Der "rot-rote" Berliner Senat hat bei den Angriffen auf die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst eine bundesweite Vorreiterrolle übernommen. Die Aggressivität und Arroganz, mit der die Koalition aus SPD und PDS dabei vorgeht, stellt die unsoziale Politik des vorangegangenen CDU-SPD-Senats unter Eberhard Diepgen weit in den Schatten. Mit dem Austritt aus den öffentlichen Arbeitgeberverbänden und einem Vorstoß im Bundesrat, der auf Öffnungsklauseln bei der Beamtenbesoldung abzielt, hat Berlin ein bundesweites Signal für massive Gehaltssenkungen und verschlechterte Arbeitsbedingungen im Öffentlichen Dienst gegeben.
Das Land Berlin hatte bereits im Vorfeld der jüngsten bundesweiten Tarifauseinandersetzungen seinen Austritt aus den kommunalen Arbeitgeberverbänden für Arbeiter und Angestellte zum 31. Januar angekündigt. Am vergangenen Mittwoch, unmittelbar nach Bekannt werden des vereinbarten Tarifabschlusses, zog der Senat den Austritt um drei Wochen vor, um die ausgehandelte minimale Lohnerhöhung nicht zahlen zu müssen.
Innensenator Körting (SPD), der Berlin als Arbeitgeber vertritt, begründete dies ungeschminkt mit dem Vorhaben, den Beschäftigten eine Nullrunde zu diktieren. Dabei legt er es auf einen Streik an. Dies, so ließ er zynisch durch seine Sprecherin verbreiten, sei immer noch besser als eine Tariferhöhung. Er lasse sich nicht von den Gewerkschaften "erpressen". Wer wen erpresst, ist für jedermann augenfällig: Mit allen Druckmitteln versucht der Senat, den früher auch von der SPD hoch gehaltenen Flächentarifvertrag aufzubrechen und untertarifliche Löhne durchzusetzen.
Der Austritt aus den Arbeitgeberverbänden betrifft zwar zunächst nur die Arbeiter und Angestellten des Landes und der Bezirke; aber die anderen öffentlichen Betriebe, die teilweise über Stiftungen betrieben werden oder Unternehmen öffentlichen Rechts sind, werden unter Druck gesetzt, ebenfalls auszutreten bzw. - wie im Fall der Verkehrsbetriebe BVG oder der Müllabfuhr BSR - anderweitig massive Einsparungen zu erbringen.
Am Freitag traten auch die vier Berliner Universitäten und drei von vier Fachhochschulen aus den kommunalen Arbeitgeberverbänden aus. Wie Sprecher der Hochschulen erklärten, habe zuvor der Senat massiven Druck ausgeübt und gedroht, er werde andernfalls die Landeszuschüsse streichen. Dieselbe Drohung wurde den Berichten nach gegenüber der Stiftung Stadtmuseum und dem Lette-Verein ausgesprochen.
Ende dieser Woche sollen gesonderte Verhandlungen mit den Berliner Gewerkschaften beginnen. Die Gewerkschaft Ver.di will mit der Forderung nach Übernahme des Bundestarifabschlusses in die Verhandlungen gehen, Innensenator Körting dagegen mit den Arbeitgebervorschlägen zum Solidarpakt - das heißt: Nullrunde, Kürzung von Weihnachts- und Urlaubsgeld in den höheren Lohngruppen sowie eine Arbeitszeitverkürzung von 38,5 (West) bzw. 40 (Ost) auf 37 Stunden bei Gehaltsverzicht. Ein Sprecher von Ver.di kommentierte, es gebe "kaum Spielraum für Verhandlungen".
Die Verhandlungen über einen Solidarpakt waren im letzten November gescheitert, nachdem Ver.di eine Nullrunde und zwangsweise Arbeitszeitverkürzung verbunden mit Lohnsenkung abgelehnt hatte. Die Gewerkschaft schlug stattdessen vermehrte freiwillige Teilzeitarbeit bei zusätzlichen Anreizen vor. Weitergehende Zugeständnisse an den Senat waren an dem massiven Widerstand der Basis, der sich auch in Delegiertentreffen widerspiegelte, gescheitert.
Protestaktionen
Zu Beginn der Spitzengespräche zum Solidarpakt im vergangenen Sommer hatte es bereits zahlreiche Protestaktionen gegeben. Zehntausende Lehrer, Schüler und Eltern demonstrierten im Juni vor dem Haupteingang der Berliner Bankgesellschaft am Alexanderplatz und machten darauf aufmerksam, dass die Milliardensummen, die im Haushalt fehlen, in die Bankgesellschaft geflossen sind. Über zehntausend städtische Beschäftigte versammelten sich gleichzeitig zur größten Personalversammlung der Nachkriegszeit, um gegen die Pläne von Entlassungen und Gehaltskürzungen zu protestieren. Auch nach der Sommerpause kam es fast täglich zu Protesten.
Doch der Senat verfolgte seinen Sparkurs unbeirrt weiter und erhielt einmütige Unterstützung von nahezu allen SPD- und PDS-Abgeordneten sowie von Teilen der Grünen- und CDU-Opposition. Insbesondere die PDS, die zu Beginn der Amtszeit der Koalition ihr Paradepferd Gregor Gysi als Wirtschaftsenator ins Rennen geschickt hatte, zeichnete sich durch sklavische Unterordnung unter alle Sparbeschlüsse aus.
Der Senat begründet sein Vorgehen mit den "leeren Kassen". Er verweist auf das jährliche "strukturelle Defizit" von 2,3 Milliarden Euro und die hohe Gesamtverschuldung von 46 Milliarden Euro, die sich täglich etwa um 10 Millionen erhöht. Am 5. November erklärte das Land Berlin die Haushaltsnotlage, um Bundeshilfen von 50 Mrd. Euro einzuklagen. Ähnlich wie bei Hilfspaketen des Internationalen Währungsfonds für hoch verschuldete Länder ist dies mit der Auflage verbunden, dass Berlin "bis zur Schmerzgrenze sparen muss", so Senatsgutachter Joachim Wieland.
Bereits jetzt liegt ein umfangreiches Sparpaket vor: 300 Millionen Euro sollen allein bei den Personalausgaben bis Ende 2003 gestrichen werden, darunter 30 Millionen bei den Kitas, wo der Personalmangel bereits heute zu teilweise chaotischen und gefährlichen Zuständen führt. Zehntausende Stellen sollen gestrichen, Auszubildende im Öffentlichen Dienst nicht mehr übernommen werden.
Am härtesten treffen die Haushaltskürzungen die Ärmsten der Stadt, die Sozialhilfeempfänger, deren zusätzliche Hilfen für Mietkautionen, Kleidung, Heizung usw. größtenteils weggefallen sind. Die Bezirke, die die Gelder für die Sozialhilfe auszahlen müssen, erhielten derart wenig vom Senat, dass beispielsweise der Bezirk Neukölln mit über 300.000 Einwohnern und rund 40.000 Sozialhilfebedürftigen Anfang November zeitweilig das Sozialamt schließen ließ und einige Leistungen stoppte.
Auf welch rabiate Weise der Senat vorgeht, um seine Haushaltskürzungen durchzusetzen, erfuhren Ende September sieben von zwölf Bezirksbürgermeistern, die es gewagt hatten, in der Bezirksverwaltung 50 Auszubildende als Beamte auf Probe einzustellen. Sie erhielten daraufhin nicht nur einen wütenden Brief von Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD), sondern dieser kürzte ihnen gleich auch noch ihre Personalbudgets um die entsprechenden Summen.
Die Rolle der PDS, die einige Bezirke im Osten regiert, ist dabei bemerkenswert. Sie bemüht sich nicht etwa, die SPD von ihren unsozialen Kürzungen abzubringen, wie sie ihren Anhängern im Wahlkampf versprochen hatte, sondern betätigt sich als Musterknabe im Sparkurs. So präsentierte der PDS-regierte Bezirk Marzahn/Hellersdorf als erster Berliner Bezirk im Oktober ein Konzept zur Konsolidierung des Haushalts, genannt "privates Facility-Management".
PDS-Bezirksbürgermeister Uwe Klett erklärte stolz, das Ziel sei, "durch eine neue Herangehensweise die Ausgaben drastisch zu senken". Die "neue Herangehensweise" besteht im altbekannten Rezept der Privatisierung, das in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung ausgiebig angewandt wurde und zu einem drastischen Abbau von Arbeitsplätzen geführt hat. Klett möchte mit der Überführung aller öffentlichen Kindertagesstätten in einen Freien Träger, der selbständig wirtschaftet, sowie privates Management unter anderem im Schulbereich 300 Arbeitsplätze des Öffentlichen Diensts einsparen. Selbst in den eigenen Reihen führten Kletts Pläne zu einigem Unmut.
Eine Entscheidung des Senats in eigener Sache heizte die Empörung in der Bevölkerung zusätzlich an: Die geplante Diätenerhöhung für Abgeordnete um 1,65 Prozent soll trotz Sparpaket nicht gestoppt werden, stattdessen wurde aber das Kleidergeld für Senatoren gestrichen, eine Einsparung von gerade 200.000 Euro.
Nun erfuhr die erstaunte Bevölkerung, was sich Senatoren, Bürgermeister und andere Spitzenbeamte bisher so alles genehmigt hatten, während von Kita-Erziehern, Krankenschwestern, Lehrern und anderen Angestellten im Öffentlichen Dienst ein Opfer nach dem nächsten abverlangt wurde. So erhielt beispielsweise der Regierende Bürgermeister zu seinem ohnehin nicht geringen Gehalt von über 12.000 Euro noch 380 Euro monatlich extra für die Neuanschaffung von Anzügen, Krawatten oder sonstiger Kleidung.
Ursachen der Finanzmisere
Die Finanz- und Wirtschaftslage Berlins ist tatsächlich kritisch. Die Hauptstadt ist von wachsender Armut und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Im Dezember stieg die Arbeitslosigkeit von 17,1 auf 17,9 Prozent. 290.000 Menschen sind ohne Arbeit - der höchster Stand seit dem Fall der Mauer. Nur jeder vierte von einst 400.000 Arbeitsplätzen in der Industrie ist übriggeblieben. Die Westberliner Unternehmen wanderten teilweise ins Umland ab, als die Bundessubventionen gestrichen wurden. Neue Schließungen sind bereits angekündigt, wie von Nestle, der einst größten Schokoladenfabrik weltweit. Die Ostberliner Kombinate brachen nach der Währungsunion zusammen oder wurden von der Treuhand abgewickelt.
Doch dies ist nicht der einzige Grund für die Finanzmisere. Hinzu kommt der drastische Einbruch bei den Steuereinnahmen, der alle Kommunen betrifft und auf die jahrelangen Steuergeschenke an Unternehmen und Vermögende zurückzuführen ist, sowie der sprichwörtliche Berliner Sumpf, in dem sich SPD- und CDU-Spitzenbeamten seit Jahrzehnten bereichert haben.
Synonym steht dafür der Bankrott der Berliner Bankgesellschaft. Als die Bundessubventionen an Berlin nach der Wiedervereinigung eingestellt wurden, versuchte der Senat über die Gründung der landeseigenen Berliner Bankgesellschaft neue Einnahmequellen zu erschließen. Doch der Einstieg ins riskante Immobiliengeschäft im Osten, an dem sich Bankvorstände und prominente CDU- und SPD-Politiker privat eine goldene Nase verdienten, endete in einer Katastrophe, und Mitte 2001 musste die Bankgesellschaft ihre Überschuldung mit 4 Mrd. Euro offenbaren.
Die Bankkrise führte zum Rücktritt des Diepgen-Senats und zu Neuwahlen. Die neugewählte SPD-PDS-Koalition verpflichtete sich jedoch, für sämtliche Risiken - vergangene wie künftige - der Bankgesellschaft zu bürgen und dafür einen Teil des Haushalts bereitzustellen. Soweit zur Vorgeschichte der "leeren Kasse", für die die Bevölkerung Opfer bringen soll.
Nach dem Scheitern der Solidarpaktgespräche hatte der Regierende SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit, der lieber auf Partys der Berliner Schickeria als in Personalversammlungen auftritt, die Arbeiter des Öffentlichen Diensts des Egoismus bezichtigt und einseitige Maßnahmen angekündigt.
Als erstes attackierte er die Beamten und beantragte im Bundesrat eine Öffnungsklausel für die Beamtenbesoldung, um Kürzungen von rund 10 Prozent durchführen zu können. Außerdem beschloss der Senat eine Arbeitszeitverlängerung für Beamte von 40 auf 42 Stunden, die vergangenen Dienstag in Kraft trat - ein bundesweiter Spitzenwert.
Berlins Vorstoß im Bundesrat wird von Sachsen, Schleswig-Holstein und dem Saarland mitgetragen. Im März soll eine entsprechende Initiative beschlossen werden. Man geht allgemein davon aus, dass sie eine Mehrheit finden wird. Danach können die Länder jeweils selbst über die Beamtenbesoldung sowie Weihnachts- und Urlaubsgeld entscheiden.
Auch der Austritt Berlins aus den Arbeitgeberverbänden wird von anderen Bundesländern mit Wohlwollen gesehen. Selbst Länder, die keine Haushaltsnotlage haben, bereiten sich auf denselben Schritt vor - unter anderem sämtliche ostdeutschen Länder; hinter den Kulissen gibt es schon Überlegungen, eine eigene Tarifgemeinschaft Niedriglöhne-Ost zu gründen. Wenn sie noch zögern, ihren sofortigen Austritt zu verkünden, so ist dies vor allem eine Vorsichtsmaßnahme: Erst einmal soll abgewartet werden, ob es dem Berliner Senat wirklich gelingt, einen möglichen Streik niederzuschlagen und eine Nullrunde oder zumindest einen deutlichen niedrigeren Abschluss durchzusetzen.
Die Politik von SPD und PDS in Berlin wird damit zur Brechstange, um bundesweit Niedriglöhne durchzusetzen.
Ver.di hat inzwischen in Berlin die Urabstimmung beantragt, und auch unter den Beamten gibt es Streikstimmung. Falls es zum Streik kommt, droht der Innensenator mit Strafen wie Abmahnungen, Gehaltskürzungen und Entlassungen. Körting will es auf eine Entscheidungsschlacht ankommen lassen und rechnet offensichtlich damit, dass Ver.di den Kampf ausverkaufen wird, wie es die ÖTV 1992 bundesweit tat.
Damals missachtete die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Matthies eine mehrheitliche Ablehnung des Tarifabschlusses durch die Delegierten und setzte diesen gegen den Willen der Mitglieder durch. Er beinhaltete eine längerfristige Tarifspaltung der Arbeiter in Ost und West und eine Absage an weitere Arbeitszeitverkürzungen. Seitdem haben die frühere ÖTV und jetzige Ver.di in Berlin sämtliche Sparmaßnahmen mitgetragen.
Bei einem kommenden Streik werden die Arbeiter an zwei Fronten kämpfen müssen - gegen eine rot-rote Regierung, die vor keinem Mittel zurückschrecken wird, um einen Streik niederzuschlagen, und gegen die eigene Gewerkschaftsbürokratie, die seit 1992 noch weiter nach rechts gegangen ist und bereitwillig in der Vergangenheit erkämpfte Zugeständnisse aufgibt.