Nachdem Berlin in den vergangenen Wochen bereits durch den öffentlichen Hilferuf einiger Lehrer der Rütli-Hauptschule und den rechtsradikalen Überfall auf einen Abgeordneten der Linkspartei.PDS in die Medien geraten war, wirft nun der Amoklauf eines Jugendlichen erneut ein Schlaglicht auf den gesellschaftlichen Niedergang in der deutschen Hauptstadt.
Am Abend des 26. Mai hatte der 16-jährige Mike P. auf dem Heimweg von der Einweihungsfeier des Berliner Hauptbahnhofs mit einem Klappmesser wahllos über 30 Menschen niedergestochen. Der Berliner Polizeivizepräsident Neubeck sprach von Messerstichen "in den Rücken und in den Gesäßbereich, aber auch in den Brustbereich".
24 Opfer mussten ins Krankenhaus gebracht werden, davon 15 zur stationären Versorgung. Sechs Personen erlitten lebensgefährliche Verletzungen und mussten sich einer Notoperation unterziehen. Inzwischen besteht bei keinem der Verletzten mehr akute Lebensgefahr. Weil eines der ersten Opfer mit HIV infiziert ist, besteht die Gefahr einer Infektion für alle Opfer, die mit dem Blut in Berührung gekommen sind. Eine Übertragung des Virus’ lässt sich jedoch erst nach mehreren Wochen durch Tests eindeutig nachweisen.
Laut Polizeiangaben wurde Mike P. nur wenige Minuten später von privaten Sicherheitskräften überwältigt, nachdem er einer Frau grundlos in den Bauch geboxt hatte. Der mutmaßliche Täter sei zu diesem Zeitpunkt stark betrunken gewesen und habe gegen seine Festnahme heftigen Widerstand geleistet. Er habe die Tatwaffe bei sich getragen und sei von mehreren Zeugen als Täter identifiziert worden. Im Verhör bestritt Mike P. hingegen die Tat und sagte, er könne sich kaum an etwas erinnern, weil er betrunken gewesen sei.
Gegen den 16-Jährigen wurde umgehend Haftbefehl erlassen. Ihm werden versuchter Mord in 24 Fällen und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Der Berliner Polizeivizepräsident erklärte allerdings: "Es spricht überhaupt nichts dafür, dass es sich um eine geplante Tat handelt."
Welche Ereignisse den Amoklauf von Mike P. unmittelbar auslösten, ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Bekannt ist bisher nur, dass Mike P. und seine Freundin zusammen mit einem Freund der Eröffnungsfeier des Hauptbahnhofs beiwohnen wollten. Nach Aussage des Freundes war Mike P. an diesem Abend "normal drauf" und "nicht aggressiv". Im Laufe des Abends hätten die drei "neue Leute kennen gelernt", mit denen sie dann eine ganze Weile zusammen gewesen seien. Dabei habe sich Mike P. immer wieder mit einem bestimmten Mann von der Gruppe entfernt.
Irgendwann sei dieser Mann schließlich allein zurückgekommen. Wie der Freund von Mike P. der Berliner Morgenpost berichtete, habe der Mann stark aus der Nase geblutet und ihm erzählt, dass er von Mike mit dem Ellenbogen ins Gesicht geschlagen und anschließend seines Handys beraubt worden wäre. Dann sei Mike P. verschwunden.
"Eigentlich ein ganz netter Junge"
Das bisherige Leben von Mike P. unterschied sich nicht gravierend von Millionen anderen. Er ist mit seinen sechs Geschwistern in Berlin-Lichterfelde aufgewachsen. Als sich seine Eltern vor zwei Jahren trennten, zog er zusammen mit seinem Vater und einem Bruder in eine Mietwohnung im Bezirk Neukölln. Die Hauptschule in Steglitz musste er der Berliner Morgenpost zufolge "wegen Unstimmigkeiten" verlassen. Seinen letzten Job in einem Call-Center habe der Jugendliche gekündigt, weil er sich über "Unregelmäßigkeiten bei der Bezahlung" geärgert habe.
Der ältere Bruder beschreibt den 16-Jährigen in einem Fernsehinterview als liebenswürdigen und einfühlsamen Menschen. Er schreibe Gedichte für seine Freundin, sei lieb zu seinen Neffen und zu seinen kleinen Geschwistern. Nach Aussage einer Cousine im Tagesspiegel war er ein "eigentlich ganz netter Junge". Wenn seine vier Geschwister regelmäßig zu Besuch nach Neukölln gekommen seien, habe er sich immer "total lieb um sie gekümmert" und sei mit ihnen auf den Spielplatz gegangen.
Allerdings habe ihr Cousin auch oft zu Hause vor dem Computer abgehangen, viele Gewalt-Computerspiele gespielt und auch oft die Schule geschwänzt. "Er war in einer Null-Bock-Stimmung und hat sich Sorgen gemacht, ob er einen Job bekommt", erklärt die Cousine dem Tagesspiegel. Der Polizei war er bereits bekannt, weil er einmal einen Mitschüler geschlagen und ein anderes Mal eine Fensterscheibe seiner Schule eingeworfen hatte.
Nachbarn beschreiben Mike P. laut der Bild am Sonntag als leicht aufbrausend. Er habe oft einen Schlagring getragen und ein Butterfly-Messer dabei gehabt. Zudem soll er häufig Marihuana geraucht haben. Als die Polizei das Zimmer des Jugendlichen durchsuchte, wurden allerdings keine Waffen gefunden.
Niedergang der Gesellschaft
Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) bemühte sich sofort, den Amoklauf als eine irrationale Tat eines Einzelnen darzustellen, die man weder erklären noch verhindern könne: "Es handelte sich hier um ein singuläres Ereignis. Eine solche Tat wird man leider nie ausschließen können."
In den gleichen Chor stimmte der Bürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky (SPD) ein: "Ich warne davor, jetzt wieder die Verhältnisse in Neukölln für die Tat verantwortlich zu machen." Bei 300.000 Einwohnern des Bezirks könne auch schon einmal ein "unter Alkoholeinfluss stehender Irrer" darunter sein, so Buschkowsky.
Doch solche "singulären Ereignisse" finden in den letzten Jahren immer häufiger statt. Im April 2002 hat der 19-jährige Robert Steinhäuser 17 Menschen an seiner ehemaligen Schule und anschließend sich selbst erschossen. Im Februar desselben Jahres tötete ein 22-Jähriger den Direktor einer Berufsschule und verletzte einen Lehrer schwer, bevor er sich selbst erschoss. Zwei Jahre zuvor erschoss ein 16-jähriger Schüler den Schulleiter eines Realschulinternats in Bayern. Anschließend schoss er sich selbst in den Kopf. Im Herbst 1999 drang ein 15 Jahre alter Gymnasiast in ein Klassenzimmer ein und erstach vor den Augen seiner Mitschüler eine 44-jährige Lehrerin. Nur drei Wochen später wurden in Bayern drei Jugendliche festgenommen, nachdem sie Mordpläne gegen ihre Schulleiterin und eine Lehrerin geschmiedet hatten.
Dabei beeilten sich Politiker und Medienkommentatoren immer, diese Taten als unerklärliche Einzeltaten von Geisteskranken und Psychopathen hinzustellen. Doch diese voreiligen und selbstgefälligen Einschätzungen dienen nur dazu, jedes ernsthafte Nachdenken über die tiefer liegenden gesellschaftlichen Ursachen derartiger Gewaltausbrüche zu verhindern.
Wie ist es zu erklären, dass ein Jugendlicher von 16 Jahren derart aggressiv und brutal auf andere Menschen losgeht, um ihnen soviel Schaden und Leid zuzuführen wie möglich? Welches Maß an Verzweiflung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit ist nötig, um einen solchen Schritt zu tun? Wie krank ist eine Gesellschaft, die in ihrer jungen Generation derartige Wut, Lebensverdruss und zerstörerische Energie erzeugt?
Zu diesen Fragen schweigen Körting & Co., um von ihrer eigenen politischen und sozialen Verantwortung abzulenken. Denn der Amoklauf von Berlin ist vor allem eine Anklage gegen eine Elite, die mit ihrer rücksichtlosen Politik zur Bereicherung der Reichen eine tiefe gesellschaftliche Krise geschaffen hat.
Immer größere Teile der Bevölkerung sind von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Wer Arbeit hat, muss immer größeren Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen sowie die ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ertragen. Kunst und Kultur sind längst zu Luxusartikeln geworden, und immer weniger Menschen haben Zugang dazu. Bereits während der Schulzeit wird vielen Menschen klar, dass die Arbeitswelt nur Rückschläge und Unsicherheit für sie bereithält.
Dieses gesellschaftliche Klima von Frustration und Perspektivlosigkeit erzeugt die Rahmenbedingungen dafür, dass sich bei Individuen wie Mike P. Gewaltbereitschaft und Aggressivität entwickeln. Dabei ist es nicht einfach nur ein Zufall, dass der Amoklauf ausgerechnet in Berlin stattgefunden hat. Die Hauptstadt spielt in vielerlei Hinsicht eine bundesweite Vorreiterrolle bei der Verschärfung der sozialen Spannungen.
Insbesondere die Politik der Regierungskoalition aus SPD und Linkspartei.PDS hat in den vergangenen Jahren in Berlin eine soziale Katastrophe angerichtet. Nach nur vier Jahren rot-roter Koalition leben heute über 500.000 Menschen unter der offiziellen Armutsgrenze, und die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Berlin liegt bei über 18 Prozent. Gerade Neukölln ist dabei einer der Bezirke, in denen sich die Armut konzentriert. Beinahe jeder dritte Einwohner verfügt hier über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ende Dezember 2004 wies Neukölln mit 15,8 Prozent die höchste Quote an Sozialhilfeempfängern in der Hauptstadt auf.
Gleichzeitig spielt vor allem die Linkspartei eine wichtige Rolle dabei, die in der Bevölkerung weit verbreitete Opposition gegen die soziale Krise nicht zu einer progressiven gesellschaftlichen Bewegung werden zu lassen. Bei all ihren linken Sonntagsreden fürchtet diese Partei nichts so sehr wie eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse. Ihre feige Anpassung an das kapitalistische System und ihr ständiges Gerede von sozialen Reformen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse, das tagtäglich durch die Entscheidungen einer globalisierten Wirtschaft widerlegt wird, stoßen viele Jugendliche ab. Damit trägt gerade diese Partei einen großen Teil der Verantwortung dafür, dass sich die wachsende Opposition in der Gesellschaft nicht selten in reaktionären Formen ausdrückt.
Noch hat die Wut und Aggression in Kreuzberg, Neuköln und anderen Gebieten nicht Formen wie in den Vororten von Paris angenommen, doch die wachsende soziale Spannung ist mit Händen zu greifen. In einer Situation, in der sich alle Parteien zusammenschließen, um eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerung durchzusetzen, und dadurch einen verheerenden Niedergang der Gesellschaft bewirken, besteht die dringendste Aufgabe darin, eine Partei aufzubauen, die eine revolutionäre sozialistische Perspektive vertritt und einen Ausweg aus der sozialen und kulturellen Krise aufzeigt.