Streik nicht ausgeweitet.
Seit der Wiedervereinigung waren die Gewerkschaften nie daran interessiert, gleiche Arbeits- und Lohnbedingungen für die Arbeiter in Ostdeutschland zu erkämpfen. Sämtliche Entlassungen, Betriebsschließungen und Lohnsenkungen, die in den vergangenen Jahren in Ost- und Westdeutschland stattgefunden haben, tragen die Unterschrift der Gewerkschaften. Es gibt auch keine Kürzung im sozialen Bereich - ob Hartz-Plan, Rentenreform oder Agenda 2010 - die letztendlich nicht von den Gewerkschaften mitgetragen wurde.
Was die Gewerkschaftsbürokratie ab und an beunruhigt und zu vereinzelten Protesten veranlasst, ist ihre Sorge, dass ein zu schneller und zu heftiger Sozialabbau unkontrollierte soziale Aufstände hervorrufen könnte. Daher versichern sie der Schröder-Regierung und den Wirtschaftverbänden permanent, man sei ja für die "Reformen" - aber bitte etwas langsamer, denn nur so könne der "soziale Frieden" aufrechterhalten werden.
Angesichts der schnellen Verschärfung der sozialen Krise im Osten - mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von zwanzig Prozent und immer mehr Billiglohnarbeitern aus Polen, Tschechien und anderen osteuropäischen Ländern - stand die IG Metall unter starkem Druck aus den Betrieben. Selbst weit über die Hälfte der Nichtmitglieder in der Metallindustrie haben sich in Umfragen für eine baldig Angleichung der Arbeitszeiten ausgesprochen. Viele Nicht-Gewerkschaftsmitglieder beteiligen sich am Streik und bekommen keine Streikunterstützung.
IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, der einen besonders engen Draht zu Kanzler Schröder pflegt, hatte sich im Vorfeld für die Beibehaltung der 38-Stunden-Woche ausgesprochen und war gegen den Streik. Um den Konflikt rasch beenden zu können, hat Zwickel nun sehr weitreichende Zugeständnisse angeboten. Die drei Stunden, die im Osten wöchentlich länger gearbeitet werden, sollen für die Qualifizierung der Beschäftigten verwendet werden. In der ostdeutschen Stahlindustrie hatte die IG Metall nach einigen Streiktagen einen Abschluss unterschrieben, der die Einführung der 35-Stunden-Woche bis zum Jahre 2009 vorsieht.
Unter keinen Umständen will die Gewerkschaft eine breite Mobilisierung gegen die Schröder-Regierung und die Agenda 2010. Sie tut alles, um die Konflikte auf Einzelfragen zu reduzieren, und die gewerkschaftlichen Solidaritätserklärungen dienen vorwiegend dazu, die Tatsache zu verbergen, dass jeder Arbeitskampf isoliert und mit einem faulen Kompromiss beendet wird.
So arbeiten die Gewerkschaften in die Hände der Rechten. Denn das hysterische Geschrei gegen die Forderung nach gleicher Arbeitszeit in Ost und West ist vor allem ein Ergebnis davon, dass in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten jeder ernsthafte und konsequente Kampf der Arbeiter von Seiten der Gewerkschaften unterdrückt und sabotiert wurde, was die politische Elite zur Auffassung brachte, sie könne schalten und walten wie sie wolle.