Eine revolutionäre Situation entsteht
Es gibt kaum ein anderes historisches Ereignis, das so viel öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat, wie der vierzigste Jahrestag der Bewegung von 1968. In den letzten Wochen sind allein in Deutschland Hunderte von Artikeln, Interviews, Dokumentationen und Fernsehfilme über die Studentenproteste und Arbeitskämpfe dieses Jahres erschienen - weit mehr als an früheren Jahrestagen.
Woher diese Aufmerksamkeit?
Die Antwort hat weniger mit der Vergangenheit, als mit der Gegenwart und der Zukunft zu tun. 1968 war nicht nur eine "Studentenrevolte", die neben den USA, Deutschland und Frankreich auch Italien, Japan, Mexiko und zahlreiche andere Länder erschütterte. Es war der Auftakt zur größten Offensive der internationalen Arbeiterklasse seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese Offensive dauerte sieben Jahre, nahm teilweise revolutionäre Ausmaße an, zwang Regierungen zum Rücktritt, brachte Diktaturen zu Fall und stellte die bürgerliche Herrschaft insgesamt in Frage.
Am deutlichsten war dies in Frankreich, wo im Mai 1968 zehn Millionen Arbeiter in den Generalstreik traten, die Fabriken besetzten und das Regime von General de Gaulle an den Rand drängten. In Deutschland kam es 1969 zu den Septemberstreiks, in Italien zum "heißen Herbst". In den USA gab es die Bürgerrechtsbewegung und Aufstände in den Ghettos. In Polen und der Tschechoslowakei (dem Prager Frühling) rebellierten Arbeiter gegen die stalinistische Diktatur. In den 70er Jahren fielen die rechten Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal. Die US-Armee verlor den Vietnamkrieg.
Hintergrund war die erste tiefe Krise der kapitalistischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. 1966 erschütterte eine Rezession die Weltwirtschaft. 1971 kündigte die amerikanische Regierung die Gold-Bindung des Dollars auf und entzog damit dem Weltwährungssystem von Bretton Woods den Boden, das die Grundlage des Nachkriegsbooms gebildet hatte. 1973 sank die Weltwirtschaft in eine noch tiefere Rezession.
Die Welle von Protesten, Streiks und Aufständen blieb nicht ohne Ergebnis. Löhne und Arbeitsbedingungen verbesserten sich zum Teil erheblich. Auch im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich hinterließ die 68er Bewegung ihre Spuren. Der Mief und die stickige Atmosphäre der 50er und 60er Jahre wurden überwunden, die Rechte von Frauen und Minderheiten erheblich erweitert, die Universitäten ausgebaut und für breitere Schichten geöffnet. Doch die kapitalistischen Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse blieben intakt. Die Bourgeoisie musste zwar politische und soziale Zugeständnisse machen, doch sie behielt die Macht.
Ende der siebziger Jahre begann die Gegenoffensive. In England gelangte Margaret Thatcher, in den USA Ronald Reagan und in Deutschland Helmut Kohl an die Macht. Die sozialen Zugeständnisse wurden zurückgenommen, die Angriffe auf die Arbeiterklasse verschärft.
Heute stehen die Zeichen wieder auf Sturm. Die sozialen Gegensätze sind tiefer denn je zuvor. Millionen sind arbeitslos oder arbeiten in prekären Verhältnissen. In Osteuropa und Asien wird ein riesiges Heer von Arbeitern zu Hungerlöhnen ausgebeutet. Die jüngste Finanzkrise lässt einen Kollaps des internationalen Bankensystems immer wahrscheinlicher werden. Die Spannungen zwischen den Großmächten wachsen, und imperialistische Kriege stehen - wie im Irak - wieder auf der Tagesordnung. Neue Konflikte und Klassenkämpfe werden die unausweichliche Folge sein.
Das ist der Hauptgrund für das Interesse, das die Ereignisse von 1968 heute finden. Sie könnten sich in anderer Form wiederholen. Die herrschende Klasse versucht, sich darauf vorzubereiten, und auch Arbeiter und Jugendliche müssen die Lehren aus 1968 ziehen und sich vorbereiten.
Diese Artikelserie konzentriert sich auf die Ereignisse in Frankreich. Hier brachen die Klassengegensätze im Mai mit Urgewalt an die Oberfläche und widerlegten schlagartig die Behauptung der Neuen Linken, die Arbeiterklasse sei mittels Konsum und Medienmanipulation in die kapitalistische Herrschaft integriert worden. Was im Januar als relativ harmlose Auseinandersetzung zwischen Studenten und Regierung begann, mündete innerhalb weniger Wochen in eine revolutionäre Situation. Das Land war gelähmt, die Regierung ohnmächtig, die Gewerkschaften hatten die Kontrolle verloren. Die Arbeiter hätten Ende Mai nicht nur Präsident de Gaulle und seine Regierung zum Rücktritt zwingen, sondern das kapitalistische System stürzen und selbst die Macht übernehmen können. Das hätte den politischen Ereignissen in ganz Europa - West und Ost - eine völlig andere Richtung gegeben.
Es scheiterte am Boykott der Kommunistischen Partei und der von ihr kontrollierten Gewerkschaft CGT, die sich strikt weigerten, die Macht zu übernehmen, und ihren gesamten Einfluss einsetzten, um die Bewegung abzuwürgen. Rückendeckung erhielten sie dabei vom pablistischen Vereinigten Sekretariat Ernest Mandels und seinen französischen Ablegern - dem Parti communiste internationaliste Pierre Franks und der Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR) Alain Krivines. Die Pablisten hatten die marxistische Tradition der trotzkistischen Bewegung seit 15 Jahren systematisch angegriffen und desorientierten die revoltierenden Studenten, indem sie ihnen Che Guevara und anarchistische Aktionen als Vorbild hinstellten und sich weigerten, der Kommunistischen Partei wirkungsvoll entgegenzutreten.
Der erste Teil dieser Serie befasst sich mit der Entwicklung der Studentenrevolte und des Generalstreiks bis zu ihrem Höhepunkt Ende Mai. Der zweite Teil untersucht, wie die Kommunistische Partei und die CGT de Gaulle halfen, die Kontrolle zurück zu gewinnen. Der dritte Teil wird sich mit der Rolle der Pablisten auseinandersetzen, der vierte mit der Organisation communiste internationaliste (OCI) Pierre Lamberts. Sie gehörte 1968 noch dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale an, verfolgte aber bereits einen zentristischen Kurs und schwenkte kurz danach ins Fahrwasser der Sozialistischen Partei Mitterrands ein.
Frankreich vor 1968
Das Frankreich der 1960er Jahre ist von einem tiefen Widerspruch geprägt. Das politische Regime ist autoritär und zutiefst reaktionär. Es findet seine Verkörperung in der Person General de Gaulles, der aus einer anderen Epoche zu stammen scheint und die Verfassung der Fünften Republik ganz auf seine Person zugeschnitten hat. De Gaulle ist 68 Jahre alt, als er 1958 zum Präsidenten gewählt wird, und 78, als er 1969 zurücktritt. Doch unter dem verknöcherten Regime des alten Generals vollzieht sich eine rasante wirtschaftliche Modernisierung, die die soziale Zusammensetzung der französischen Gesellschaft gründlich verändert.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren große Teile Frankreichs noch ländlich geprägt. 37 Prozent der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. In den folgenden zwanzig Jahren verlassen zwei Drittel der Bauern das Land und ziehen in die Städte, wo sie - zusammen mit immigrierten Arbeitern - die Arbeiterklasse um eine junge, militante und von der Gewerkschaftsbürokratie nur schwer zu kontrollierende Schicht erweitern.
Insbesondere nach dem Ende des Algerienkriegs im Jahr 1962 setzt ein starkes wirtschaftliches Wachstum ein. Der Verlust der Kolonien zwingt die französische Bourgeoisie, sich wirtschaftlich verstärkt auf Europa zu konzentrieren. Schon 1957 unterzeichnet Frankreich die Römischen Verträge, das Gründungsdokument der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Vorgängerin der Europäischen Union. Die wirtschaftliche Integration Europas begünstigt den Aufbau neuer Industriezweige, die den Niedergang des Kohlebergbaus und anderer alten Industrien mehr als wettmachen. Im Auto-, Flugzeug-, Waffen-, Raumfahrt- und Nuklearbereich entstehen mit staatlicher Unterstützung neue Konzerne und Fabriken. Sie stehen oftmals außerhalb der alten Industriezentren und zählen 1968 zu den Hochburgen des Generalstreiks.
Typisch in dieser Hinsicht ist die Stadt Caen in der Normandie. Die Zahl ihrer Einwohner steigt zwischen 1954 und 1968 von 90.000 auf 150.000, von denen die Hälfte jünger als dreißig Jahre sind. Unter anderem beschäftigt Saviem, ein Ableger des Autobauers Renault, in Caen 3.000 Arbeiter. Die Belegschaft von Saviem tritt schon im Januar 1968, vier Monate vor dem Generalstreik, in den Ausstand, besetzt zeitweilig die Fabrik und liefert sich heftige Schlachten mit den Ordnungskräften.
Auch innerhalb der Gewerkschaften macht sich die Radikalisierung bemerkbar. Die alte, katholische Gewerkschaft CFTC bricht auseinander. Die Mehrheit reorganisiert sich als CFDT auf säkularer Grundlage, bekennt sich zum "Klassenkampf" und vereinbart Anfang 1966 eine Aktionseinheit mit der CGT.
Mit der Entstehung neuer Industrien geht der fieberhafte Ausbau des Bildungssektors einher. Es werden dringend Ingenieure, Techniker und ausgebildete Arbeiter benötigt. Allein zwischen 1962 und 1968 verdoppelt sich die Zahl der Studenten. Die Universitäten sind überfüllt, schlecht ausgestattet und werden - wie die Fabriken - von einer patriarchalischen, im Gestern verhafteten Leitung beherrscht.
Die Opposition gegen die schlechten Studienbedingungen und das autoritäre Universitätsregime - der Zugang zu Studentenheimen ist beispielsweise Mitgliedern des anderen Geschlechts strikt verboten - ist ein wichtiger Grund für die Radikalisierung der Studenten. Sie verbindet sich bald mit internationalen politischen Fragen. Im Mai 1966 findet in Paris die erste Versammlung gegen den Vietnam-Krieg statt. Ein Jahr später finden die Studentenproteste in Deutschland, wo am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wird, ein Echo in Frankreich.
Im selben Jahr machen sich die Auswirkungen der internationalen Rezession bemerkbar und die Arbeiter radikalisieren sich. Lebensstandard und Arbeitsbedingungen halten seit Jahren nicht mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Schritt. Die Löhne sind niedrig, die Arbeitszeiten lang und die Arbeiter in den Betrieben rechtlos. Nun kommen steigende Arbeitslosigkeit und wachsender Arbeitsdruck hinzu. Bergbau, Stahl-, Textil- und Bauindustrie stagnieren.
Die Gewerkschaften ordnen von oben Aktionstage an, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Doch von unten häufen sich lokale Proteste. Sie werden von den Ordnungskräften brutal unterdrückt. Im Februar 1967 besetzt die Belegschaft des Textilherstellers Rhodiacéta in Besançon als erste ihren Betrieb. Sie protestiert auf diese Weise gegen Entlassungen und fordert mehr Freizeit.
Auch die Bauern kämpfen gegen sinkende Erträge. Im Westen des Landes kommt es 1967 bei mehreren Bauerndemonstrationen zu Straßenschlachten. Laut einem damaligen Polizeibericht bieten die Bauern immer dasselbe Bild, sie sind "zahlreich, aggressiv, organisiert und mit verschiedenen Wurfgeschossen ausgerüstet: Bolzen, Pflastersteinen, Metallsplitter, Flaschen und Kieselsteinen."
Zu Beginn des Jahres 1968 erscheint Frankreich an der Oberfläche relativ ruhig, aber darunter brodelt es. Das Land gleicht einem Pulverfass. Es bedarf nur noch eines zufälligen Funkens, um es zur Explosion zu bringen. Diesen Funken liefern die Studentenproteste.
Studentenrevolte und Generalstreik
Die Universität von Nanterre gehört zu den neuen, in den sechziger Jahren errichteten Hochschulen. Gebaut auf einem ehemaligen Militärgelände fünf Kilometer außerhalb von Paris wird sie 1964 eröffnet. Sie ist von Elendsquartieren, so genannten Bidonvilles, und Fabrikgelände eingesäumt. Am 8. Januar prallen hier protestierende Studenten mit Jugendminister François Missoffe zusammen, der zur Eröffnung eines Schwimmbads erschienen ist.
Der Zwischenfall selbst ist relativ unbedeutend, aber Disziplinarmaßnahmen gegen die Studenten und das wiederholte Eingreifen der Polizei verschärfen den Konflikt und machen Nanterre zum Ausgangspunkt einer Bewegung, die schnell auf Universitäten und Gymnasien im ganzen Land übergreift. Im Mittelpunkt stehen Forderungen nach besseren Studienbedingungen, freiem Zugang zu den Universitäten, mehr persönlichen und politischen Freiheiten, der Freilassung inhaftierter Studenten sowie der Protest gegen den Krieg in Vietnam, wo Ende Januar die Tet-Offensive begonnen hat.
In einigen Städten, wie in Caen und Bordeaux, gehen Arbeiter, Studenten und Gymnasiasten gemeinsam auf die Straße. In Paris findet am 12. April eine Solidaritätsdemonstration für den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke statt, der am Vortag in Berlin von einem aufgehetzten Rechten auf offener Straße niedergeschossen worden ist.
Am 22. März besetzen 142 Studenten das Verwaltungsgebäude der Universität Nanterre. Die Hochschulleitung reagiert, indem sie die gesamte Universität für einen Monat schließt. Nun verlagert sich der Konflikt in die Sorbonne, die älteste Universität Frankreichs im Pariser Quartier Latin. Dort versammeln sich am 3. Mai Mitglieder verschiedener Studentenorganisationen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Draußen demonstrieren rechtsextreme Gruppen. Der Rektor ruft die Polizei und lässt die Sorbonne räumen. Es kommt zu einer spontanen Großdemonstration. Die Polizei reagiert mit äußerster Brutalität. Die Studenten errichten Barrikaden. Die Bilanz der Nacht sind hundert Verletzte und mehrere Hundert Festnahmen. Schon am nächsten Tag verhängt ein Gericht, gestützt ausschließlich auf Zeugenaussagen von Polizisten, gegen 13 Studenten drakonische Strafen.
Regierung und Medien bemühen sich, die Kämpfe im Quartier Latin als Werk radikaler Grüppchen und Unruhestifter darzustellen. Auch die Kommunistische Partei stimmt in diesen Chor ein. Deren Nummer zwei, der spätere Generalsekretär Georges Marchais, feuert auf der Titelseite des Parteiblatts Humanité eine Breitseite gegen die studentischen "Pseudorevolutionäre" ab. Er wirft ihnen vor, sie begünstigten "faschistische Provokateure". Er zeigt sich äußerst beunruhigt darüber, dass die Studenten "in wachsender Zahl vor den Toren der Fabriken und in den Wohnorten der Gastarbeiter Flugblätter und anderes Propagandamaterial verteilen", und fordert: "Diese falschen Revolutionäre müssen entlarvt werden, denn sie dienen objektiv den Interessen der gaullistischen Macht und den großen kapitalistischen Monopolen."
Doch die Hetze greift nicht. Das Land ist schockiert über das brutale Vorgehen der Polizei, das durch Radiosender übertragen wird. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Die Demonstrationen in Paris werden von Tag zu Tag größer und greifen auf andere Städte über. Sie richten sich gegen die polizeiliche Repression und fordern die Freilassung verhafteter Studenten. Auch die Gymnasiasten treten in den Streik. Am 8. Mai findet im Westen Frankreichs ein erster, eintägiger Generalstreik statt.
Vom 10. auf den 11. Mai kommt es im Quartier Latin zur "Nacht der Barrikaden". Zehntausende verschanzen sich im Universitätsviertel, das ab zwei Uhr früh von der Bereitschaftspolizei unter massivem Einsatz von Tränengas gestürmt wird. Hunderte Verletzte sind die Folge.
Regierungschef Georges Pompidou, soeben von einem Iranbesuch zurückgekehrt, kündigt zwar am nächsten Tag die Wiederöffnung der Sorbonne und die Freilassung der inhaftierten Studenten an, doch er kann die Lage nicht mehr beruhigen. Die Gewerkschaften, einschließlich der KP-dominierten CGT, rufen für den 13. Mai zu einem eintägigen Generalstreik gegen die Polizeirepression auf. Sie fürchten, andernfalls die Kontrolle über die empörten Arbeiter zu verlieren.
Der Aufruf findet große Resonanz. Zahlreiche Städte erleben die größten Massendemonstrationen seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein in Paris gehen 800.000 auf die Straße. Politische Forderungen treten nun in den Vordergrund. Viele fordern die Ablösung der Regierung. Abends werden die Sorbonne und andere Universitäten von den Studenten besetzt.
Der Plan der Gewerkschaften, den Generalstreik auf einen Tag zu beschränken, geht nicht auf. Am folgenden Tag, dem 14. Mai, wird das Werk von Sud-Aviation bei Nantes besetzt. Es bleibt einen Monat lang unter der Kontrolle der Arbeiter. Über der Verwaltung flattern rote Fahnen. Der Regionaldirektor Duvochel wird 16 Tage lang von den Besetzern festgehalten. Generaldirektor von Sud-Aviation ist zu dieser Zeit Maurice Papon, Nazikollaborateur, Kriegsverbrecher und 1961 als Polizeipräfekt von Paris für ein Massaker an Demonstranten gegen den Algerienkrieg verantwortlich.
Das Beispiel von Sud-Aviation macht Schule. Zwischen dem 15. und dem 20. Mai breitet sich eine Welle von Betriebsbesetzungen über das ganze Land aus. Überall werden rote Fahnen gehisst, nicht selten wird das Management festgehalten. Hunderte Betriebe und Verwaltungen sind betroffen, auch die größte Fabrik des Landes, das Stammwerk von Renault in Billancourt, das schon bei der Streikwelle von 1947 eine zentrale Rolle gespielt hat.
Anfangs werden betriebliche Forderungen aufgestellt, die sich von Ort zu Ort unterscheiden: Gerechtere Entlohnung, Verkürzung der Arbeitszeit, keine Entlassungen, mehr Rechte im Betrieb. In den besetzten Betrieben und um sie herum entstehen Arbeiter- und Aktionskomitees, an denen sich neben streikenden Arbeitern auch technische und Verwaltungsangestellte, örtliche Anwohner sowie Studenten und Schüler beteiligen. Die Komitees nehmen die Organisation der Streiks in die Hand und entwickeln sich zu Foren intensiver politischer Debatten. Dasselbe gilt für die Universitäten, die größtenteils von den Studenten besetzt sind.
Am 20. Mai steht das ganze Land still. Es befindet sich faktisch im Generalstreik, obwohl weder die Gewerkschaften noch andere Organisationen dazu aufgerufen haben. Betriebe, Büros, Universitäten und Schulen sind besetzt, Produktion und Verkehr sind gelähmt. Auch Künstler, Journalisten und sogar Fußballer schließen sich der Bewegung an. Zehn der insgesamt 15 Millionen Lohnabhängigen befinden sich im Ausstand. Spätere Untersuchungen haben diese Zahl zwar leicht nach unten korrigiert, auf sieben bis neun Millionen, doch es bleibt der umfassendste Generalstreik der französischen Geschichte. 1936 hatten sich "nur" drei und 1947 2,5 Millionen Arbeiter am Generalstreik beteiligt.
Ihren Höhepunkt erreicht die Streikwelle zwischen dem 22. und dem 30. Mai, doch sie dauert bis in den Juli hinein. Mehr als vier Millionen Streikende bleiben länger als drei, zwei Millionen länger als vier Wochen im Ausstand. Nach Schätzung des französischen Arbeitsministeriums gehen im Jahr 1968 insgesamt 150 Millionen Arbeitstage durch Streik verloren. In Großbritannien sind es 1974 - im Jahr des Bergarbeiterstreiks, der die konservative Regierung Edward Heath zu Fall bringt - lediglich 14 Millionen.
Am 20. Mai hat die Regierung die Kontrolle über das Land weitgehend verloren. Die Forderung nach dem Rücktritt de Gaulles und seiner Regierung - "Zehn Jahre sind genug" - ist allgegenwärtig. Am 24. Mai versucht de Gaulle, die Lage mit einer Fernsehansprache wieder in den Griff zu bekommen. Er verspricht ein Referendum über ein Mitspracherecht in Universitäten und Betrieben. Doch sein Auftritt demonstriert nur seine Ohnmacht. Die Rede verpufft ohne jede Wirkung.
In Frankreich hat sich in den ersten drei Maiwochen eine revolutionäre Situation entwickelt, wie es in der Geschichte nur wenige gegeben hat. Hätte die Bewegung eine entschlossene Führung gehabt, sie hätte das politische Schicksal de Gaulles und seiner Fünften Republik besiegelt. Die Sicherheitskräfte standen zwar noch hinter dem Regime, doch einer systematischen politischen Offensive hätten sie kaum standgehalten. Das schiere Ausmaß der Bewegung hätte auch ihre Reihen erfasst und zersetzt.
Der Verrat von KPF und CGT
Frankreich steht ab dem 20. Mai 1968 still. Zwei Drittel der Lohnabhängigen befinden sich im Generalstreik, die Universitäten sind von den Studenten besetzt. Das Schicksal de Gaulles und seiner Regierung liegt zu diesem Zeitpunkt in den Händen der Kommunistischen Partei und der von ihr kontrollierten Gewerkschaft CGT. Sie ermöglichen de Gaulle das politische Überleben und retten die Fünfte Republik. Die KPF ist 1968 noch eine beachtliche politische Kraft. Sie zählt 350.000 Mitglieder und hat 22,5 Prozent der Wähler (1967) hinter sich. Die Mitgliederzahl der CGT ist zwar seit 1948 von 4 auf 2,3 Millionen gesunken, doch in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft ist sie weiterhin die dominierende Gewerkschaft. Ihr Generalsekretär Georges Séguy sitzt im Politbüro der KPF.
Wie wir bereits gesehen haben, reagieren KPF und CGT mit unverhohlener Feindschaft auf die Proteste der Studenten. Der berüchtigte Artikel, in dem Georges Marchais am 3. Mai die Studenten als Provokateure und gaullistische Agenten beschimpft, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Humanité wird nicht müde, gegen die "Linksradikalen" (gauchistes) zu wettern. Darunter zählt sie alle, die sich der rechten Linie der KPF widersetzen. Die CGT lehnt gemeinsame Demonstrationen von Arbeitern und Studenten ab und weist ihre Mitglieder an, Studenten, die Kontakt zu den Arbeitern aufnehmen wollen, aus den Betrieben fernzuhalten.
Die Betriebsbesetzungen und der Generalstreik haben sich gegen den Willen und außerhalb der Kontrolle der CGT entwickelt. Die Besetzung von Sud-Aviation, die zum Vorbild für alle anderen wird, kommt auf Initiative der Gewerkschaft Force Ouvrière zustande, die dort unter den niedrigsten, im Stundenlohn bezahlten Lohngruppen Einfluss hat und in Nantes von einem Trotzkisten, dem OCI-Mitglied Yves Rocton, geführt wird. Die CGT verhindert die Besetzungen zwar nicht, aber sie versucht, sie unter Kontrolle zu halten und auf rein betriebliche Forderungen zu beschränken. Sie widersetzt sich der Gründung eines Zentralen Streikkomitees ebenso wie der Zusammenarbeit mit Kräften außerhalb der Betriebe. Die Festnahme des Führungspersonals lehnt sie vehement ab.
Am 16. Mai versucht die Führung der Konkurrenzgewerkschaft CFDT, mit einer Erklärung auf die Besetzungswelle Einfluss zu nehmen. Im Gegensatz zur CGT äußert sie sich positiv über die Revolte der Studenten. Diese richte sich gegen "die verkrusteten, stickigen Klassenstrukturen einer Gesellschaft, in der sie ihre Verantwortung nicht wahrnehmen können". Für die Betriebe gibt die CFDT die Parole der "Selbstverwaltung" (autogestion) aus: "Die Monarchie in Industrie und Verwaltung muss durch Verwaltungsstrukturen auf der Grundlage der Selbstverwaltung ersetzt werden."
CGT-Chef Séguy reagiert mit einem Wutanfall und greift die CFDT öffentlich an. Er lehnt jeden Versuch ab, der anwachsenden Bewegung eine gemeinsame Orientierung zu geben, und sei sie noch so beschränkt. Dabei führt auch die Forderung der CFDT, die zu dieser Zeit unter dem Einfluss des linksreformistischen PSU (Parti Socialiste Unifié) Michel Rocards steht, in eine Sackgasse. Sie stellt weder die kapitalistische Herrschaft noch die Dominanz des kapitalistischen Marktes in Frage.
Am 25. Mai eilt die CGT schließlich der bedrängten Regierung direkt zu Hilfe. Um 15 Uhr treffen sich Vertreter von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung im Arbeitsministerium an der Rue de Grenelle. Ihr Ziel: In den Betrieben so schnell wie möglich wieder Ruhe herstellen! Obwohl alle Gewerkschaften vertreten sind, werden die Verhandlungen fast ausschließlich zwischen zwei Männern geführt: Regierungschef Georges Pompidou und CGT-Chef Georges Séguy.
Séguy will eine prozentuale Lohnerhöhung, ohne - wie in vielen Betrieben gefordert - die Kluft zwischen den verschiedenen Lohnkategorien zu verringern. Außerdem soll die Stellung der Gewerkschaften gestärkt werden. In dieser Frage hat er die Rückendeckung Pompidous gegen die Unternehmerverbände. "Die Regierung ist überzeugt, dass die Einbindung der Arbeiterklasse durch Gewerkschaften, die über die notwendige Schulung und entsprechenden Einfluss verfügen, für das Gedeihen eines Betriebs von Nutzen ist", heißt es dazu im Protokoll des Treffens.
Auf der Regierungsseite sitzt neben Georges Pompidou noch ein weiterer zukünftiger Präsident am Verhandlungstisch: Jacques Chirac. Außerdem ein zukünftiger Premierminister: Edouard Balladur. Sie alle, wie auch der jetzige Amtsinhaber Nicolas Sarkozy, haben sich an die damalige Vereinbarung gehalten und die Gewerkschaften benutzt, um die Arbeiterklasse "einzubinden". Der Begriff "Grenelle" ist als Synonym für Spitzengespräche zwischen Politik und Verbänden ins französische Vokabular eingegangen.
Nach knapp zwei Tagen haben sich die Verhandlungspartner geeinigt. Am frühen Montagmorgen, dem 27. Mai, unterzeichnen sie das Abkommen von Grenelle. Es sieht eine siebenprozentige Erhöhung der Löhne, die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns von 2,22 auf 3 Francs sowie die rechtliche Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben vor. Die CGT hat ihre ursprünglichen Forderungen nach einer gleitenden Lohnskala, voller Bezahlung der Streiktage und Rücknahme der Regierungsverordnungen zur Sozialversicherung fallen gelassen. Nachdem er erfahren hat, dass Rocards PSU, die CFTD und der Studentenverband UNEF ohne vorherige Absprache mit KPF und CGT eine Demonstration planen, drängt Séguy auf einen sofortigen Abschluss und einigt sich im frühen Morgengrauen in einem Vier-Augen-Gespräch mit Jacques Chirac.
Um 7.30 Uhr treten Séguy und Pompidou vor die Presse und verkünden das Abkommen von Grenelle. Séguy erklärt: "Die Arbeit kann ohne Verzögerung wieder aufgenommen werden." Er begibt sich persönlich nach Billancourt, um den Arbeitern des Renault-Werks den Abschluss schmackhaft zu machen. Doch diese betrachten das Abkommen als Provokation und denken nicht daran, sich für ein paar Francs kaufen zu lassen. Séguy wird ausgebuht und ausgepfiffen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land, und niemand denkt daran, den Kampf abzubrechen. "Es ist der CGT nicht gelungen, die Streikenden zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen", titelt Le Monde am folgenden Tag.
Die Frage der Macht steht im Raum
Nun erreicht die politische Krise ihren Höhepunkt. Das ganze Land befindet sich im Aufruhr. Die Regierung hat ihre Autorität eingebüsst und die CGT die Kontrolle über die Arbeiter verloren. Die Frage, wer im Land die Macht ausübt, steht offen im Raum - daran hat niemand Zweifel.
Die Sozialdemokraten, die sich bisher abwartend im Hintergrund gehalten haben, melden sich zu Wort. Da fraglich ist, ob sich de Gaulle an der Macht halten kann, treffen sie Vorbereitungen für eine alternative bürgerliche Regierung. François Mitterrand veranstaltet am 28. Mai eine Pressekonferenz, über die das Fernsehen ausführlich berichtet. Er spricht sich für eine Übergangsregierung sowie für die Neuwahl des Präsidenten aus, mit ihm selbst als Kandidaten.
Mitterrand steht an der Spitze der Föderation der demokratischen und sozialistischen Linken (FGDS), einem Bündnis liberaler und sozialdemokratischer Parteien, die sich in der Vierten Republik diskreditiert haben und über keine Massenbasis verfügen. Er war 1965 als Herausforderer de Gaulles zur Präsidentenwahl angetreten und dabei auch von der KPF unterstützt worden.
Die PSU, die CFDT und der Studentenverband UNEF setzen dagegen auf Pierre Mendès-France. Das Mitglied der Radikalsozialisten, einer rein bürgerlichen Partei, war 1936 Mitglied der Volksfrontregierung Léon Blums. Während des Krieges schloss er sich General de Gaulle an. In der Vierten Republik organisierte er als Regierungschef den Rückzug der französischen Truppen aus Vietnam und wurde deshalb von den Rechten stark angefeindet. 1968 steht er der PSU nahe.
Der KPF gilt Mendès-France wegen seiner ausgeprägten Westorientierung als Intimfeind. Als er am 27. Mai auf einer Großveranstaltung von PSU, CFDT und UNEF im Pariser Stadion Charléty gesichtet wird, läuten im Hauptquartier der KPF die Alarmglocken. Die Partei fürchtet, Mitterrand und Mendès-France könnten eine neue Regierung bilden, ohne dass sie darauf Einfluss hat.
Am 29. Mai organisieren KPF und CGT eine eigene Demonstration in Paris. Unter der Parole "Volksregierung" marschiert eine riesige Menge von mehreren Hunderttausend durch die Hauptstadt. Die KPF denkt allerdings nicht im Traum an eine revolutionäre Machtergreifung. Mit der Forderung nach einer "Volksregierung" kommt sie der revolutionären Stimmung in den Betrieben entgegen, ohne dass sie die Institutionen der Fünften Republik in Frage stellt. Die CGT unterstreicht die Ablehnung eines revolutionären Vorgehens, indem sie die Betonung auf eine "demokratische Veränderung des Landes" legt.
Der Polizeipräfekt von Paris berichtet später, er habe sich damals wegen der CGT-KPF-Demonstration keine besonderen Sorgen gemacht. Er habe eine klassische, disziplinierte Gewerkschaftsdemonstration erwartet, wie sie dann auch stattgefunden habe. Die Regierung ist sich allerdings nicht sicher, ob die Organisatoren die Lage im Griff haben. Sie versetzt Fallschirmjäger der Armee in Alarmbereitschaft und lässt in Pariser Vororten vorsorglich Panzer auffahren.
Am 30. Mai trifft sich das Zentralkomitee der KPF zur Lagebesprechung. Der Tonbandmitschnitt dieses Treffens bestätigt, dass die Partei die Übernahme der Macht ablehnt und sich um den Erhalt der bestehenden Ordnung bemüht. Ein halbes Jahr später rechtfertigt eine Erklärung des Zentralkomitees diese Haltung mit den Worten: "Das Kräfteverhältnis hat es der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten im letzten Mai nicht erlaubt, die politische Macht zu ergreifen."
Generalsekretär Émile Waldeck-Rochet erklärt auf dem Treffen vom 30. Mai seine Bereitschaft, an einer Übergangsregierung unter François Mitterrand teilzunehmen, falls dieser der KPF genügend Einfluss einräumt. Eine solche Regierung solle drei Aufgaben erfüllen: Den Staat wieder in Gang bringen, auf berechtigte Forderungen der Streikenden reagieren und die Präsidentenwahl durchführen.
Die bevorzugte Option der KPF sind aber sofortige Parlamentswahlen. "Wir können von allgemeinen Wahlen nur profitieren", fasst ein Sprecher die Mehrheitsmeinung zusammen.
Die Lage steht an diesem Tag auf Messers Schneide. General de Gaulle ist am Vorabend spurlos verschwunden. Er hat sich nach Baden-Baden abgesetzt, wo er sich mit General Massu, dem Befehlshaber der französischen Truppen in Deutschland berät. Massu ist berüchtigt wegen seiner Rolle im Algerienkrieg. Ob de Gaulle die Flucht plant oder lediglich Unterstützung sucht, ist bis heute umstritten. Massu behauptet später in seinen Memoiren, er habe ihm geraten, nach Paris zurückzukehren und sich mit einer Ansprache ans französische Volk zu wenden.
Am Nachmittag des 30. Mai meldet sich de Gaulle tatsächlich mit einer Radioansprache zurück. Die Republik sei in Gefahr, sagt er und gelobt, sie müsse und werde verteidigt werden. Er verkündet die Auflösung des Parlaments und setzt Neuwahlen für den 23. und 30. Juni an. Auf den Champs-Elysées demonstrieren zur selben Zeit mehrere Hunderttausend Anhänger des Generals unter den französischen Nationalfarben.
Die KPF unterstützt de Gaulles Entscheidung noch am selben Abend und stellt sie als Erfolg der eigenen Politik dar. Sie bekennt sich zum legalen Rahmen der Fünften Republik und biedert sich an die Gaullisten an, indem sie die Einheit "der roten Fahne und der dreifarbigen Fahne der Nation" beschwört. Am 31. Mai verkündet auch CGT-Chef Georges Séguy seine Zustimmung zu den Wahlen. "Die CGT wird den geordneten Ablauf der Wahlen nicht behindern", sagt er, was angesichts der Paralyse des Landes einem Aufruf zum Abbruch des Generalstreiks gleichkommt. "Es ist im Interesse der Arbeiter ihren Veränderungswillen zu äußern."
Die CGT verwendet nun ihre ganze Energie darauf, die Streiks und Besetzungen noch vor dem Wahltermin zu beenden. Das gelingt ihr zwar nur mit Mühe. Aber nach und nach bröckelt die Streikfront ab, Belegschaften kehren nach dem Abschluss von Betriebsvereinbarungen an die Arbeit zurück, die militantesten Teile werden isoliert, die Polizei beginnt mit der Räumung der Universitäten. Am 16. Juni, eine Woche vor dem Wahltermin, nehmen die Arbeiter von Renault-Billancourt die Arbeit wieder auf, die Sorbonne wird am selben Tag evakuiert.
Es dauert allerdings noch Wochen, bis die letzten Streiks und Besetzungen beendet sind, und das Land kommt auch in den folgenden Monaten und Jahren nicht zur Ruhe. Doch die Gelegenheit, die politische Macht zu ergreifen, hat die Arbeiterklasse versäumt. "Die CGT hat im Mai 1968 die Konfrontation mit dem Staat absichtlich vermieden, als sich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu entwickeln schien", fasst Michel Dreyfus, Autor einer Geschichte der CGT, die Haltung der einflussreichsten Gewerkschaft auf dem Höhepunkt des Generalstreiks zusammen.
Die Gegenoffensive der Rechten
In den ersten Maiwochen war das rechte politische Lager völlig gelähmt und isoliert. Nun gewinnt es, dank der Hilfe von KPF und CGT, nach und nach die Initiative und sein Selbstvertrauen zurück. Mit dem Beginn des Wahlkampfs verlagert sich die Auseinandersetzung von den Straßen und Betrieben an die Wahlurne, was de Gaulle und seinen Anhängern zugute kommt. Sie sind jetzt in der Lage, die passiven und rückständigen Teile der Gesellschaft ins Spiel zu bringen, die "schweigende Mehrheit", und ihre Ängste zu schüren.
Erste Bemühungen in dieser Richtung gibt es schon im Mai. Die Regierung übt eine strikte Zensur über die staatlichen Medien aus. (Privatsender gibt es zu dieser Zeit noch nicht.) Am 19. Mai untersagt sie dem Fernsehen die Verbreitung von Informationen, die der Opposition nützen könnten. Am 23. Mai sperrt sie die Frequenzen, über die Reporter ausländischer Sender, die in Frankreich zu empfangen sind, life aus den Demonstrationen berichten.
Am 22. März entzieht die Regierung Daniel Cohn-Bendit die Aufenthaltsgenehmigung. Der Studentenführer mit deutschem Pass entstammt einer jüdischen Familie, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen ist. Das Ende des Naziregimes liegt erst 23 Jahre zurück, und die Symbolik dieser Maßnahme bleibt niemandem verborgen. Die Empörung ist groß. Die Proteste der Studenten radikalisieren sich. Es kommt erneut zu gewaltsamen Straßenschlachten. Da die CGT die Studenten weiterhin isoliert und jede gemeinsame Aktion mit ihnen ablehnt, agieren diese oft ohne den Schutz der Arbeiter - was zur Eskalation der Lage beiträgt.
Am 24. Mai fordern die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwei Todesopfer. In Lyon stirbt ein Polizist, in Paris ein junger Demonstrationsteilnehmer. Der Schock ist groß. Die Medien beginnen eine ohrenbetäubende Kampagne gegen die "studentischen Gewalttäter".
Einige Gaullisten gründen ein Komitee zur Verteidigung der Republik (CDR), das mit ultrarechten Elementen aus dem Milieu der Algerienfranzosen zusammenarbeitet. Letztere betrachten de Gaulle als Verräter, seit er Algerien in die Unabhängigkeit entlassen hat, doch angesichts der revolutionären Gefahr schließt sich das rechte Lager zusammen. Am 30. Mai vermischen sich auf den Champs-Élysées "Algérie française"-Rufe mit den Symbolen des Gaullismus. Die erste Großdemonstration zur Unterstützung de Gaulles ist gemeinsam vorbereitet worden. Am 17. Juni revanchiert sich de Gaulle, indem er General Salan sowie zehn weitere Mitglieder der Terrororganisation OAS begnadigt, die 1961 in Algerien gegen ihn geputscht hatten.
Auch der staatliche Repressionsapparat tritt mit Beginn der Wahlkampagne selbstbewusster auf. Am 31. Mai wird Innenminister Christian Fouchet durch Raymond Marcellin abgelöst. Er wird von de Gaulle mit den Worten begrüßt: "Endlich der wahre Fouché". Joseph Fouché hatte nach dem Niedergang der französischen Revolution als Polizeiminister des Direktoriums und Napoleons einen gefürchteten Unterdrückungsapparat aufgebaut.
Marcellin geht mit äußerster Härte vor. Noch am Tag seiner Ernennung werden die Streikposten an den Treibstofflagern geräumt, um den Benzinnachschub und damit den Verkehr wieder in Gang zu bringen. Am 12. Juni verbietet er für die Zeit der Wahlkampagne sämtliche Straßendemonstrationen. Am selben Tag lässt er per Dekret alle revolutionären Organisationen auflösen und zweihundert "verdächtige Ausländer" des Landes verweisen. Vom Verbot betroffen sind die trotzkistische OCI, deren Jugend- und Studentenorganisationen, die JCR Alain Krivines, die anarchistische "Bewegung des 22. März" Daniel Cohn-Bendits sowie maoistische Organisationen. Der Inlandsgeheimdienst (Renseignements généraux) erhält den Auftrag, sie zu beobachten und über jedes Mitglied Daten zu sammeln.
Marcellin bleibt sechs Jahre im Amt und baut in dieser Zeit Polizei, Geheimdienst und die Einsatzpolizei CRS zu einem hochgerüsteten Bürgerkriegsapparat aus. Er verdoppelt die Ausgaben für die Polizei, rüstet sie mit moderner Technologie und mit Waffen aus und schafft 20.000 neue Polizeistellen.
Die Gaullisten führen einen Wahlkampf der Angst. Sie malen die Gefahr eines Bürgerkriegs an die Wand, warnen vor einer totalitären, kommunistischen Machtübernahme und beschwören die Einheit von Republik und Nation. Oppositionsparteien und Gewerkschaften stimmen in diesen Chor ein. Die anhaltende Hetze der KPF gegen "Linksradikale" ist Wasser auf die Propagandamühlen der Rechten. François Mitterrand beteuert am Vorabend der Wahl im Fernsehen: "Wir haben vom ersten Tag an und trotz der Angriffe nur an die Einheit des Vaterlandes und die Aufrechterhaltung der Ruhe gedacht."
Die Wahl gerät für die Linke zum Desaster. Die Gaullisten und ihre Verbündeten erhalten 46 Prozent der Stimmen, die KPF als stärkste Oppositionspartei nur 20, deutlich weniger als im Vorjahr. Bei der Sitzverteilung sieht das Ergebnis aufgrund des Mehrheitswahlrechts noch verheerender aus. Vier Fünftel der Mandate entfallen auf rein bürgerliche Parteien, davon 59 Prozent auf die Gaullisten, 13 auf die Liberalen und 7 auf die Zentristen. Mitterrands FGDS kommt auf 12, die KPF nur auf 7 Prozent. Vor allem das konservative Land hat mit großer Mehrheit für die Rechten gestimmt. Viele der aktivsten Elemente - Gymnasiasten, Studenten, junge Arbeiter und Immigranten - waren dagegen nicht wahlberechtigt. Das offizielle Wahlalter liegt bei 21 Jahren und die Wahllisten sind vor der kurzfristig anberaumten Wahl nicht aktualisiert worden.
Zwei Monate nach Beginn der revolutionären Krise hat die Bourgeoisie die Macht wieder im Griff. Sie hat nun Zeit, de Gaulle in Ruhe abzulösen und einen neuen politischen Mechanismus zu entwickeln, mit dem sie die Arbeiterklasse in den kommenden Jahrzehnten unter Kontrolle halten und ihre Herrschaft absichern kann: die Sozialistische Partei Mitterrands. Sie muss dafür einen ökonomischen Preis entrichten. Die Vereinbarungen von Grenelle treten schließlich in Kraft und die arbeitende Bevölkerung erlebt in den folgenden Jahren eine deutliche Verbesserung ihres Lebensstandards. Doch diese Verbesserungen sind nicht von Dauer. Inzwischen sind sie weitgehend wieder rückgängig gemacht worden.
Wie Alain Krivines JCR den Verrat des Stalinismus abdeckte
Präsident de Gaulle und seine Fünfte Republik verdankten ihr politisches Überleben im Mai 1968 der stalinistischen Kommunistischen Partei (KPF) und der von ihr beherrschten Gewerkschaft CGT. Der Einfluss der KPF war allerdings zwischen 1945 und 1968 deutlich zurückgegangen. Um den Generalstreik abzuwürgen, waren die Stalinisten auf die Unterstützung anderer politischer Kräfte angewiesen, die radikaler als sie auftraten, aber sorgfältig darauf achteten, dass ihre politische Vorherrschaft nicht in Gefahr geriet.
Eine Schlüsselrolle spielten in dieser Hinsicht das pablistische Vereinigte Sekretariat Ernest Mandels und seine französischen Ableger, die Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR) Alain Krivines und der Parti communiste internationaliste (PCI) Pierre Franks. Sie verhinderten, dass aus der Radikalisierung der Jugend eine ernsthafte revolutionäre Alternative erwuchs, und halfen so den Stalinisten, den Generalstreik unter Kontrolle zu bringen.
Am Ende des zweiten Weltkriegs hatte die KPF aufgrund des Siegs der sowjetischen Roten Armee über Nazi-Deutschlands und ihrer eigenen Rolle in der Résistance, dem antifaschistischen Widerstand, über große Autorität verfügt. Die französische Bourgeoisie hatte sich durch ihre Kollaboration mit den Nazis im Rahmen des Vichy-Regimes diskreditiert und das Verlangen nach einer sozialistischen Gesellschaft war in der Arbeiterklasse, einschließlich der Mitgliedschaft der KPF, überwältigend. Doch KPF-Führer Maurice Thorez warf seine gesamte Autorität in die Waagschale, um dem bürgerlichen Staat wieder auf die Beine zu helfen. Er trat persönlich der ersten Regierung de Gaulles bei und sorgte für die Entwaffnung der Résistance.
Die staatstragende Politik der KPF, ihre Unterstützung für die Kolonialkriege gegen Vietnam und Algerien und das Eingeständnis der Stalinschen Verbrechen durch Chrustschow im Jahr 1956 sowie die Niederschlagung der Arbeiteraufstände in Ungarn und Polen durch sowjetische Truppen untergruben den Einfluss der KPF. 1968 war sie zwar immer noch größte Arbeiterpartei, doch in der Jugend und unter den Studenten hatte sie ihre Autorität weitgehend eingebüsst.
Der Kommunistische Studentenverband (Union des étudiants communistes, UEC) befand sich in einer schweren Krise. Ab 1963 bildeten sich verschiedene Fraktionen - "italienische" (Anhänger Gramscis und der italienischen KP), "marxistisch-leninistische" (Anhänger Mao Zedongs) und "trotzkistische" - die alle ausgeschlossen wurden und eigene Organisationen gründeten. Das war der Ursprung der so genannten "extremen Linken", deren Erscheinen auf der politischen Szene "den beginnenden Bruch der KPF mit einem aktiven Teil der militanten Jugend" kennzeichnet, wie die Historikerin Michelle Zancarini-Fournel in einem Werk über die 68er Bewegung bemerkt. (1)
Auch die Dominanz der Gewerkschaft CGT stand 1968 in Frage. Konkurrierende Gewerkschaften - wie Force Ouvrière und die CFDT, die damals unter dem Einfluss des linksreformistischen Parti socialiste unifié (PSU) stand - forderten die CGT heraus und schlugen teilweise militante Töne an. Vor allem im Dienstleistungssektor und im öffentlichen Dienst gewann die CFDT an Einfluss.
Unter diesen Umständen spielten die Pablisten des Vereinigten Sekretariats eine äußerst wichtige Rolle dabei, die Autorität der Stalinisten zu verteidigen und den Ausverkauf des Generalstreiks zu ermöglichen.
Der Ursprung des Pablismus
Das pablistische Vereinigte Sekretariat war in den frühen 1950er Jahren als Ergebnis eines Angriffs auf das Programm der Vierten Internationale entstanden. Michel Pablo, der damalige Sekretär der Vierten Internationale, wies die Einschätzung des Stalinismus zurück, die Leo Trotzki 1938 zur Gründung der Vierten Internationale bewegt hatte.
Trotzki war nach der Niederlage des deutschen Proletariats im Jahr 1933 zum Schluss gelangt, dass die stalinistische Degeneration der Kommunistischen Internationale den Punkt überschritten hatte, an dem sie für eine revolutionäre Politik zurück gewonnen werden konnte. Aus dem Versagen der Kommunistischen Partei Deutschlands, das Hitlers Machtübername ermöglichte, und der Weigerung der Kommunistischen Internationale, aus der deutschen Katastrophe Lehren zu ziehen, folgerte er, dass die Kommunistischen Parteien endgültig auf die Seite der bürgerlichen Ordnung übergegangen seien. Er bestand darauf, dass der Ausgang zukünftiger revolutionärer Kämpfe vom Aufbau einer neuen proletarischen Führung abhing. "Die Krise der proletarischen Führung, die zur Krise der menschlichen Kultur geworden ist, (kann) nur von der Vierten Internationale gelöst werden", schrieb er im "Übergangsprogramm", dem Gründungsprogramm der Vierten Internationale.
Pablo wies diese Auffassung zurück. Er folgerte aus der Entstehung deformierter Arbeiterstaaten in Osteuropa, dass der Stalinismus auch in Zukunft eine historisch fortschrittliche Rolle spielen werde. Das lief auf die Liquidation der Vierten Internationale hinaus. Folgte man Pablo, dann gab es keinen Grund mehr, unabhängig von den stalinistischen Massenorganisationen Sektionen der Vierten Internationale aufzubauen. Die Aufgabe von Trotzkisten bestand vielmehr darin, in die stalinistischen Parteien einzutreten und vorgeblich linke Elemente in ihrer Führung zu unterstützen.
Pablo wandte sich schließlich gegen die gesamte marxistische Parteikonzeption, die auf der Notwendigkeit einer theoretisch und politisch bewussten proletarischen Vorhut beharrt. Seiner Auffassung nach konnten auch nicht-marxistische und nicht-proletarische Kräfte - Gewerkschafter, linke Reformisten, kleinbürgerliche Nationalisten und nationale Befreiungsbewegungen in den kolonialen und ex-kolonialen Ländern - die Aufgabe der revolutionären Vorhut übernehmen, wenn sie unter dem Druck objektiver Faktoren nach links getrieben wurden. Pablo selbst stellte sich schließlich in den Dienst der algerischen Nationalen Befreiungsfront FLN und trat nach deren Sieg sogar drei Jahre lang der algerischen Regierung bei.
Pablos Angriff spaltete die Vierte Internationale. Die Mehrheit der französischen Sektion lehnte seinen Kurs ab und wurde von der Minderheit unter Pierre Frank mit bürokratischen Methoden ausgeschlossen. 1953 unterzog die amerikanische Socialist Workers Party den pablistischen Revisionismus einer vernichtenden Kritik und rief alle orthodoxen Trotzkisten in einem Offenen Brief auf, sich international zusammenzuschließen. So entstand das Internationale Komitee der Vierten Internationale, dem sich auch die französische Mehrheit anschloss.
Die SWP hielt allerdings nicht lange an ihrer Opposition gegen den Pablismus fest. In den folgenden zehn Jahren näherte sie sich den Positionen der Pablisten an und schloss sich 1963 mit diesen zum Vereinigten Sekretariat zusammen. Dessen Führung hatte inzwischen Ernest Mandel übernommen. Pablo selbst spielte nur noch eine Nebenrolle und verließ das Vereinigte Sekretariat bald danach. Grundlage der Vereinigung war die unkritische Unterstützung Fidel Castros und seiner kleinbürgerlich nationalistischen "Bewegung des 26. Juli". Das Vereinigte Sekretariat behauptete, mit der Machtübernahme von Castro sei in Kuba ein Arbeiterstaat entstanden, und Castro, Ernesto Che Guevara und andere kubanische Führer seien "natürliche Marxisten".
Diese Auffassung entwaffnete nicht nur die Arbeiterklasse in Kuba, die nie über eigene Organe der Machtausübung verfügte, sie entwaffnete auch die internationale Arbeiterklasse, indem sie die unkritische Unterstützung stalinistischer und kleinbürgerlicher, nationalistischer Organisationen rechtfertigte und verhinderte, dass diesen die Kontrolle über die Massen entglitt. Der Pablismus entwickelte sich so zu seiner zweitrangigen Agentur des Imperialismus, dessen Rolle umso wichtiger wurde, je mehr das Ansehen der alten bürokratischen Apparate in der Arbeiterklasse und der Jugend litt.
Das bestätigte sich nur ein Jahr nach der Vereinigung von SWP und Pablisten in tragischer Weise in Sri Lanka. Dort beteiligte sich 1964 die Lanka Sama Samaja Party (LSSP), eine trotzkistische Partei mit Masseneinfluss, an einer bürgerlichen Koalitionsregierung mit der nationalistischen Sri Lanka Freedom Party. Die LSSP bezahlte für den Eintritt in die Regierung, indem sie der tamilischen Minderheit den Rücken kehrte und den singhalesischen Chauvinismus unterstützte. An den Folgen dieses Verrats leidet das Land bis heute, er stellte die Weichen für die Diskriminierung der tamilischen Minderheit und den blutigen Bürgerkrieg, der Sri Lanka seit drei Jahrzehnten ruiniert.
Auch in Frankreich trugen die Pablisten 1968 maßgeblich dazu bei, die bürgerliche Herrschaft zu erhalten. Verfolgt man ihre politische Rolle während der entscheidenden Ereignisse, so fallen vor allem zwei Dinge ins Auge: Ihre apologetische Haltung gegenüber dem Stalinismus und ihre unkritische Anpassung an die antimarxistischen Theorien der "Neuen Linken", die im Studentenmilieu vorherrschten.
Alain Krivine und die JCR
Nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte die Vierte Internationale in Frankreich über erheblichen Einfluss. 1944 hatte sich die im Krieg gespaltene trotzkistische Bewegung zum Parti communiste internationaliste (PCI) zusammengeschlossen. Zwei Jahre später zählte der PCI etwa 1.000 Mitglieder und stellte bei den Parlamentswahlen elf Kandidaten auf, die jeweils zwischen zwei und fünf Prozent der Stimmen erhielten. Seine Zeitung La Vérité wurde an den Kiosken verkauft und fand eine breite Leserschaft. Der Einfluss reichte auch in andere Organisationen hinein. So unterstützte die gesamte Führung der sozialistischen Jugendorganisation, die 20.000 Mitglieder zählte, die Trotzkisten. In der Streikbewegung, die das Land 1947 erschütterte und die KPF zum Austritt aus der Regierung de Gaulle zwang, spielten Mitglieder des PCI eine führende Rolle.
Doch in den folgenden Jahren wurde die revolutionäre Orientierung des PCI wiederholt aus den eigenen Reihen heraus angegriffen. Als die sozialdemokratische SFIO 1947 scharf nach rechts rückte, ihre Jugendorganisation auflöste und deren trotzkistischen Führer ausschloss, reagierte der rechte Flügel des PCI um den damaligen Sekretär Yvan Craipeau, indem er jede revolutionäre Perspektive abschrieb. Dieser Flügel wurde im folgenden Jahr ausgeschlossen, nachdem er sich für die Auflösung der Partei in einer linken Sammelbewegung, dem vom Philosophen Jean-Paul Sartre gegründeten Rassemblement Démocratique Révolutionnaire (RDR), eingesetzt hatte. Viele seiner Vertreter, einschließlich Craipeau selbst, fanden sich später im Parti Socialiste Unifié (PSU) wieder.
Ebenfalls 1948 brach die Gruppe Socialisme ou barbarie um Cornelius Castoriadis und Claude Lefort vom PCI. Sie reagierte auf den beginnenden Kalten Krieg, indem sie Trotzkis Einschätzung, die Sowjetunion sei ein entarteter Arbeiterstaat, ablehnte und die Auffassung vertrat, das stalinistische Regime verkörpere eine neue Klassengesellschaft, einen "bürokratischen Kapitalismus". Daraus zog sie weitgehende anti-marxistische Schlussfolgerungen. Die Schriften von Socialisme et barbarie sollten erheblichen Einfluss auf die Studentenbewegung und später, durch ihr zeitweiliges Mitglied Jean-François Lyotard, auch auf die Philosophen der Postmoderne ausüben.
Den schwersten Schlag versetzte der trotzkistischen Bewegung in Frankreich aber der Pablismus. Pablos liquidatorischer Kurs und der Ausschluss der Mehrheit der Sektion durch die pablistische Minderheit schwächte sie politisch und organisatorisch. Mit der PCI-Mehrheit Pierre Lamberts werden wir uns im nächsten Teil befassen. Die pablistische Minderheit Pierre Franks konzentrierte sich in den Jahren nach der Spaltung auf die praktisch-logistische Unterstützung der FLN im Algerienkrieg. In den sechziger Jahren war sie weitgehend aus den Betrieben verschwunden. Im Studentenmilieu hatte sie aber Einfluss, und dort sollte sie 1968 eine wichtige Rolle spielen. Ihr Führungsmitglied Alain Krivine gehörte neben dem Anarchisten Daniel Cohn-Bendit und dem Maoisten Alain Geismar zu den bekanntesten Gesichtern der Studentenrevolte.
Krivine war 1955 im Alter von 14 Jahren der stalinistischen Jugendbewegung beigetreten und 1957 im Rahmen einer offiziellen Delegation zu den Jugendfestspielen in Moskau gereist. Dort kam er - laut seiner Autobiografie - mit Mitgliedern der algerischen FLN in Kontakt und entwickelte eine kritische Haltung gegenüber der Algerienpolitik der Kommunistischen Partei. Im folgenden Jahr begann seine Zusammenarbeit mit dem pablistischen PCI in der Algerienfrage. Krivine will anfangs nicht gewusst haben, mit wem er es zu tun hatte - was recht unwahrscheinlich ist, da zwei seiner Brüder der Führung des PCI angehörten. Jedenfalls wurde er spätestens 1961 selbst PCI-Mitglied, während er offiziell weiterhin in der stalinistischen Studentenorganisation Union des étudiants communistes (UEC) arbeitete.
Krivine stieg schnell in die Führungsgremien des PCI und des Vereinigten Sekretariats auf. Ab 1965 bildet der damals 24-Jährige zusammen mit Pierre Frank und Michel Lequenne den engsten Führungszirkel des PCI, das Politische Büro. Im selben Jahr zog er als Ersatzmann Lequennes ins Exekutivkomitee des Vereinigten Sekretariats ein.
1966 wurde Krivines UEC-Sektion an der Pariser Universität Sorbonne von der stalinistischen Führung ausgeschlossen, weil sie sich weigerte, den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der Linken, François Mitterrand, zu unterstützen. Gemeinsam mit anderen abtrünnigen UEC-Sektionen bildete sie die Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR), die fast ausschließlich aus Studenten bestand und sich - im Gegensatz zum PCI - nicht ausdrücklich zum Trotzkismus bekannte. Im April 1969 schlossen sich JCR und PCI dann offiziell zur Ligue communiste (ab 1974: Ligue communiste révolutionnaire) zusammen, nachdem im Vorjahr beide vom Innenminister verboten worden waren.
Im Nachhinein hat Krivine versucht, die JCR des Jahres 1968 als junge, naive Organisation darzustellen, die über viel Enthusiasmus, aber wenig politische Erfahrung verfügte: "Wir waren eine Organisation von einigen Hundert Mitgliedern, deren durchschnittliches Alter kaum der damaligen Volljährigkeit entsprach: einundzwanzig Jahre. Unnötig zu erwähnen, dass wir, den dringendsten Aufgaben nachjagend, von Versammlungen zu Demonstrationen, uns kaum die Zeit nahmen, über die Sache nachzudenken. An den Universitäten, im Streik, auf der Straße waren wir entsprechend unseren bescheidenen Kräften zuhause. Die Lösung des Regierungsproblems spielte sich auf einer anderen Ebene ab, auf der wir kaum Einfluss hatten." (2)
Diese Darstellung hält keiner ernsthaften Überprüfung stand. Alain Krivine war 1968 mit seinen 27 Jahren zwar noch relativ jung, verfügte aber bereits über große politische Erfahrung. Er kannte die stalinistischen Organisationen von innen und war als Mitglied des Vereinigten Sekretariats mit den internationalen Auseinandersetzungen der trotzkistischen Bewegung vertraut. Die Universität hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. Er kehrte zurück, um die Aktivitäten der JCR zu leiten.
Das politische Verhalten der JCR im Mai/Juni 68 war nicht das Ergebnis jugendlicher Unerfahrenheit, sondern die Konsequenz einer politischen Linie, die der Pablismus im Kampf gegen den orthodoxen Trotzkismus entwickelt hatte. 15 Jahre nach seinem Bruch mit der Vierten Internationale hatte das Vereinigte Sekretariat nicht nur seine politische, sondern auch seine soziale Orientierung geändert. Es war keine proletarische Strömung mehr, sondern eine kleinbürgerliche. Nachdem es eineinhalb Jahrzehnte lang Karrieristen in den stalinistischen und reformistischen Apparaten umworben und den nationalen Bewegungen geschmeichelt hatte, war ihm deren soziale Orientierung zur zweiten Natur geworden. Was als theoretische Revision des Marxismus begonnen hatte, war zum organischen Bestandteil seiner politischen Physiognomie geworden - soweit man solche Begriffe überhaupt aus der Physiologie auf die Politik übertragen kann.
Als Marx die Lehren aus der Niederlage der europäischen Revolutionen von 1848 zog, hatte er die Perspektive des Kleinbürgertums von jener der Abeiterklasse mit den Worten abgegrenzt: "Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird." (3) Diese Charakterisierung traf 1968 auch auf die Pablisten zu. Das äußerte sich in ihrer unkritischen Haltung gegenüber anarchistischen und anderen kleinbürgerlichen Strömungen, die schon Marx und Engels unversöhnlich bekämpft hatten; in der Bedeutung, die sie Rassenfragen, Genderfragen und Fragen der sexuellen Orientierung beimaßen und bis heute beimessen; und in ihrer Begeisterung für die Führer nationaler Bewegungen, die die Arbeiterklasse verachten und sich - wie die von Lenin bekämpften russischen Volkstümler - am ländlichen Kleinbürgertum orientieren.
"Eher guevaristisch als trotzkistisch"
Vor allem die unkritische Unterstützung der kubanischen Führung, die im Mittelpunkt der Vereinigung von 1963 gestanden hatte, prägte Krivines JCR. Jean-Paul Salles, Autor einer Geschichte der LCR, spricht von "der Identität einer Organisation, die unmittelbar vor dem Mai 68 in vieler Hinsicht eher guevaristisch als trotzkistisch aussah". (4)
Am 19. Oktober 1967, zehn Tage nach seiner Ermordung in Bolivien, organisierte die JCR in der Pariser Mutualité eine Gedenkveranstaltung für Che Guevara. Sein Bild war auf den Veranstaltungen der JCR allgegenwärtig. Alain Krivine schreibt in seiner 2006 erschienenen Autobiografie: "Unser wichtigster Bezugspunkt unter den Befreiungskämpfen der Länder der Dritten Welt war zweifellos die kubanische Revolution, was uns das Etikett Trotsko-Guevaristen’ einbrachte. ... Insbesondere Che Guevara verkörperte in unseren Augen das Ideal des revolutionären Kämpfers." (5)
Mit der Verherrlichung Che Guevaras ging die LCR den drängenden Problemen aus dem Weg, die mit dem Aufbau einer revolutionären Führung in der Arbeiterklasse verbunden sind. Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt, die das wechselvolle Leben des argentinisch-kubanischen Revolutionärs durchzieht, so ist es seine Feindschaft gegen eine unabhängige politische Rolle der Arbeiterklasse. Er vertrat die Auffassung, eine kleine bewaffnete Minderheit - ein im ländlichen Raum operierender Guerilla-Trupp - könne an Stelle der Arbeiterklasse die sozialistische Revolution zum Erfolg führen. Das erforderte weder eine Theorie noch eine politische Perspektive. Entscheidend waren die Aktion und der Wille einer kleinen Gruppe. Der Arbeiterklasse und den unterdrückten Massen wurde die Fähigkeit abgesprochen, politisches Bewusstsein zu erlangen und ihren eigenen Befreiungskampf zu führen.
Im Januar 1968 propagierte die JCR-Zeitung Avant-Garde Jeunesse Che Guevaras Auffassung mit den Worten: "Die Guerillas, was immer die gegenwärtigen Umstände sein mögen, sind berufen sich zu entwickeln, bis sie nach mehr oder weniger langer Zeit die ganze Masse der Ausgebeuteten in den frontalen Kampf gegen das Regime hineinziehen."
Die Guerilla-Strategie, die Guevara in Lateinamerika verfolgte, ließ sich nicht ohne weiteres auf Frankreich übertragen. Mandel, Frank und Krivine schrieben die Rolle der Avantgarde stattdessen den Studenten zu. Sie glorifizierten die spontanen Aktionen der Studenten und ihre Straßenschlachten mit der Polizei. Guevaras Konzeptionen dienten der Rechtfertigung eines blinden Aktivismus, der auf Kosten jeder ernsthaften politischen Orientierung ging. Dabei passten sich die Pablisten völlig an die antimarxistischen Theorien der Neuen Linken an, die im Studentenmilieu den Ton angaben, und blockierten so die Herausbildung einer wirklich marxistischen Orientierung.
Es gab kaum erkennbare politische Unterschiede zwischen dem "Trotzkisten" Alain Krivine, dem Anarchisten Daniel Cohn-Bendit, dem Maoisten Alain Geismar und anderen Studentenführern, die 1968 im Rampenlicht standen. In den Straßenschlachten im Quartier Latin fanden sie sich Seite an Seite wieder. "In der Woche vom 6. bis zum 11. Mai befinden sich die Mitglieder der JCR an vorderster Front und nehmen an der Seite Cohn-Bendits und der Anarchisten an allen Demonstrationen teil, einschließlich der Nacht der Barrikaden", schreibt Jean-Paul Salles. (6) Als die JCR am 9. Mai in der Mutualité, inmitten der Straßenkämpfe im Quartier Latin, eine seit langem vorbereitete Versammlung durchführte, zu der über 3.000 Teilnehmer erschienen, war einer der Hauptredner Daniel Cohn-Bendit.
In Lateinamerika unterstützte das Vereinigte Sekretariat zur selben Zeit uneingeschränkt die Guerilla-Perspektive Che Guevaras. Sein 9. Weltkongress, der im Mai 1969 in Italien tagt, wies die lateinamerikanischen Sektionen an, Che Guevaras Vorbild zu folgen, sich mit seinen Anhängern zusammenzuschließen, den Städten und der Arbeiterklasse den Rücken zu kehren und einen bewaffneten Guerillakampf zu führen, der die Revolution vom Land in die Städte tragen sollte. Zur Kongressmehrheit, die diese Strategie unterstützte, zählten neben Ernest Mandel auch die französischen Delegierten Pierre Frank und Alain Krivine. Sie hielten zehn Jahre lang daran fest, obwohl die Guerilla-Strategie auch im Vereinigten Sekretariat umstrittenen war und ihre katastrophalen Folgen schnell sichtbar wurden. Tausende Jugendliche, die diesen Anweisungen gefolgt waren und sich dem Guerilla-Kampf zugewandt hatten, opferten sinnlos ihr Leben, während die Aktionen der Guerillas - Entführungen, Geiselnahmen und heftige Scharmützel mit der Armee - die Arbeiterklasse politisch desorientierten.
Die Studenten als "revolutionäre Avantgarde"
Wie unkritisch die Pablisten die Studenten zur revolutionären Avantgarde verklärten, zeigt ein langer Artikel über die Mai-Ereignisse, den Pierre Frank Anfang Juni 1968, kurz vor dem Verbot der JCR verfasst hat.
"Es wird allgemein akzeptiert, dass die Jugend im Mai die revolutionäre Avantgarde bildete", schreibt Frank. "Die Avantgarde, politisch heterogen und nur zum kleinen Teil organisiert, hatte insgesamt ein hohes politisches Niveau. Sie verstand, dass das Ziel der Bewegung der Sturz des Kapitalismus und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft war. Sie verstand, dass die Politik des friedlichen und parlamentarischen Wegs zum Sozialismus’ und der friedlichen Koexistenz’ ein Verrat am Sozialismus war. Sie wies jede Form des kleinbürgerlichen Nationalismus zurück und zeigte auf eindringliche Weise ihren Internationalismus. Sie hatte ein starkes anti-bürokratisches Bewusstsein und war fest entschlossen, die Demokratie in ihren Reihen zu garantieren." (7)
Frank geht so weit, die Universität Sorbonne als "weitest entwickelte Form der Doppelherrschaft’" und "erstes freies Gebiet der Sozialistischen Republik Frankreich" zu bezeichnen. An anderer Stelle behauptet er: "Die Ideologie der Opposition gegen die neokapitalistische Konsumgesellschaft, die die Studenten inspirierte, ihre Kampfmethoden, die Stellung, die sie in der Gesellschaft einnehmen und einnehmen werden (sie werden die Mehrheit der Angestellten des Staats oder der Kapitalisten bilden), verliehen diesem Kampf einen ausgesprochen sozialistischen, revolutionären und internationalistischen Charakter." Der Kampf der Studenten habe "ein sehr hohes politisches Niveau im revolutionären marxistischen Sinn" gehabt. (8)
In Wirklichkeit fand sich unter den Studenten keine Spur von revolutionärem Bewusstsein im marxistischen Sinn. Die politischen Vorstellungen, die im Studentenmilieu vorherrschten, entstammten dem theoretischen Arsenal der sogenannten Neuen Linken. Sie waren in einem jahrelangen Angriff auf den Marxismus entwickelt worden.
"Die den Prozess anstoßenden studentischen Trägergruppen", schreibt die Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey über die 68er Bewegung in Frankreich, "sind Gruppen, die sich explizit auf die intellektuellen Vordenker der Neuen Linken beziehen oder doch von deren Themen und Fragestellungen beeinflusst waren, insbesondere von den Schriften der Situationistischen Internationale’, der Gruppe um Socialisme et Barbarie’ und Arguments’. Nicht nur ihre Aktionsstrategie (direkt, provokativ, situativ), sondern auch ihr Selbstverständnis (antidogmatisch, antibürokratisch, antiorganisatorisch, antiautoritär) fügt sich in das Koordinatensystem der Neuen Linken ein." (9)
Die Neue Linke betrachtete die Arbeiterklasse nicht als revolutionäre Klasse, sondern als rückständige, durch Konsum und Medien ins bürgerliche System integrierte Masse. Anstelle der kapitalistischen Ausbeutung stellte sie den Begriff der Entfremdung in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftsanalyse, den sie psychologisch oder existenzialistisch interpretierte. Die "Revolution" sollte nicht von der Arbeiterklasse, sondern von der jungen Intelligenz und von sozialen Randgruppen ausgehen. Ihre treibende Kraft waren nicht die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft, sondern das kritische Denken und Handeln einer aufgeklärten Elite. Ziel der Revolution war nicht - oder nicht vorrangig - die Umwälzung der Macht- und Eigentumsverhältnisse, sondern die Veränderung der sozialen und kulturellen, darunter auch der sexuellen Gewohnheiten. Eine solche kulturelle Veränderung galt den Vertretern der neuen Linken als Voraussetzung für eine gesellschaftliche Revolution.
Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke, die beiden bekanntesten Studentenführer in Frankreich und Deutschland, waren beide von der "Situationistischen Internationale" beeinflusst, die für eine Veränderung des Bewusstseins mittels provokativer Aktionen eintrat. Ursprünglich als Künstlergruppe entstanden, die sich auf die Traditionen von Dada und Surrealismus stützte, betonten die Situationisten vor allem die praktische Aktion. "Die aktionistische Störung, Radikalisierung, Zweckentfremdung, Umwertung und spielerische Inszenierung von konkreten alltäglichen Situationen soll das Bewusstsein der beteiligten Personen aus dem saturierten Tiefschlaf des flächendeckenden Ennui herausreißen und permanent revolutionieren", heißt es dazu in einem neueren Artikel über die Situationisten. (10)
Solche Auffassungen trennen Welten vom Marxismus. Sie bestreiten den revolutionären Charakter der Arbeiterklasse, der auf ihrer Stellung in einer Gesellschaft beruht, die durch unüberwindbare Klassengegensätze geprägt ist. Triebkraft der Revolution ist der Klassenkampf, und dieser hat objektive Ursachen. Die Aufgabe marxistischer Revolutionäre besteht daher nicht darin, die Arbeiterklasse durch provokative Aktionen aufzurütteln, sondern ihr politisches Bewusstsein zu heben und eine revolutionäre Führung aufzubauen, die sie in die Lage versetzt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Die Pablisten bescheinigten den anarchistischen, maoistischen und sonstigen kleinbürgerlichen Gruppen, die im Quartier Latin den Ton angaben, nicht nur "ein sehr hohes politisches Niveau im revolutionären marxistischen Sinn" (Pierre Frank), sie vertraten auch ähnliche politische Standpunkte und stürzten sich mit Begeisterung in ihre oft abenteuerlichen Aktionen.
Die anarchistisch inspirierten Straßenschlachten im Quartier Latin trugen nichts zur politischen Erziehung von Arbeitern und Studenten bei und konnten die Staatsmacht nie ernsthaft gefährden. Der französische Staat verfügte 1968 über einen modernen Polizeiapparat, eine in zwei Kolonialkriegen gestählte Armee sowie den Rückhalt der Nato. Er konnte nicht mit den revolutionären Mitteln des 19. Jahrhunderts - dem Bau von Barrikaden in den Straßen der Hauptstadt - zu Fall gebracht werden. Auch wenn für die exzessive Gewalt, welche die Auseinandersetzungen im Quartier Latin prägte, eindeutig die Sicherheitskräfte verantwortlich waren, haftete dem Eifer, mit dem die Studenten Barrikaden errichteten und sich Katz-und-Maus-Spiele mit der Polizei lieferten, ein Element infantiler Revolutionsromantik an.
Deckmantel für den Stalinismus
Die Stalinisten der KPF und der CGT verabscheuten zwar den rebellischen Geist der Jugend und hassten deshalb die linken Studentengruppen, die sie als "Gauchistes" (Linksradikale) und "Provokateure" beschimpften. Doch politisch konnten sie gut mit ihnen leben. Die anarchistischen Aktionen eines Cohn-Bendit gefährdeten die Vorherrschaft der Stalinisten in der Arbeiterklasse ebenso wenig wie die Schwärmerei der Maoisten für die chinesische Kulturrevolution und den bewaffneten Kampf.
Und die Pablisten gingen dem Konflikt mit den Stalinisten sorgfältig aus dem Weg. Sie ergriffen keine einzige politische Initiative, die den Gegensatz zwischen den Arbeitern und den stalinistischen Führern verschärft und letztere in Bedrängnis gebracht hätte. Auf dem Höhepunkt der Krise, als die Arbeiter das Abkommen von Grenelle zurückwiesen und die Frage der Macht im Raum stand, hielt die JCR den Stalinisten den Rücken frei. Alain Krivine und Daniel Bensaid haben zwanzig Jahre später einen Rückblick auf 1968 veröffentlicht, der - obwohl er versucht, die Rolle der JCR schön zu färben - in dieser Hinsicht äußerst entlarvend ist. (11)
Die JCR beteiligte sich an beiden großen Kundgebungen, mit denen Sozialdemokraten und Stalinisten auf die Zuspitzung der politischen Krise reagierten - an der Massenversammlung im Stadion Charléty, die der Studentenverband UNEF, die Gewerkschaft CFDT und die PSU am 27. Mai veranstalteten, und an der Großdemonstration der KPF und CGT vom 29. Mai.
Die Versammlung im Stadion Charléty sollte einer Übergangsregierung unter dem erfahrenen bürgerlichen Politiker Pierre Mendés-France den Weg bereiten, der mittlerweile das Parteibuch der PSU besaß. Eine solche Regierung hätte die Aufgabe gehabt, den Streik unter Kontrolle zu bringen, die Ordnung wieder herzustellen und Neuwahlen vorzubereiten.
Selbst Teile der rechten Presse waren zu diesem Zeitpunkt der Auffassung, dass nur noch eine solche "linke" Regierung die bestehende Ordnung retten könne. Das Finanzblatt Les Echos schrieb am 28. Mai, es bestehe nur noch die Wahl zwischen Reform und Revolution - oder "Anarchie", wie sich das Finanzblatt ausdrückte. Unter der Schlagzeile "Man muss einen Ausweg finden" kommentierte es: "Niemand denkt jetzt noch daran, jemandem gehorchen oder glauben zu wollen. Bisher schien es, als sei die CGT ein Bollwerk der Ordnung und der Disziplin. Doch jetzt wird sie von einem meuternden Fußvolk ins Wanken gebracht, dessen Revolte sie unerschätzt hat. Die Gewerkschaftsführer werden von Streikenden zur Seite gedrängt, die keinen Versprechen mehr glauben, egal von wem sie kommen. Schon gar nicht denen der Regierung... Ja zur Reform, nein zur Unordnung’, hatte der General (de Gaulle) unlängst in einer unglücklichen Formulierung gesagt. Heute hat man gleichzeitig die Reform und die Anarchie, ohne dass man voraussehen kann, welche obsiegen wird."
Die KPF war damals bereit, sich an einer bürgerlichen Linksregierung zu beteiligen. Ihr Generalsekretär Waldeck Rochet hatte François Mitterrand am 27. Mai ein sofortiges Treffen vorgeschlagen, um die Bedingungen für eine "Ablösung der gaullistischen Macht durch eine Volksregierung der demokratischen Einheit auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms" festzulegen. Für Kenner der stalinistischen Terminologie konnte kein Zweifel dran bestehen, dass mit einer "Volksregierung der demokratischen Einheit" eine bürgerliche Regierung gemeinst war, die das kapitalistische Eigentum verteidigt.
Doch die KPF fürchtete auch, dass Mitterrand und Mendès-France eine Regierung ohne sie bilden könnten. Daher veranstaltete sie am 29. Mai gemeinsam mit der CGT eine eigene Großdemonstration unter der Parole "Volksregierung". Diese Parole kam der revolutionären Stimmung in den Betrieben entgegen, obwohl die KPF nicht im Traum an eine revolutionäre Machtübernahme dachte und lediglich eine Koalitionsregierung mit Mitterrand oder anderen bürgerlichen Politikern anstrebte.
Die JCR beteiligte sich an der KPF-CGT-Demonstration unter der Parole: "Volksregierung ja! Mitterrand, Mendès-France nein!", und unterstützte auf diese Weise das Manöver der KPF. Krivine und Bensaid schreiben rückblickend über die damalige Parole der JCR: "Die Formel spielte mit Zweideutigkeiten. Sie stellte eine Volksregierung, die die kämpferischsten Teile als Ergebnis des Streiks und seiner Organe interpretieren konnten, einer Regierung politischer Persönlichkeiten entgegen. Ohne eine Koalitionsregierung der Linksparteien frontal zurückzuweisen, nahm sie die Persönlichkeiten aufs Korn, die keine präzisen Verbindungen zur Arbeiterbewegung hatten und anfällig waren, ihre institutionelle Autonomie für Kombinationen der Klassenzusammenarbeit zu nutzen... Die Formel Volksregierung’ hatte trotz ihrer absichtlichen Unschärfe den Vorteil, eine Regierung der Linksparteien zu benennen, ohne sich auf genauere Überlegungen einzulassen." (12)
Mit anderen Worten: Die Formel der JCR sollte den "kämpferischsten Teilen" vorgaukeln, eine bürgerliche Linksregierung mit KPF-Beteiligung wäre ein "Ergebnis des Streiks und seiner Organe". Das ist ein entlarvendes Eingeständnis. Zu einem Zeitpunkt, an dem die revolutionäre Krise ihren Höhepunkt erreichte, die CGT ihre Autorität einbüßte, de Gaulle von der Bildfläche verschwand - zu einem Zeitpunkt also, an dem es nötig gewesen wäre, offen und entschieden Stellung zu beziehen, spielte die JCR mit "Zweideutigkeiten" und blieb "absichtlich unscharf". Der entscheidenden Frage, wer die Macht im Staat hat, wich sie aus. Die Forderung nach einer "Volksregierung", die sie von den Stalinisten übernommen hatte, erfreute sich zwar großer Popularität. Doch sie blieb allgemein und unverbindlich. Die Kommunistische Partei verstand darunter eine Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Radikalen, deren wichtigste Aufgabe es gewesen wäre, die bestehende Ordnung zu erhalten. Nichts lag ihr ferner, als eine revolutionäre Machtübernahme. Die Pablisten hinterfragten das nicht und reihten sich hinter den Stalinisten ein.
Was hätte die JCR tun müssen?
Um selbst die Macht zu ergreifen, fehlten der JCR offensichtlich die Kräfte. Doch es gibt viele historische Präzedenzfälle, die zeigen, wie revolutionäre Marxisten, auch wenn sie in der Minderheit sind, für ihr Programm kämpfen und die Mehrheit der Arbeiter gewinnen können.
In Russland waren Lenins Bolschewiki den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu Beginn des Jahres 1917 deutlich unterlegen. Doch es gelang ihnen, durch eine geschickte und prinzipielle Politik die Arbeiterklasse zu gewinnen und im Oktober die Macht zu übernehmen. In Frankreich hatte Trotzki, der von 1933 bis 1935 im französischen Exil lebte, in den 1930er Jahren regen Anteil am Leben der französischen Sektion genommen und detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie sie als Minderheit für ein revolutionäres Programm kämpfen konnte. Die zentrale Frage war dabei stets die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von den reformistischen - und später auch stalinistischen - Apparaten und der Aufbau einer unabhängigen revolutionären Partei.
Als Lenin im April 1914 aus dem Exil nach Russland zurückkehrte, lief er Sturm gegen die versöhnlerische Haltung, die die Bolschewiki vor Ort gegenüber der bürgerlichen Provisorischen Regierung eingenommen hatten, in der die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre Minister stellten. Er bestand auf bedingungsloser Opposition und einem Programm, das die Machtergreifung durch die Sowjets antrebte.
Im Rahmen dieses Programms bedienten sich die Bolschewiki einer Taktik, die die Kluft zwischen den Arbeitern und ihren reformistischen Führern vertiefte und den Arbeitern half, von den Reformisten zu brechen. Sie forderten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki auf, mit der liberalen Bourgeoisie zu brechen und selbst die Macht in die Hand zu nehmen. Obwohl die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie außerstande seien, eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung zu bilden, kommentierte Trotzki später diese Erfahrung im "Übergangsprogramm", war die "Aufforderung der Bolschewiki: Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure Hände!’ für die Massen von unschätzbarem erzieherischen Wert. Das beharrliche Widerstreben der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegen die Machtübernahme... verurteilte sie endgültig in den Augen des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor." (13)
Auch die JCR hätte 1968 verlangen müssen, dass KPF und CGT gestützt auf den Generalstreik die Macht übernehmen. Verbunden mit einer systematischen Agitation gegen den versöhnlichen Kurs der Stalinisten gegenüber den bürgerlichen Parteien hätte diese Forderung eine große politische Sprengkraft entfaltet. Sie hätte den Konflikt zwischen den Arbeitern und den stalinistischen Führern verschärft und den Arbeitern geholfen, von ihnen zu brechen. Doch den Pablisten lag nichts ferner, als die Stalinisten durch eine solche Forderung in Verlegenheit zu bringen. Auf dem Höhepunkt der revolutionären Krise bewährten sie sich als verlässliche Stützen der stalinistischen Bürokratie.
Die Pablisten konnten zwar die konterrevolutionäre Rolle der Stalinisten nicht einfach ignorieren, da selbst die bürgerliche Presse offen darüber schrieb. So beschuldigte Pierre Frank die KPF und die CGT im Juni 1968, sie hätten "zehn Millionen Streikende im Bestreben um fünf Millionen Wählerstimmen verraten". Er verglich den "Verrat der Führung der KPF" sogar mit dem historischen Verrat der deutschen Sozialdemokratie: "Wenn die KPF-Führung bisher nicht so weit gegangen ist wie die Noskes und Eberts 1918-19 gegen die deutsche Revolution, dann nur, weil die Bourgeoisie das nicht nötig hatte. Aber ihr Verhalten gegenüber den Gauchistes’ lässt keinen Zweifel, dass sie dazu bereit wäre, sollte es nötig sein." (14)
Aber indem sie ihre gesamte politische Energie auf abenteuerliche Aktionen konzentrierten und die Studenten zur revolutionären Avantgarde erklärten, gingen die Pablisten der entscheidenden Frage gezielt aus dem Weg: Dem Aufbau einer neuen revolutionären Führung in Form einer Sektion der Vierten Internationale. Sie waren sorgfältig darauf bedacht, die politische Vorherrschaft der Stalinisten nicht in Frage zu stellen. Pablos liquidatorischer Kurs der Anpassung an den Stalinismus, der 1953 zur Spaltung der Vierten Internationale geführt hatte, bildete auch 1968 den Kern ihrer Politik. Sie riefen weder zum Bruch mit den Stalinisten auf, noch traten sie für den Aufbau der Vierten Internationale ein. Stattdessen taten sie so, als könnten die Aktionen der Jugend den Verrat der Stalinisten spontan überwinden und die Krise der proletarischen Führung lösen. Damit wurden sie selbst zum wichtigsten Hindernis für die Entwicklung einer wirklichen revolutionären Avantgarde.
Leo Trotzki war 1935 in Frankreich für den Aufbau von Aktionskomitees eingetreten, um der Volksfront, die er als "Koalition des Proletariats mit der imperialistischen Bourgeoisie in der Person der Radikalen Partei" bezeichnete, entgegen zu treten.
"Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil. einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Vertreter in ein lokales Aktionskomitee wählen," schrieb er. An den Wahlen zu den Aktionskomitees könnten "nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte, Beamte, Kriegsteilnehmer, Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern teilnehmen. Auf diese Weise entsprechen die Aktionskomitees vortrefflich den Aufgaben des Kampfes des Proletariats um den Einfluss auf das Kleinbürgertum. Dafür aber erschweren sie ungemein die Zusammenarbeit der Arbeiterbürokratie mit der Bourgeoisie." Trotzki betonte, dass es nicht "um die formell-demokratische Vertretung aller und jeder Massen, sondern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen" gehe. "Das Aktionskomitee ist der Apparat des Kampfes." Es sei "das einzige Mittel, den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen." (15)
Die Pablisten griffen diese Forderung nach Aktionskomitees 1968 auf. So verbreitete die JCR am 21.Mai ein Flugblatt, das für die Gründung von Streikkomitees in den Betrieben und von Aktionskomitees an den Fakultäten und in den Wohngebieten eintritt. Es ruft zur Bildung einer Arbeiterregierung auf und unterstreicht: "Die Macht, die wir wollen, muss den Streik- und Aktionskomitees der Arbeiter und Studenten entspringen". Doch die Anpassung der Pablisten an die Stalinisten und kleinbürgerliche Radikalen beraubte diese Forderung jedes revolutionären Inhalts. Losgelöst vom Aufbau einer neuen revolutionären Führung war sie nichts weiter als radikale Begleitmusik für eine opportunistische Politik. (16)
Trotzki gegen Pierre Frank
Pierre Frank spielte nicht zum ersten Mal eine derartige politische Rolle. Er war schon 1935 aus ähnlichen Gründen von Leo Trotzki heftig angegriffen und schließlich aus der trotzkistischen Bewegung ausgeschlossen worden. Damals hatte er gemeinsam mit Raymond Molinier eine Gruppe um die Zeitschrift La Commune geführt, die im Namen der "revolutionären Aktion" ein Zusammengehen mit zentristischen Strömungen, insbesondere der Gauche révolutionnaire von Marceau Pivert anstrebte. Pivert seinerseits war ein unverbesserlicher Zentrist. Er neigte in Worten zur Revolution, während er in der Praxis den linken Flügel der Volksfrontregierung Léon Blums bildete, die 1936 den Generalstreik erstickte.
Trotzki wies Piverts Zentrismus und die Manöver von Molinier und Frank unerbittlich zurück. "Das Wesen der Pivert-Tendenz besteht in Folgendem", schrieb er: "Revolutionäre’ Parolen akzeptieren, aber nicht die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen, nämlich den Bruch mit Blum und Zyromsky [ein rechter Sozialdemokrat], der Aufbau einer neuen Partei und der neuen Internationale. Ohne das werden alle revolutionären Parolen null und nichtig." Er warf Molinier und Frank vor, sie hätten versucht, "die Sympathien der Gauche révolutionnaire durch persönliche Manöver, durch Hinterzimmerkombinationen und vor allem durch das Aufgeben unserer Parolen und unserer Kritik an den Zentristen zu gewinnen." (17)
In einem weiteren Artikel bezeichnete Trotzki die Haltung von Molinier und Frank als politisches Verbrechen. Er warf ihnen vor, sie versteckten ihr Programm und legten "den Arbeitern falsche Pässe vor. Es ist ein Verbrechen!" Er beharrte darauf, dass die Verteidigung des revolutionären Programms Vorrang gegenüber der Aktionseinheit habe: "’Massenzeitung’? Revolutionäre Aktion? Überall Kommunen? ... Sehr schön, sehr schön. ... Aber erst das Programm." (18)
"Ohne die neue revolutionäre Partei ist das französische Proletariat zu einer Katastrophe verurteilt", fuhr er fort. "Die Partei des Proletariats kann nur international sein. Die Zweite und die Dritte Internationale sind zum größten Hindernis für die Revolution geworden. Es ist notwendig, eine neue Internationale zu schaffen - die Vierte. Wir müssen ihre Notwendigkeit offen verkünden. Sie sind kleinbürgerliche Zentristen, die bei jedem Schritt vor den Konsequenzen ihrer eigenen Ideen zurückschrecken. Der revolutionäre Arbeiter kann durch seine traditionelle Bindung an die Zweite oder Dritte Internationale gelähmt sein, aber wenn er die Wahrheit verstanden hat, wird er direkt zum Banner der Vierten Internationale übergehen. Daher müssen wir den Massen ein vollständiges Programm vorlegen. Mit zweideutigen Formeln können wir nur Molinier dienen, der seinerseits Pivert dient, der wiederum Leon Blum abdeckt. Und Letzterer stellt all seine Kräfte hinter [den Faschisten] de la Rocque ..." (19)
Pierre Frank hatte drei Jahrzehnte später aus dem damaligen Konflikt mit Trotzki nichts gelernt. Er stand 1968 noch viel weiter rechts als 1935. Diesmal suchte er nicht nur die Einheit mit Zentristen wie Marceau Pivert, sondern auch mit Anarchisten, Maoisten und anderen rechten Tendenzen. Der Vorwurf des politischen Verbrechens, den Trotzki damals gegen ihn erhoben hatte, war 1968 noch weit berechtigter. Die Pablisten bildeten das entscheidende Hindernis, das der Hinwendung der Jugend und der Arbeiter zum revolutionären Marxismus im Wege stand.
Schließlich schoben sie die Verantwortung für den stalinistischen Verrat und ihr eigenes Versagen der Arbeiterklasse selbst zu. Krivine und Bensaid schrieben zwanzig Jahre später: "Man kann die Schwäche der organisierten revolutionären Kräfte am Beginn der Bewegung den Untaten des Stalinismus und der Sozialdemokratie anlasten. Aber wenn man nicht in einen hirnverbrannten Idealismus verfallen will, dann ist sie auch, und sei es in deformierter Weise, Ausdruck eines allgemeineren Zustands der Arbeiterklasse, ihrer kämpferischen Strömungen, ihrer natürlichen Vorhut in Betrieben und Gewerkschaften." Es habe zwar Widersprüche zwischen der Dynamik des Kampfs und der Kommunistischen Partei gegeben, fuhren sie fort: "Aber diese bleiben Randerscheinungen. ... Die Masse der Streikenden wollte einen sozialen Konflikt regeln und das Joch eines autoritären Regimes abschütteln. Von da bis zu Revolution war noch ein weiter Weg." (20)
Weitere zwanzig Jahre später wurde Krivine noch deutlicher: "Sicher, wir wussten in der Führung der JCR nicht, wie weit die Bewegung gehen würde", schreibt er in seiner Autobiografie. "Aber wir wussten recht genau, wohin sie nicht gehen würde. Es war eine Revolte von unübertroffener Größe, aber es war keine Revolution: Es gab weder ein Programm noch glaubwürdige Organisationen, die bereit gewesen wären, die Macht zu übernehmen." (21)
Diese Argumentationsweise ist charakteristisch für den pablistischen Opportunismus. Trotzki hat sie in der Auseinandersetzung mit der spanischen POUM einmal als "Philosophie der Ohmacht" bezeichnet, "die versucht, Niederlagen als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen hinzunehmen", und "total unfähig ist, Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlagen waren, überhaupt aufzuwerfen". (22)
Die LCR heute
Der französische Innenminister Raymond Marcellin ließ die JCR und deren Nachfolgeorganisation Ligue communiste gleich zwei Mal verbieten: Am 12. Juni 1968, als er insgesamt zwölf linke Organisationen auflöste, und am 28. Juni 1973, nachdem es anlässlich einer antifaschistischen Demonstration in Paris zu heftigen Kämpfen mit der Polizei gekommen war. Aber den weitsichtigeren Elementen der herrschenden Klasse war seit 1968 klar, dass von der LCR keine Gefahr für die bürgerliche Ordnung ausging und dass man sich in Zeiten der Krise auf sie verlassen konnte.
Nachdem die revolutionäre Welle von 1968 verebbt war, wurden die LCR und die Organisationen, mit denen sie damals zusammenarbeitete, zu einem fruchtbaren Rekrutierungsfeld für die etablierten Parteien, die bürgerlichen Medien, die Universitäten und den Staatsapparat. Man findet ehemalige LCR-Mitglieder in den Führungspositionen der Sozialistischen Partei (Henri Weber, Julien Dray, Gérard Filoche, usw.), auf philosophischen Lehrstühlen (Daniel Bensaid) und in den Redaktionen bürgerlicher Zeitungen.
Edwy Plenel, der aus den Reihen der LCR an die Spitze der renommierten Tageszeitung Le Monde aufstieg, schreibt in seinen Erinnerungen: "Ich war nicht der einzige: wir sind sicher einige Zehntausende, die, nachdem wir in den sechziger und siebziger Jahren mehr oder weniger auf der - trotzkistischen oder nicht trotzkistischen - extremen Linken engagiert waren, die kämpferischen Lehren zurückgewiesen haben und unsere damaligen Illusionen zum Teil kritisch betrachten, ohne jedoch eine Treue zu unserer ursprünglichen Wut aufzugeben und ohne unsere Schuld gegenüber dieser Ausbildung zu verschweigen." (23)
Der Anarchist Daniel Cohn-Bendit wurde zum politischen Mentor und engen politischen Freund Joschka Fischers, der von 1998 bis 2005 an der Spitze des deutschen Außenministeriums stand. Cohn-Bendit selbst leitet derzeit die Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament und zählt selbst in dieser weit nach rechts gerückten Partei zum äußersten rechten Flügel.
Der Maoist Alain Geismar übernahm 1990 die Verantwortung für die Generalsinspektion der Nationalen Erziehung und bekleidete anschließend Staatssekretärsposten in verschiedenen sozialistisch geführten Ministerien. Ebenfalls den Maoisten verdankt die etablierte Tageszeitung Libération ihre Entstehung. Sie wurde 1973 als maoistisches Organ mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre als Chefredakteur gegründet.
Die Zahl der 68er Radikalen, die eine steile Karriere gemacht haben, ist derart hoch, dass man sie nicht einfach mit dem Phänomen der "Rückkehr des verlorenen Sohnes" erklären kann. Sie ist vielmehr ein Ergebnis der Tatsache, dass die Pablisten und ihre Verbündeten bei aller radikalen Rhetorik stets eine opportunistische, mit der bürgerlichen Ordnung kompatible Perspektive vertraten.
Heute wird die LCR angesichts einer ökonomischen und politischen Krise, die vielfach tiefer ist als 1968, wieder gebraucht. Die Auswirkungen von Globalisierung, internationaler Finanzkrise und steigenden Ölpreisen haben den Spielraum für soziale Kompromisse auch in Frankreich beseitigt. KPF und CGT sind nur noch ein Schatten ihrer selbst; gerade sieben Prozent aller Arbeitnehmer sind gewerkschaftlich organisiert. Die Sozialistische Partei, als Reaktion auf 1968 gegründet und drei Jahrzehnte lang wichtigste Stütze der bürgerlichen Herrschaft, ist in sich zerstritten und befindet sich im freien Fall. Die sozialen Gegensätze sind zum Zerreißen gespannt. Seit zwölf Jahren folgt eine Streik- und Protestwelle der anderen.
Unter diesen Umständen braucht die herrschende Elite eine neue Stütze auf der Linken, die in der Lage ist, die wachsende Zahl von Arbeitern und Jugendlichen, die den Glauben an eine reformistische Lösung der gesellschaftlichen Krise verloren haben, zu desorientieren und von einer revolutionären Alternative abzuhalten. Diesem Zweck dient die neue "antikapitalistische Partei", welche die LCR Ende des Jahres aus der Taufe heben will. Ihr Sprecher Olivier Besancenot, von Alain Krivine zu seinem Nachfolger aufgebaut, wird von den Medien zum Politstar aufgebaut, nachdem er bei der letzten Präsidentenwahl 1,5 Millionen Stimmen erhalten hat.
Die Parallelen zwischen der JCR von 1968 und der "antikapitalistischen Partei" von heute fallen ins Auge. Das beginnt mit der Glorifizierung Che Guevaras, zu dem sich Besancenot ausdrücklich bekennt und über den er im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht hat. Es geht weiter mit der unkritischen Anpassung an kleinbürgerlich radikale Strömungen aller Schattierungen. Die neue Partei ist - in den Worten Besancenots - offen für "Ex-Mitglieder politischer Parteien, Animateure der Gewerkschaftsbewegung, Feministen, Gegner des Liberalismus, Anarchisten, Kommunisten oder Antiliberale." Und schließlich lehnt sie den historischen Bezug auf den Trotzkismus ausdrücklich ab. Eine solche Partei, die programmatisch formlos und eklektisch und durch keinerlei Prinzipien gebunden ist, kann leicht manipuliert und an die jeweiligen Erfordernisse der herrschenden Klasse angepasst werden.
Die Lehren von 1968 sind also nicht nur von historischem Interesse. Damals ist es der herrschenden Klasse gelungen, eine revolutionäre Krise mit Hilfe der Stalinisten und der Pablisten unter Kontrolle zu bekommen und ihre Herrschaft wieder zu stabilisieren. Ein zweites Mal wird sich die Arbeiterklasse nicht täuschen lassen.
Der zentristische Kurs der OCI
Die Organisation communiste internationaliste (OCI) brach zwar erst 1971 offiziell mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale, aber ihre politische Linie hatte sich 1968 schon weit von der revolutionären Perspektive entfernt, die sie Anfang der fünfziger Jahre gemeinsam mit den anderen Sektionen des Internationalen Komitees gegen den pablistischen Revisionismus verteidigt hatte. Sie vertrat 1968 einen Kurs, der den Traditionen des Zentrismus und des französischen Syndikalismus viel näher stand, als dem revolutionären Programm der Vierten Internationale. Wie die Pablisten trägt auch die OCI ein hohes Maß an Verantwortung dafür, dass es den Stalinisten gelang, den Generalstreik abzuwürgen und das gaullistische Regime zu retten.
Den Dreh- und Angelpunkt der politischen Linie der OCI bildete die Forderung nach einem zentralen Streikkomitee. Sie wurde begleitet vom alles übertönenden Ruf nach "Einheit" oder - wie die Formel der OCI lautete - nach der "Klasseneinheitsfront der Arbeiter und ihrer Organisationen". Beides zog sich in den entscheidenden Monaten des Jahres 1968 wie ein roter Faden durch sämtliche Verlautbarungen und Aufrufe der OCI und ihrer Frontorganisationen hindurch.
In einem 300-seitigen Buch, das sie ein knappes Jahr nach dem Generalstreik veröffentlicht hat, fasst die OCI ihre damalige Orientierung mit den Worten zusammen: "Die Strategie und Taktik des Proletariats im Kampf um die Macht ... besteht im Kampf für die Klasseneinheitsfront der Arbeiter und ihrer Organisationen, ein Kampf, der im Mai 1968 die spezifische Form der Parole des nationalen Generalstreikkomitees annahm."
Autor dieses Buches, das als Sondernummer der OCI-Zeitung Informations Ouvrières herauskam, ist François de Massot, ein führenden Mitglied der Organisation seit 1950. De Massot gibt eine detaillierte Schilderung der täglichen Ereignisse und liefert ausführliches Material über das Eingreifen der OCI, einschließlich der Wiedergabe von Aufrufen und Flugblättern. Anhand seines Buches lässt sich deren politische Linie gut rekonstruieren. (24)
Die "Klasseneinheitsfront"
Leo Trotzki, der die Vierte Internationale in einem heftigen politischen Kampf gegen den Zentrismus gründete, fasste dessen Haltung zur Einheitsfront mit den Worten zusammen: "Der Zentrist schwört auf die Einheitsfrontpolitik, wobei er sie des revolutionären Inhalts beraubt und aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz macht." Der zentristischen Sozialistischen Arbeiterpartei schrieb er 1932 ins Stammbuch: "Jedenfalls kann die Einheitsfront nicht einer revolutionären Partei als Programm dienen. Darauf ist aber die gesamte Tätigkeit der SAP aufgebaut." (25)
Dieser Vorwurf trifft auch auf die Tätigkeit der OCI im Jahr 1968 zu. Sie verwandelte die Einheitsfrontpolitik aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz ihres Programms. Im Namen der Einheitsfront, unter der sie die Einheit aller Gewerkschaften verstand, verzichtete sie auf jede revolutionäre Initiative. Darin besteht die Bedeutung der merkwürdigen Formel "Klasseneinheitsfront der Arbeiter und ihrer Organisationen", die sie in all ihren Aufrufen und Erklärungen gebetsmühlenhaft wiederholte. Während die OCI den Pablisten und den kleinbürgerlichen Studentenführern mit einer gewissen Berechtigung vorwarf, sie ignorierten die bestehenden Massenorganisationen, verwandelte sie diese selbst in einen Fetisch und beharrte darauf, dass alle Kämpfe der Arbeiter in ihrem Rahmen bleiben müssen.
Schon im Sommer 1967 hatte eine große, von der OCI organisierte Versammlung eine Resolution verabschiedet, in der es hieß: "Wir erklären feierlich, dass es nicht unsere Absicht ist, stellvertretend für die Arbeiterorganisationen und deren Zentralen die Aktionseinheit zu verwirklichen, eine Aufgabe, die natürlich den Gewerkschaften obliegt."
De Massot zitiert diese Resolution in seinem Buch und rechtfertigt sie mit der Begründung, die Gewerkschaften verkörperten ganz unabhängig von der jeweiligen Politik ihrer Führung die Interessen der Arbeiterklasse. Wörtlich schreibt er: "Die Arbeiter werden zur Klasse durch die Organisationen, die sie im Kampf gegen die Ausbeutung aufgebaut haben und die ihnen als Mittel für den Zusammenschluss gegen den Klassenfeind dienen. Aufgrund ihrer objektiven Stellung im Kampf - das heißt unabhängig von der Politik ihrer momentanen Führung - verkörpern diese Organisationen Positionen der Arbeiterklasse in ihrem ständigen Kampf gegen die Ausbeutung. Die Arbeitereinheitsfront kann nur mittels der Klassenorganisationen des Proletariats verwirklicht werden." (26)
Ausgehend von dieser Einschätzung verzichtete die OCI 1968 darauf, das bürgerlich-reformistischen Programm der Gewerkschaften zu kritisieren. Der einzige Vorwurf, den sie gegen die Gewerkschaftszentralen erhob, lautete, diese verhinderten die Einheit der Arbeiter. Ihre eigenen politischen Initiativen beschränkten sich darauf, für eine Zusammenarbeit der verschiedenen Gewerkschaften auf allen Ebenen einzutreten. Das war der wesentliche Inhalt ihrer Forderung nach einem zentralen Streikkomitee, wie wir später noch sehen werden.
Auch gegenüber den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien enthielt sich die OCI in ihren massenhaft verbreiteten Aufrufen und Flugblättern jeder offenen Kritik. Während sie in theoretischen Artikeln und Analysen, die für einen kleinen Leserkreis bestimmt waren, deren konterrevolutionäre Rolle offen beim Namen nannte, beschränkte sie sich in den für die Massen bestimmten Flugblättern auf Einheitsappelle an die reformistischen und stalinistischen Gewerkschaftsführer.
Mit der Taktik der Einheitsfront, wie sie von der marxistischen Bewegung entwickelt worden war, hatte diese Politik der OCI nichts gemein. Leo Trotzki hatte die Notwendigkeit der Einheitsfront 1922 mit dem Bedürfnis erklärt, "ungeachtet der aktuell unvermeidlichen Spaltung der politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen, dieser die Möglichkeit der Einheitsfront im Kampfe gegen die Kapitalisten zu sichern". (27)
Im Jahr davor hatte der dritte Kongress der Kommunistischen Internationale darauf gedrängt, dass die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) der Taktik der Einheitsfront übernimmt. Die Komintern zog damit die Lehren aus der so genannten "Märzaktion", einem Aufstandsversuch der KPD, der isoliert geblieben und gescheitert war. Sie folgerte aus dieser Niederlage, die KPD müsse erst die Massen erobern, bevor sie die Macht erobern könne. Sie verband die Einheitsfrontpolitik mit der Forderung nach einer Arbeiterregierung, Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften und einer Reihe von Übergangsforderungen, denn, so Trotzki, "die Masse lebt auch in einer revolutionären Epoche ihr Alltagsleben, wenn auch auf etwas andere Art und Weise." (28)
Zehn Jahre später trat Trotzki in Deutschland erneut für die Einheitsfronttaktik ein. Nun ging es darum, die Machtübernahme Hitlers zu verhindern. Trotzki drängte darauf, dass Kommunisten und Sozialdemokraten eine Einheitsfront gegen die heraufziehende nationalsozialistische Gefahr bilden. Die Führer beider Parteien lehnten dies strikt ab. Die Weigerung der stalinistischen KPD-Führer, mit den "Sozialfaschisten" der SPD zusammenzuarbeiten, spaltete und lähmte die Arbeiterklasse und ermöglichte schließlich Hitlers Sieg.
In beiden Fällen war die Einheitsfront eine Taktik und kein Ersatz für eine revolutionäre Strategie. Sie beschränkte sich auf die Zusammenarbeit in praktischen Fragen und bedeutete nicht, dass die KPD ihr eigenes Programm aufgeben und auf Kritik an der SPD verzichten sollte. Trotzki gab sich nie der Illusion hin, die soziademokratischen Führer könnten mithilfe der Einheitsfront in Revolutionäre verwandelt werden. Die Einheitsfront diente vielmehr dazu, die Massen vom Einfluss der sozialdemokratischen Führer zu lösen. Wenn die Kommunisten den sozialdemokratischen Arbeitern ihre Bereitschaft bewiesen, ohne Vorbedingungen ihre Alltagsinteressen zu verteidigen und einen Block mit der SPD gegen die Faschisten zu bilden, schwächte das die SPD-Führer, die einer Zusammenarbeit mit dem bürgerlichen Staat den Vorzug gaben. Die SPD-Mitglieder konnten sich dann aus eigener Erfahrung überzeugen, was ihre Organisationen und ihre Führer wert waren.
Unter keinen Umständen bedeutete die Einheitsfront den Verzicht auf eine eigenständige revolutionäre Politik. "In dem Augenblick, da die Reformisten den Kampf zum Schaden der Bewegung oder im Gegensatz zur Lage und zur Stimmung der Massen zu bremsen beginnen, wahren wir uns als unabhängige Organisation stets das Recht, den Kampf bis zum Ende und ohne unsere zeitweiligen Halbverbündeten zu führen", betonte Trotzki 1932. (29)
Syndikalismus statt Marxismus
Die OCI verwandelte die Einheitsfrontpolitik aus einer revolutionären Taktik in eine opportunistische Rechtfertigung für ihre Unterordnung unter die Gewerkschaften. Sie beharrte darauf, dass die Kämpfe der Arbeiter und Studenten auf den Rahmen dieser Organisationen beschränkt bleiben müssen, und verzichtete auf alle politischen Initiativen, die den Konflikt zwischen den Arbeitern und den Gewerkschaftsapparaten hätten verschärfen können.
Dabei war nur eine Minderheit der abhängig Beschäftigten in den Gewerkschaften organisiert. Damals waren es knapp 30 Prozent, heute sind es nur noch sieben. Zwei Drittel aller Arbeiter und die überwältigende Mehrheit der Jugend standen außerhalb der Gewerkschaften. Für sie hatte die OCI keine Perspektive. Sie verwies sie an die Gewerkschaften, gegen die sie zu Recht ein tiefes Misstrauen hegten.
Die Studenten orientierte sie auf den Studentenverband UNEF, der damals vom sozialdemokratischen Parti socialiste unifié (PSU) Michel Rocards dominiert wurde. "Für die Organisierung des Widerstands verfügten die Studenten über ein Instrument, eine Gewerkschaft, die Union Nationale des Étudiants de France", schreibt de Massot. "Mit Beginn des wirklichen Kampfs gewinnt die UNEF trotz des Zögerns und der Schwächen ihrer Führung ihre volle Bedeutung zurück. Durch ihr verantwortungsvolles Eingreifen in ihrer Eigenschaft als studentische Gewerkschaftsorganisation macht sie den Kampf gegen die Repression zur Sache der Masse der Studenten und konfrontiert die Arbeiterorganisationen gleichzeitig mit ihrer Verantwortung. Sie ist das Mittel zur Mobilisierung der Studenten und ermöglicht gleichzeitig einen echten Kampf für die Einheitsfront." (30)
Gerichtet gegen die Pablisten schreibt de Massot: "Wer den Kampf für die Einheitsfront der Arbeiter und der Organisationen ablehnt und ihr eine vorgebliche Einheit an der Basis entgegenstellt, die schlicht und einfach die Organisationen außer Acht lässt, die von der Arbeiterklasse in eineinhalb Jahrhunderten Kämpfen und Opfern errichtet wurden - die Organisationen, durch die sie sich als Klasse konstituiert hat, die sich ihrer selbst und des Kampfs gegen das Kapital bewusst ist, und in denen sie sich notwendigerweise sammelt, um diesen Kampf zu führen -, wer die Massenorganisationen und ihre bürokratischen Führungen verwechselt, wer CGT Verrat’ schreit und die Gewerkschaften und politischen Parteien mit einer noblen Geste von der Karte des Klassenkampfs streicht, der ergreift in Wirklichkeit vor dem Kampf gegen die Bürokratien und vor dem Kampf gegen den kapitalistischen Staat die Flucht."
Diese Glorifizierung der Gewerkschaften als Organisationen, durch die sich die Arbeiterklasse "als Klasse konstituiert hat, die sich ihrer selbst und des Kampfs gegen das Kapital bewusst ist", entstammt nicht der marxistischen Tradition, sondern der Tradition des Syndikalismus, der in Frankreich eine lange und ausgeprägte Geschichte hat. Die marxistische Bewegung hat stets ein kritisches Verhältnis zu den Gewerkschaften gepflegt. So betonte Lenin, gewerkschaftliches Bewusstsein sei bürgerliches Bewusstsein. In Zeiten heftiger gesellschaftlicher Erschütterungen (wie 1914 bis 1918 in Deutschland) standen die Gewerkschaften in der Regel am äußersten rechten Flügel der Arbeiterbewegung. (31)
Die französischen Syndikalisten beharrten auf dem Prinzip der Nichteinmischung der Politik in die Gewerkschaften. 1906 verankerte die CGT den Grundsatz der vollständigen Unabhängigkeit der Gewerkschaften von allen politischen Parteien sogar in ihrer Charta von Amiens. Solange sich diese Unabhängigkeit gegen den wachsenden Konservativismus und den parlamentarischen Kretinismus der Sozialdemokratie richtete, wohnte dem französischen Syndikalismus eine gewisse revolutionäre Stoßrichtung inne. Obwohl er die Partei leugnete, "war er eigentlich nichts anderes, als eine antiparlamentarische Partei der Arbeiterklasse", wie Trotzki einmal bemerkte. (32)
Doch das änderte sich, als sich der Grundsatz der politischen Unabhängigkeit der Gewerkschaften gegen den Einfluss der revolutionären Partei wandte. Trotzki schrieb dazu 1921, damals noch als führendes Mitglied der Kommunistischen Internationale: "Die Theorie der vollkommenen und unbedingten Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften sowie der absoluten gegenseitigen Nichteinmischung ist in diesem extremen Ausdruck ein Produkt namentlich der französischen politischen Entwicklung. Die Grundlage dieser Theorie ist der reinste Opportunismus. So lange wie die gewerkschaftlich organisierte Arbeiteraristokratie Tarifverträge abschließt und die sozialistische Partei im Parlament Reformen verficht, sind Arbeitsteilung und gegenseitige Nichteinmischung noch einigermaßen möglich. Doch sobald die wirklich proletarische Masse in den Kampf hineingezogen wird und die Bewegung einen wirklich revolutionären Charakter annimmt, artet das Prinzip der Nichteinmischung in reaktionäre Scholastik aus. Die Arbeiterklasse kann nur dann siegen, wenn an ihrer Spitze eine Organisation steht, die die lebendige historische Erfahrung, theoretisch verallgemeinert, und praktisch ihren Kampf lenkend, verkörpert. ... Wer zugibt, dass das Proletariat einer geistigen und politischen Leitung ihrer zur kommunistischen Partei zusammengeschlossenen Avantgarde bedarf, der erkennt damit an, dass die Partei auch innerhalb der Gewerkschaften, d.h. der Massenorganisationen der Arbeiterklasse zur führenden Macht werden muss." (33)
In der OCI übte die Tradition des Syndikalismus seit langem großen Einfluss aus. Glaubt man Pierre Lambert, so beruhte das Verhältnis seiner Organisation zu den Gewerkschaften seit langem auf syndikalistischen und nicht auf marxistischen Grundsätzen. Als er in hohem Alter eine Art Autobiografie veröffentlichte, rühmte er sich, er habe schon 1947 der Charta von Amiens wieder zur Geltung verholfen. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit der illegalen Gewerkschaftsarbeit im Krieg und mit der stalinistisch dominierten CGT habe er damals dem Kongress der trotzkistischen Organisation in Frankreich "einen Änderungsantrag vorgeschlagen, der einstimmig angenommen wurde und der die Punkte 9 und 10 der 21 Bedingungen durch die Anerkennung der beiderseitigen Unabhängigkeit der Parteien und der Gewerkschaften ersetzte." (34)
Mit den "21 Bedingungen" sind die Aufnahmebedingungen gemeint, die der Zweite Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1920 beschlossen hatte, um reformistische und zentristische Organisationen fernzuhalten. Punkt 9 verpflichtete die Mitgliedsparteien, "systematisch und beharrlich eine kommunistische Tätigkeit in den Gewerkschaften" zu entfalten und "den Verrat der Sozialpatrioten und die Wankelmütigkeit des Zentrums’ zu entlarven". Punkt 10 verlangte den Bruch mit der gelben Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale und die Unterstützung von Gewerkschaften, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen. Die Ersetzung dieser beiden Punkte durch "die Anerkennung der beiderseitigen Unabhängigkeit der Parteien und der Gewerkschaften" bedeutete den Verzicht auf den politischen Kampf gegen die reformistische und stalinistische Gewerkschaftsbürokratie.
Politisches Versteckspiel
Während die OCI die Gewerkschaften unkritisch verherrlichte, trieb sie ein politisches Versteckspiel und hielt ihre eigene Identität weitgehend verborgen. Ganz selten nur sprach sie im eigenen Namen. Meistens verbarg sie sich hinter Frontorganisationen wie den Comités d’alliance ouvrière (Arbeiterbündniskomitees), deren genaue politische Identität im Dunkeln blieb. Selbst de Massot nennt die OCI nur selten beim Namen. Meist schreibt er von der "revolutionären Avantgarde", wobei er offen lässt, ob damit die OCI, eine ihrer Frontorganisationen oder einfach eine Gruppe von aktiven Gewerkschaftern gemeint sind.
Als am 29. Mai der Konflikt mit dem gaullistischen Regimes seinem Höhepunkt zusteuerte und die reaktionäre Rolle der Gewerkschaften unübersehbar wurde, trat ein massenhaft verteiltes Flugblatt der Comités d’alliance ouvrière nicht etwa für den Aufbau der OCI oder gar der Vierten Internationale ein, sondern für den Aufbau eines fiktiven "Revolutionären Arbeiterbunds".
Dieser "Revolutionäre Arbeiterbund" war ein Luftschloss. Niemand hatte zuvor davon gehört. Er hatte weder Mitglieder, noch ein Programm, noch ein Statut. Er existierte physisch überhaupt nicht. Lediglich am Ende eines 40-seitigen Manifests, das die OCI im Dezember 1967 verabschiedet hatte, findet man einen kurzen Hinweis auf diesen Bund. Dort heißt es, der "Revolutionäre Arbeiterbund" sei "eine Etappe auf dem Weg des Aufbaus der revolutionären Partei". Die Perspektive des "Revolutionären Arbeiterbunds" gehe davon aus, dass nur das Programm der OCI "die historische Krise der Menschheit beantworten kann, dass aber die organisatorischen Kader der französischen Arbeiterklasse unmittelbar nicht in der Lage sind, ihr beizutreten." (35)
Diese Art der politischen Camouflage zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der OCI und ihrer Nachfolgeorganisationen. Sie erinnert an eine Matrjoschka. So wie sich eine russische Puppe in der anderen verbirgt, versteckt sich bei der OCI eine Front- oder Tarnorganisation hinter der nächsten. Der politische Betrachter weiß nie genau, womit er es zu tun hat.
Dieses Versteckspiel ist eine spezifische Form des Opportunismus. Die OCI scheute das revolutionäre Prinzip: "Aussprechen, was ist!" Sie zeigte sich den Arbeitern nicht in ihrer wahren Gestalt. Während sie sich in kleinem Kreis auf die Vierte Internationale berief, präsentierte sie den Massen ein verwässertes Programm, von dem sie annahm, dass sie es für annehmbar hielten.
Nun kann es durchaus Fälle geben, in denen eine revolutionäre Partei nicht offen auftreten und ihr volles Programm vorbringen kann - z.B. unter einem diktatorischen Regime oder innerhalb einer reaktionären Gewerkschaft. Aber der OCI ging es nicht darum, den Staatsapparat oder die Gewerkschaftsbürokratie zu täuschen, die ihre Identität sehr gut kannten. Sie täuschte die Arbeiter und Jugendlichen, die neu in die Politik kamen und nach einer Orientierung suchten.
Vor allem wollte die OCI die unteren Ränge der Gewerkschaftsbürokratie nicht in Verlegenheit bringen, um deren Unterstützung sie intensiv warb. Wenn sie ihre eigene Identität versteckte, konnten diese Funktionäre eine Beziehung mit ihr eingehen, ohne deshalb in Konflikt mit den antitrotzkistischen Spitzen der Bürokratie zu geraten.
Die OCI bezeichnete diese unteren Funktionäre des Gewerkschaftsapparats als "organisatorische Kader der Arbeiterklasse" oder als "natürliche Organisatoren der Klasse" - zwei Begriffe, die sich in ihren Schriften ständig wieder finden. Sie war sich im Klaren darüber, dass diese Schicht für den Apparat von entscheidender Bedeutung war, um die Kontrolle über die Mitgliedschaft zu sichern. Trotzdem behauptete sie, der Gegensatz zwischen der oberen und der unteren Ebene der Bürokratie - zwischen "Apparat" und "Kadern" - werde letztere in eine revolutionäre Richtung treiben.
So heißt es in einer programmatischen Erklärung, die Anfang 1968 in la vérité erschien, die "Kader" seien "sowohl die Vermittler, mittels denen der Apparat - und vor allem der stalinistische Apparat - seine Kontrolle über die Klasse sichert, als auch die militante Schicht, durch die sich das Proletariat als Klasse herausbildet und organisiert". In derselben Erklärung werden diese "organisatorischen Kader" auf "10 bis 15.000 Aktivisten" beziffert, die "zum großen Teil durch die Kommunistische Partei kontrolliert und organisiert" werden. (36)
Ihre eigene Aufgabe sah die OCI darin, "den objektiven Widerspruch zur Reife und zum Bruch zu treiben, der die pro-bürgerliche Orientierung des Apparats in Konflikt mit diesen Aktivisten und organisatorischen Kadern bringt, die notwendigerweise weiterhin Widerstand leisten und mit ihrer Klasse kämpfen müssen".
Die eben zitierten Passagen sind mit heftigen Angriffen auf den Pablismus verbunden. Doch die Haltung, welche die OCI 1968 gegenüber den Gewerkschaften und dem Stalinismus einnahm, unterschied sich kaum mehr von jener der Pablisten im Jahr 1953. Pablo war damals zum Schluss gelangt, eine neue revolutionäre Offensive werde sich nicht in Form einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse unter dem Banner der Vierten Internationale entwickeln, sondern in Form eines Linksschwenks von Teilen des stalinistischen Apparats unter dem Druck objektiver Ereignisse. In ähnlicher Weise versprach sich die OCI eine revolutionäre Entwicklung aus der "internen Differenzierung innerhalb der Organisationen und dem Reifen des derzeitigen Widerspruchs zwischen dem Apparat und den organisatorischen Kadern der Klasse".
Auch wenn es 1968 innerhalb der Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei heftige Spannungen und Differenzen gab, eine revolutionäre Strömung hätte sich nur durch einen offenen Kampf gegen den Stalinismus und den politischen Bruch mit ihm herausbilden können. Doch dieser Aufgabe ging die OCI aus dem Weg, indem sie die Einheitsfront zur Strategie erhob und ihre eigene Identität versteckte.
Es gibt in de Massots Buch auch viele Stellen, die nahe legen, die Stalinisten selbst könnten sich wieder der Revolution zuwenden. So lobt er einen Aufruf der stalinistischen Jugendorganisation vom 13. Mai, weil er kein böses Wort gegen die "Linksradikalen" enthalte, zur Einheit der Studenten, Gymnasiasten und jungen Arbeiter aufrufe und für eine Arbeiterregierung eintrete, und kommentiert ihn mit den Worten: "Der Apparat sieht sich nicht nur gezwungen, der Bewegung zu folgen. Um die Kontrolle aufrecht zu erhalten und die Initiative in der Arbeiterklasse wieder zu gewinnen, muss er ihr auch in gewisser Form und gewissen Grenzen vorangehen: die Spitze übernehmen. ... Indem er so vorgeht, sammelt der Apparat die Aktivisten um sich herum, und diese radikalisieren dann auch die Arbeiterklasse als ganze."
Die Losung des "zentralen Streikkomitees"
Leo Trotzki hatte seinen französischen Mitstreitern 1935 die Losung der "Aktionskomitees" vorgeschlagen. Damals entwickelte sich eine rasche Radikalisierung der Arbeiterklasse, die aber größtenteils unter dem Einfluss der Volksfront stand, einem revolutionsfeindlichen Bündnis von Stalinisten, Sozialdemokraten und bürgerlichen Radikalen. Unter diesen Umständen betrachtete Trotzki die Aktionskomitees als Mittel, den Einfluss der Volksfront über die Massen zu schwächen und deren unabhängige Initiative zu fördern.
"Die Führung der Volksfront muss direkt und unmittelbar den Willen der kämpfenden Massen widerspiegeln. Wie? Sehr einfach: durch Wahlen", schrieb er. "Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil. einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Vertreter in ein lokales Aktionskomitee wählen. Alle Teilnehmer des Kampfes verpflichten sich, die Disziplin dieses Komitees anzuerkennen." (37)
Die Losung des "zentralen Streikkomitees", die 1968 im Mittelpunkt des Eingreifens der OCI stand, lehnte sich an Trotzkis Vorschlag an. In den Aufrufen der OCI finden sich Formulierungen, die fast wörtlich aus seinen Schriften entnommen sind. Aber wie im Falle der Einheitsfront, beraubte die OCI auch diese Losung jedes revolutionären Inhalts.
Viele ihrer Aufrufe beschränkten sich auf die bürokratisch penible Aufzählung der verschiedenen Ebenen der hierarchischen Struktur, auf die sich das nationale Streikkomitee stützen sollte. Typisch ist eine Erklärung mit der Überschrift: "Ja, die Arbeiter können siegen: Schmieden wird die Waffe des Siegs. DAS ZENTRALE STREIKKOMITEE!", die am 23. Mai, mitten im Generalstreik, massenhaft als Sondernummer von Informations Ouvrières verbreitet wurde.
Darin heißt es: "Wie kann die allgemeine Bewegung der Arbeiterklasse und der Jugend zu einer einzigen, unbesiegbaren und siegreichen Kraft vereint werden? Auf diese Frage eine einzige Antwort: Organisation der Streikkomitees auf örtlicher Ebene zu einem interprofessionellen Streikkomitee, im Departement müssen die Delegierten departementale oder regionale interprofessionelle Streikkomitees schaffen. Auf nationaler Ebene müssen die Föderation der Streikkomitees und die Arbeiterorganisationen ein zentrales Streikkomitee bilden. Jeder Aktivist, der sich an einem Streikkomitee beteiligt, jeder Arbeiter, der einem Streikposten angehört, muss die Initiative in diesem Sinn ergreifen. Die Führung und die Entscheidungen der flächendeckenden Klassenbewegung müssen in den interprofessionellen Streikkomitees gebündelt werden, die aus den Streikkomitees in den Unternehmen hervorgegangen sind. Die Versammlung der Streikenden im Unternehmen, die Versammlung aller Streikenden aller Unternehmen im Ort müssen die Entscheidungsmacht bündeln."
Nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt dieses Aufrufs entsprechen eher der bürokratischen Mentalität eines Buchhalters, als dem Kampfgeist eines revolutionären Arbeiters. Sein Ziel ist die Überwindung der Spaltung zwischen den verfeindeten bürokratischen Apparaten und nicht die Befreiung der Arbeiter vom Würgegriff aller bürokratischen Apparate. Hatte Trotzki erklärt, die Aktionskomitees seien "das einzige Mittel, den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen", so sind sie für die OCI der "höchste Ausdruck der Einheitsfront von Gewerkschaften und Arbeiterparteien".
Trotzki betrachtete die Aktionskomitees als Foren der Auseinandersetzung und des politischen Kampfs: "Im Hinblick auf die Parteien kann man die Aktionskomitees ein revolutionäres Parlament nennen: die Parteien sind nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil notwendig vorausgesetzt: gleichzeitig werden sie in der Aktion geprüft, und die Massen lernen sich von dem Einfluss der verrotteten Parteien zu befreien." Für die OCI dagegen dienen sie dazu, die "Einheit" der Arbeiter mit den verrotteten Gewerkschaften und Parteien herzustellen.
Sie verzichtet sogar darauf, die Losung der Streikkomitees mit einem eigenen Programm von Übergangsforderungen zu verbinden. Das Streikkomitee ist für sie das Programm, wie folgender Absatz aus dem Buch de Massots deutlich macht: "Wie man sehen kann, steht über die Frage des zentralen Streikkomitees des Schicksal des Generalstreiks selbst auf dem Spiel. Dieses Ziel fasst organisatorisch - das heißt auf dem höchsten politischen Niveau - sämtliche Aspekte einer Organisation zusammen, die den Bedürfnissen der Bewegung entspricht: den Aspekt der Definition der grundlegenden Ziele des Generalstreiks und ihrer politischen Konsequenzen, die Aspekte der Vereinheitlichung des Streiks, die Aspekte der Verwirklichung der Arbeitereinheitsfront ..."
Dieses "organisatorisch - das heißt auf dem höchsten politischen Niveau" bringt die zentristische Philosophie der OCI auf den Punkt. Für Marxisten sind Perspektivfragen die höchsten politischen Fragen, für Zentristen sind es Organisationsfragen. Doch wie der Generalstreik von 1968 und unzählige andere Erfahrungen der internationalen Abeiterbewegung gezeigt haben, kann der Ruf nach organisatorischer Einheit die komplexen Fragen, die mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden sind, nicht beantworten. Das erfordert eine politische Perspektive und eine klare Abgrenzung von der Bourgeoisie und ihren reformistischen und zentristischen Agenturen.
Die Konzeptionen der OCI erinnern stark an jene Marceau Piverts, eines notorischen Zentristen, den Trotzki in seinem Artikel über die Aktionskomitees explizit angriff. "So sehr die Zentristen auch von den Massen’ schwätzen, stets orientieren sie sich nach dem reformistischen Apparat", schrieb er. "Wenn Marceau Pivert diese oder jene revolutionäre Losung nachspricht, ordnet er sie dem abstrakten Prinzip der organischen Einheit’ unter, die in Wirklichkeit Einheit mit den Patrioten gegen die Revolutionäre bedeutet. Während es für die revolutionären Massen eine Lebensfrage ist, den Widerstand der vereinigten sozialpatriotischen Apparate zu brechen, betrachten die linken Zentristen die Einheit’ dieser Apparate als ein absolutes, über den Interessen des revolutionären Kampfes stehendes Gut."
Anschließend verdeutlichte Trotzki noch einmal seine Konzeption der Aktionskomitees: "Nur der kann Aktionskomitees schaffen, der restlos die Notwendigkeit begriffen hat, die Massen von der verräterischen Führung der Sozialpatrioten zu befreien. (...) Voraussetzung für den Sieg des Proletariats ist die Beseitigung der heutigen Führung. Die Losung der Einheit’ wird unter all diesen Umständen nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Keine Einheit mit den Agenten des französischen Imperialismus und des Völkerbundes. Ihrer treubrüchigen Führung heißt es die revolutionären Aktionskomitees gegenüberstellen. Diese Komitees kann man nur schaffen, wenn man unbarmherzig die antirevolutionäre Politik der so genannten Revolutionären Linken’ mit Marceau Pivert an der Spitze anprangert."
Die OCI während des Generalstreiks
Die OCI verfügte zwar 1968 nur über relativ bescheidene Kräfte, diese waren aber stärker als die der Pablisten. Mit der Fédération des etudiants révolutionnaires (FER) verfügte die OCI über ihre eigene Studentenorganisation, und im Gegensatz zu den Pablisten war sie in mehreren Betrieben verankert.
Die FER lehnte die Konzeptionen der Pablisten und der Neuen Linken ab, die den Studenten die Rolle einer "revolutionären Avantgarde" zuschrieben und deren teilweise abenteuerlichen Aktionen unkritisch unterstützten. Sie setzte sich für eine Orientierung auf die Arbeiterklasse ein und gewann auf dieser Grundlage zahlreiche neue Mitglieder. Doch diese Orientierung beruhte auf einer zentristischen Grundlage, sie blieb auf organisatorische Initiativen beschränkt. Sie bewegte sich im Rahmen der "Einheitsfrontpolitik" der OCI, das heißt, sie bestand hauptsächlich aus Appellen an die Gewerkschaften, große, gemeinsame Demonstrationen von Arbeitern und Jugendlichen durchzuführen, und aus Aufrufen für ein zentrales Streikkomitee. Die FER führte keine systematische Offensive gegen die Politik der Stalinisten und Sozialdemokraten und gegen die Theorien der neuen Linken, was gerade an den Universitäten, den Brutstätten der bürgerlichen Ideologie, unbedingt notwendig gewesen wäre.
De Massot schildert in seinem Buch das Eingreifen der FER auf einer Versammlung, die am 8. Mai, während der Straßenschlachten im Quartier Latin, von der pablistischen Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR) in der Pariser Mutualité durchgeführt wird. Ein Redner der JCR spricht sich dort unter dem Beifall des Anarchisten Daniel Cohn-Bendit, der ebenfalls das Wort ergreift, gegen eine Klärung der politischen Linie aus, weil dies die Bewegung spalten würde. Stattdessen gelte es Themen zu finden, mit denen alle übereinstimmen könnten. "In Abwesenheit einer revolutionären Partei sind die wirklichen Revolutionäre diejenigen, die gegen die Polizei kämpfen", fügt er hinzu.
Dem widersprechen die Vertreter der FER. Sie schlagen vor, alle Energie der Studenten auf die Verwirklichung der Parole "zentrale Demonstration der Arbeiter und der Jugend" zu konzentrieren. Der Kampf müsse "weiter ausgedehnt, koordiniert und organisiert werden durch die Bildung von Streikkomitees und eines von der UNEF unterstützten nationalen Streikkomitees". Zwei Tage später veranstaltet die FER eine eigene Versammlung unter der Parole "500.000 Arbeiter ins Quartier Latin". Diese Parole verbreitet sie zehntausendfach als Flugblatt in den Betrieben.
Wenige Tage später, am 13. Mai, sehen sich die Gewerkschaften dann tatsächlich gezwungen, zu einem eintägigen Generalstreik und zu gemeinsamen Demonstrationen von Arbeitern und Studenten aufzurufen, an denen sich Millionen beteiligen. Nun entgleitet die Bewegung ihrer Kontrolle. In den folgenden Tagen breitet sich der Generalstreik mit einer Welle von Betriebsbesetzungen über das ganze Land aus. An die zehntausend Arbeiter beteiligen sich und legen ganz Frankreich lahm.
Aber die OCI und FER halten weiterhin an ihrem syndikalistischen Kurs fest. Sie konzentrieren sich nun ganz auf die Forderung nach einem nationalen Streikkomitee. Noch am 13. Mai veröffentlicht die OCI - ausnahmsweise im eigenen Namen - ein entsprechendes Flugblatt, das in den folgenden Tagen in hoher Auflage an den Betrieben verteilt wird.
Dieses Flugblatt umfasst kaum zwanzig Zeilen. Es enthält kein politisches Wort. Es besteht aus einer Sammlung von hohlen Phrasen ("Der Kampf hat begonnen"; "Es lebe die Einheit"; "Für den Sieg"; "Vorwärts"), Ausrufen ("Alle vereint, Arbeiter und Studenten, können wir siegen") und allgemeinen Parolen ("Nieder mit de Gaulle"; "Nieder mit dem Polizeistaat"). Als wäre der Ton nicht schreierisch genug, wird ein Großteil des Textes durch Großbuchstaben und Fettdruck hervorgehoben. Das Flugblatt gipfelt in den Worten: "Arbeiter von Renault, Panhard, S.N.E.C.M.A, Arbeiter in allen Betrieben, Büros, Werkstätten, von uns hängt der Sieg ab. Wir müssen die Arbeit niederlegen, demonstrieren, unsere Streikkomitees wählen."
Es gibt keinen Versuch, die neue Lage zu analysieren, die politischen Aufgaben zu formulieren und sie den Arbeitern zu erklären. Angesichts einer sich rasch entwickelnden revolutionären Situation hat die OCI nur allgemeine Aufrufe zum gemeinsamen Kampf zu bieten. Kein Wort über die Rolle der Kommunistischen Partei und Mitterrands FGDS; keine Warnung vor der verräterischen Rolle der Gewerkschaftsbürokratie; kein Silbe zur Frage der Arbeiterregierung.
Zwei Wochen später, am 27. Mai, lehnen die streikenden Arbeiter das Abkommen von Grenelle ab, das Regierung, Unternehmerverbände und Gewerkschaften ausgehandelt haben. Die Frage der Macht steht nun offen im Raum. Das steht auch für de Massot fest, der schreibt: "Die Millionen Streikenden haben auf einen Schlag den Staatsapparat erschüttert, die sorgfältig zwischen Regierung, Unternehmern und den Führern der Arbeiterbewegung entworfenen Pläne beiseite gewischt ... Jetzt stellt sich die Frage der Macht unmittelbar ... Damit die Forderungen des Generalstreiks erfüllt werden, muss die Regierung weggefegt werden."
Doch die OCI rennt mittlerweile den Ereignissen hinterher. In dem Flugblatt, das sie - diesmal im Namen der Comités d’alliance ouvrière - massenhaft verbreitet, findet sich zur Frage der Regierung kein Wort. Auf einer halben Seite wird fünf Mal der Aufruf "Unterzeichnet nicht!" wiederholt - in Großbuchstaben und in Fettschrift. Doch von einer Unterzeichnung des Grenelle-Abkommens kann zu diesem Zeitpunkt gar keine Rede mehr sein. Nachdem die Renault-Arbeiter CGT-Chef Georges Séguy ausgepfiffen haben, hat die Gewerkschaft kalte Füße bekommen und einen vorübergehenden Rückzieher gemacht. Das Flugblatt der OCI gipfelt in der Forderung: "Führer der CGT, der CGT-FO, der FEN, ihr müsst mit der UNEF die Klasseneinheitsfront gegen die Regierung und den Staat verwirklichen."
Am selben Tag findet die Großveranstaltung der PSU, der UNEF und der Gewerkschaft CFDT im Pariser Stadion Charléty statt, die einer bürgerlichen Übergangsregierung unter Pierre Mendès-France den Weg ebnen soll. De Massot bezeichnet diese Versammlung rückblickend als "Jahrmarkt der Zweideutigkeiten" auf dem "eine doppelte politische Operation" vorbereitet worden sei: "Zuerst geht es darum, jenen Teil der Kämpfenden des Generalstreiks, insbesondere die Jugend, zurückzuholen’, über den der Stalinismus die Kontrolle verliert. ... Außerdem - und in direkter Verbindung mit dem ersten Ziel - muss der Boden für eine bürgerliche Lösung der Regierungskrise vorbereitet werden. Mendès-France ... wird als Mann der Stunde präsentiert..."
Doch auch hier passt sich die OCI an, obwohl sie eine gute Gelegenheit hat, ihren Standpunkt deutlich zu machen. Pierre Lambert tritt nämlich in Charléty als Redner auf. Er spricht zu den 50.000 anwesenden Studenten und Arbeitern allerdings nicht in seiner Funktion als OCI-Vorsitzender, sondern als Gewerkschafter - im Namen der "Gewerkschaftskammer der Angestellten und Führungskräfte der Sozialversicherung Force Ouvrière’", für die er arbeitet. Er erklärt, "dass die entscheidende Schlacht bevorsteht, dass der Generalstreik die Frage der Regierung in den Vordergrund gerückt hat, dass die Regierung de Gaulle-Pompidou die Forderungen der Streikenden nicht erfüllen kann". Doch er warnt weder vor den Gefahren einer bürgerlichen Übergangsregierung noch spricht er die Frage einer Arbeiterregierung an. Zumindest geht dies aus dem Bericht de Massots nicht hervor. Stattdessen beschränkt sich Lambert darauf, zum Aufbau von lokalen Streikkomitees sowie eines zentralen Streikkomitees aufzurufen, was er als Weg zum Sieg darstellt.
Auf den Straßen erschallt indes der Ruf nach einer "Volksregierung". Die Arbeiter sind offenbar weiter als Lambert. Wir folgen hier wiederum der Darstellung de Massots, der schreibt: "In ganz Frankreich finden an diesem 27. Mai Demonstrationen statt, wo die Folgen des Unterzeichnet nicht’ in politische Begriffe übersetzt werden, die sich auf Regierung und Staat beziehen ... Volksregierung!’ rufen die Demonstranten und drücken damit aus, dass sie eine Regierung wollen, die auf die Ziele des Generalstreiks eingeht. De Gaulle muss zurücktreten’, Nieder mit de Gaulle’ skandieren überall Zehntausende und Zehntausende von Leuten, die deutlich bekräftigen, dass es um das Schicksal des Regimes geht."
Die OCI bemüht sich nicht, diesen Ruf nach einer "Volksregierung" mit politischem Inhalt zu füllen. Vor allem erklärt sie nicht, wer eine solche Regierung bilden und was ihr politisches Programm sein soll. Das ermöglicht es den Stalinisten der KPF und der CGT, selbst die Parole der "Volksregierung" zu erheben, obwohl sie überhaupt nicht daran denken die Macht zu ergreifen und hinter den Kulissen mit Mitterrand über die Beteiligung an einer bürgerlichen Übergangsregierung verhandeln.
Wie wir in Teil 4 dieser Serie erklärt haben, hätte die Forderung nach einer Regierung von KPF und CGT Macht diesem Zeitpunkt große politische Wirkung entfaltet. Sie hätte die Manöver der stalinistischen Führer empfindlich gestört und den Konflikt zwischen ihnen und den Arbeitern verschärft. Trotzki hatte eine solche Taktik im "Übergangsprogramm!" vorgeschlagen. Gestützt auf die von den Bolschewiki im Laufe der russischen Revolution gemachten Erfahrungen hatte er geschrieben: "Die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Aufforderung der Bolschewiki: Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure Hände!’ war für die Massen von unschätzbarem erzieherischen Wert. Das beharrliche Widerstreben der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegen die Machtübernahme... verurteilte sie endgültig in den Augen des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor." (38)
Die OCI erhebt keine derartige Forderung. Sie unterstützt aber die Großdemonstration der CGT vom 29. Mai, die unter der Parole "Volksregierung" steht, ohne das Doppelspiel der Stalinisten zu kritisieren. Sie greift die UNEF und die CFDT an, weil sie sich nicht an der Demonstration beteiligen (der Grund ist die Weigerung der CGT, die Ausweisung Daniel Cohn-Bendits aus Frankreich zu verurteilen), und behauptet, eine gemeinsame Demonstration aller Gewerkschaften würde unabhängig vom Willen der CGT einer Arbeiterregierung den Weg ebnen. "Einheitlich, von allen Gewerkschaftsorganisationen organisiert, hätte sie den Weg für eine Regierung geebnet, die sich auf den Generalstreik stützt, auf die Arbeiterorganisationen", behauptet de Massot.
In dem Flugblatt, das die Comités d’alliance ouvrière auf der Demonstration verbreiten, wird die Arbeiterregierung mit dem von der OCI propagierten "zentralen und nationalen Streikkomitee" gleichgesetzt. "Es ist die einzige Regierung, die Arbeiterregierung, die alle Forderungen der Arbeiter, der Studenten, der Bauern und der Jugend erfüllen kann", heißt es darin.
Betrachtet die OCI das Streikkomitee also als eine Art Arbeiterrat oder Sowjet, auf die sich eine Abeiterregierung stützen kann? Die Formulierung in dem Flugblatt legt dies nahe. Doch sie bleibt ein Einzelfall, die OCI schwankt offenbar in dieser Frage. Zudem lösen auch Streikkomitees und Arbeiterräte nicht das Problem der revolutionären Führung. Sie sind ein politischer Kampfplatz für die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, aber kein Ersatz für diese Auseinandersetzung. Doch in dem Flugblatt der OCI findet sich kein kritisches Wort über die KPF und die CGT. Sie werden noch nicht einmal erwähnt.
Am Tag nach der CGT-Demonstration, die allein in Paris über eine halbe Million Teilnehmer versammelt, wendet sich Präsident de Gaulle über das Radio an die Nation und löst das Parlament auf. Die KPF und die CGT begrüßen die Ankündigung von Neuwahlen und verpflichten sich, deren geordneten Ablauf zu garantieren, was einem Aufruf zum Abbruch des Generalstreiks gleichkommt.
Die OCI reagiert mit der Aufforderung, den Streik fortzusetzen, und appelliert an die Gewerkschaften: "Alles hängt von unserer unmittelbaren Antwort ab! Alles hängt vom Aufruf der Gewerkschaftszentralen und der Arbeiterparteien ab! Der Generalstreik wird den Polizeistaat besiegen." Das bleibt auch in den folgenden Tagen die politische Linie der OCI: Appelle an die Gewerkschaften und Parteien, die dabei sind, den Generalstreik abzuwürgen, sie sollen weiterkämpfen, zusammenhalten, und nicht nachgeben.
Am 12. Juni wird die OCI gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Organisationen, einschließlich ihrer Studenten- und Jugendorganisation, vom Innenminister verboten.
Die Rechtsentwicklung der OCI
Die Ereignisse von 1968 markieren einen Wendepunkt in der Geschichte der OCI. Zur Zeit des Generalstreiks war sie eine zentristische Organisation, deren Wurzeln in der trotzkistischen Bewegung lagen, deren Politik sich aber in wachsendem Maße an der stalinistischen und reformistischen Bürokratie orientierte. Drei Jahre später brach sie alle Kontakte zur internationalen trotzkistischen Bewegung ab und entwickelte sich zu einer wichtigen Stütze der Sozialistischen Partei und, durch sie, des bürgerlichen Staats.
Die Studentenbewegung und der Generalstreik hatten der OCI mehrere Tausend junge Mitglieder und Kontakte zugeführt. Sie schlossen sich einer vermeintlich trotzkistischen Organisation an, doch der zentristische Kurs der OCI orientierte sie in Richtung der bürokratischen Apparate. Sie wurden nicht als Marxisten ausgebildet, sondern zu Opportunisten erzogen. Diese Jugendlichen, die nach und nach den älteren Kader verdrängten, spielten eine wichtige Rolle bei der Rechtsentwicklung der OCI. Viele wechselten später zur Sozialistischen Partei und absolvierten eine steile politische Karriere, die sie in höchste Staatsämter brachte.
Die Rechtsentwicklung der OCI war aber auch eng mit dem Aufstieg der sozialen Schicht verbunden, der 1968 ihre besondere Aufmerksamkeit galt: den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, die sie als "organisatorische Kader der Arbeiterklasse" bezeichnete.
Wie wir gesehen haben, hoffte die OCI, die Verschärfung der politischen Krise werde diese "Kader" in Konflikt zu den "Apparaten" bringen und nach links treiben. Diese Hoffnung beruhte nicht nur auf einem falschen Verständnis des Charakters der Gewerkschaften, sondern auch auf einer falschen Einschätzung des gaullistischen Regimes, dessen Stärke die OCI maßlos überschätzte.
Seit General de Gaulle 1958 auf dem Höhepunkt der Algerienkrise an die Macht zurückgekehrt war und eine auf seine Person zugeschnittene Verfassung erlassen hatte, charakterisierte die OCI seine Herrschaft als Bonapartismus. "De Gaulle ist nicht einfach ein Element des politischen Personals der französischen Bourgeoisie unter anderen", heißt es dazu in einem programmatischen Artikel, der Anfang 1968 unter dem Titel "Der gaullistische Bonapartismus und die Aufgaben der Avantgarde" in la vérité erschien. De Gaulle habe sich seiner Klasse aufgezwungen und werde von dieser ertragen, weil sie "ihren Kampf gegen das Proletariat und ihre internationalen Rivalen nur eingezwängt in einen starken Staat führen (kann), der alle sozialen Schichten unterwirft, alle Ressourcen der Wirtschaft mobilisiert und alle Bereiche der Gesellschaft ausschließlich zugunsten des großen Kapitals einspannt." (39)
De Gaulle schrieb die OCI nahezu übermenschliche Kräfte zu. "Der von ihm errichtete Staat ist das eiserne Korsett, das es einer senilen und ohnmächtigen Bourgeoisie erlaubt, sich auf den Beinen zu halten", heißt es im selben Artikel. Das Parlament sei nur noch eine Fassade, die "es den Abeiterführern ermöglicht, unter den Massen die Wahlillusionen aufrecht zu erhalten."
Lange Zeit führte die OCI eine Art Untergrundexistenz, weil sie erwartete, de Gaulle werde zu offen diktatorischen Herrschaftsformen übergehen. Sie war überzeugt, dass er im Falle einer schweren Krise die Arbeiterbewegung zerschlagen werde, mit Unterstützung der in den Staat integrierten Gewerkschaftsspitzen: "Die Arbeiterbewegung politisch zerschlagen, die organisatorischen Kader der Klasse zerstören und zerstreuen, darin besteht das gemeinsame Ziel de Gaulles und der Apparate." Die "Apparate" stünden vor der Alternative, "unterzugehen oder sich in den Staat zu integrieren und zum direkten Agenten der mörderischen Pläne des Bonapartismus zu werden", während "die organisatorischen Kader, die auf dem Boden des Klassenkampfs bleiben, dazu neigen, sich von der Politik des Apparats abzunabeln’."
Die Wirklichkeit sah dann 1968 ganz anders aus, als sich die OCI das vorgestellt hatte. Das gaullistische Regime erwies sich als weitaus schwächer, als sie dachte. Es konnte nicht wagen, den Generalstreik von zehn Millionen Arbeitern gewaltsam zu unterdrücken. Um ihn unter Kontrolle zu bringen, bediente es sich nicht nur der "Apparate", sondern vor allem auch jener "Kader", auf die die OCI ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Und während die materiellen Zugeständnisse, die es an die Arbeiter machte, relativ gering blieben, waren die eigentlichen Gewinner des Generalstreiks diese "Kader".
Für eine breite Schicht von Gewerkschaftsbürokraten markierte 1968 den Beginn eines sozialen Aufstiegs, der ihnen sichere und gut dotierte Stellungen sowie politischen Einfluss bescherte. Das Abkommen von Grenelle sah die Stärkung und die juristische Absicherung der Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben vor. Vor allem die Regierung hatte gegen den anfänglichen Widerstand der Unternehmerverbände darauf gedrängt. Es wurde auch sichergestellt, dass die Mitverwaltung der Sozialkassen durch die Gewerkschaften bestehen blieb. Deren milliardenschweren, staatlich subventionierten Etats sicherten zahlreichen Gewerkschaftsfunktionären (darunter vielen führenden Mitgliedern der OCI) ein stetig wachsendes Einkommen, auch wenn die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften zurückgingen.
Hinzu kam, dass die Vereinigung der zersplitterten sozialdemokratischen Gruppen zur Sozialistischen Partei und deren Wahlbündnis mit der Kommunistischen Partei vielen Funktionären politische Aufstiegschancen eröffnete. Die "Linke", diskreditiert durch ihre schändliche Rolle im Algerienkrieg und der Vierten Republik, war wieder eine politische Kraft. Sie lockte mit zahlreichen Ämtern auf kommunaler, regionaler und (nach Mitterrands Wahl zum Präsidenten) nationaler Ebene.
Die OCI hielt nach 1968 an ihrer Orientierung auf die Bürokratie fest und passte ihr politisches Programm an sozialen ihren Aufstieg an. 1971 machte sie keinen Unterschied mehr zwischen "Kadern" und "Apparaten", nun warb sie auch um die "Apparate". François Mitterand, den sie 1968 noch heftig angegriffen hatte, trat auf einer Großveranstaltung der OCI zum hundertsten Jahrestag der Pariser Kommune als Redner auf. Als "Klasseneinheitsfront" bezeichnete sie nun nicht mehr das "zentrale Streikkomitee", sondern das Wahlbündnis zwischen Sozialistischer und Kommunistischer Partei.
Sie griff sogar die Pablisten an, weil sie mit eigenen Kandidaten gegen dieses Wahlbündnis antraten. Schon 1969 hatte sie die LCR heftig attackiert, weil sie mit Alain Krivine einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatte. Das spalte "die fortgeschrittenen’ Arbeiter von den Arbeitern, die ihren Organisationen und Parteien treu bleiben", und liefere "der Bourgeoisie und dem stalinistischen Apparat Munition", behauptete ihre Jugendzeitung Jeunesse révolutionnaire. 1974 verurteilte sie dann die Wahlteilnahme von Krivine und Arlette Laguiller (Lutte ouvrière) als "prinzipienlose Kandidaturen gegen die Arbeitereinheitsfront". (40)
1971 schickte die OCI mehrere Mitglieder in die Sozialistische Partei hinein. Sie sollten dort keine Fraktion aufbauen, sondern François Mitterrand unterstützen. Das erfolgreichste dieser OCI-Mitglieder, Lionel Jospin, stieg schnell in den engsten Beraterkreis des zukünftigen Präsidenten auf und beerbte ihn 1981 im Vorsitzend der Sozialistischen Partei. Zu diesem Zeitpunkt war er immer noch Mitglied der OCI und traf sich regelmäßig zu Beratungen mit Pierre Lambert. Mitterrand, das haben Zeugen inzwischen bestätig, wusste über die wahre politische Identität seines Schützlings Bescheid. Von 1997 bis 2002 war Jospin dann Premierminister Frankreichs.
Auch im drittgrößten französischen Gewerkschaftsverband Force Ouvrière und dem Studentenverband UNEF vereinnahmte die OCI den "Apparat". Parteimitglieder oder ihr nahe stehende Personen standen jahrelang an der Spitze beider Organisationen. 1986 wechselte Jean-Christophe Cambadélis, lange Zeit verantwortlich für die Studentenarbeit der OCI, vom Zentralkomitee der OCI direkt in die Führungsebene der Sozialistischen Partei und nahm 450 weitere Mitglieder mit sich.
Ab 1985 distanzierte sich die OCI vorsichtig von der Sozialistischen Partei, die seit 1981 den Präsidenten und die Regierung stellte und eine Politik im Interesse der Wirtschaft verfolgte. Sie gründete das Mouvement pour un Parti des travailleurs (Bewegung für eine Arbeiterpartei, MPPT). Obwohl es sich dabei um eine reine Schöpfung der OCI handelte, betonte sie stets, dass die "Trotzkisten" darin lediglich eine Minderheit bildeten und sie auch für sozialdemokratische, kommunistische und anarcho-syndikalistische Strömungen offen sei. Das MPPT war ein Sammelbecken für unzufriedene Gewerkschafts- oder Parteibürokraten, die sich mit der Führung ihrer Organisationen überworfen hatten oder bei einem Karrieresprung übergangen worden waren.
1985 wurde das MPPT in Parti des travailleurs (Arbeiterpartei, PT) umbenannt, und im Juni 2008 löste sich diese ihrerseits im Parti ouvrier independent (Unabhängige Arbeiterpartei, POI) auf. Das Motto dieser neuen Partei, "Für den Sozialismus, die Republik und die Demokratie", steht unverkennbar in der Tradition der rechten Sozialdemokratie. Sie spricht für die Schichten des Kleinbürgertums und der Gewerkschaftsbürokratie, die auf die Folgen der Globalisierung reagieren, in dem sie sich an den Nationalstaat klammern. Der politische Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Agitation gegen die Europäische Union. Sie stellt ihr kein sozialistisches Europa entgegen, sondern "eine freie und brüderliche Union aller Völker Europas". Eine weitere Losung der POI lautet: "Ja zur Souveränität der Völker Europas". Der nationalistische Unterton dieser Losungen ist unüberhörbar.
Die Wurzeln des Zentrismus der OCI
Das Abgleiten der OCI in den Zentrismus hatte sich lange vor 1968 abgezeichnet. Im Juni 1967 hatte die britische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale der OCI einen langen Brief geschrieben, in dem sie die Standpunkte, die 1968 die Politik der OCI bestimmen sollten, einer scharfen Kritik unterzog. Im Mittelpunkt dieses Briefs der Socialist Labour League (SLL) stand die wachsende Skepsis, welche die OCI gegenüber der Lebensfähigkeit des Internationalen Komitees und der Bedeutung des Kampfs gegen den Pablismus an den Tag legte. (41)
Ein Jahr zuvor, auf dem Dritten Weltkongress des IKVI, hatte die OCI noch einen Ergänzungsantrag der SLL unterstützt, der feststellte, dass die Vierte Internationale die Bemühungen der Revisionisten, sie zu zerstören, erfolgreich abgewehrt hatte. Der Kongress betonte, dass der Kampf gegen den Revisionismus keine Ablenkung von wichtigeren Fragen des Parteiaufbaus sei. Vielmehr habe die trotzkistische Bewegung im beharrlichen Bemühen, den Marxismus gegen die pablistischen Revisionen zu verteidigen, den ideologischen Druck der Bourgeoisie bekämpft und ihre revolutionäre Perspektive entwickelt. Der Kampf gegen den pablistischen Revisionismus verkörpere die Kontinuität der Vierten Internationale und sei die notwendige Voraussetzung zum Aufbau einer neuen proletarischen Führung.
Der Ergänzungsantrag der SLL richtete sich gegen die Spartacist-Tendenz und die Gruppe Voix Ouvrière (heute: Lutte Ouvrière), die als Gäste am Kongress teilnahmen. Sie hatten den etwas zweideutigen Titel der Hauptresolution, "Wiederaufbau der Vierten Internationale", dahingehend interpretiert, dass diese zerstört und der Kampf, den das Internationale Komitee seit 1953 gegen den pablistischen Revisionismus geführt hatte, ohne theoretische und politische Bedeutung sei. Sie strebten einen "Wiederaufbau" der Vierten Internationale auf der Grundlage einer gegenseitigen politischen Amnestie an, wobei die entscheidenden programmatischen Fragen, die 1953 zur Spaltung geführt hatten, keine Rolle spielen sollten. Als sie merkten, dass sich das Internationale Komitee einem solchen Liquidationskurs widersetzte, verließen sie die Konferenz.
Angesichts der hysterischen Feindschaft, die Spartacist und Lutte Ouvrière gegenüber dem historischen Kampf des IKVIs gegen den Pablismus an den Tag legten, stellte sich die OCI während des Dritten Kongresses auf die Seite der SLL und stimmte für deren Ergänzungsantrag. Doch bald wurde deutlich, dass auch sie erhebliche Vorbehalte hegte. Im Mai 1967 veröffentliche sie eine Erklärung, die die Errungenschaften des Dritten Weltkongresses offen in Frage stellte. Unter dem Vorwand, eine "Bilanz der Aktivität des IKs" seit dem Dritten Weltkongress zu ziehen und "die notwendigen Diskussionen zur Lösung von Problemen zu beginnen, welche die Dritte IK-Konferenz nicht diskutieren konnte", verneinte die OCI die Kontinuität der Vierten Internationale. (42)
"Nachdem wir den Bankrott der pablistischen Führung festgestellt haben, können wir nicht einfach sagen, dass die Vierte Internationale schlicht und einfach weiter existiert, wobei das IK die Stelle des pablistischen IS einnimmt," hieß es in dem OCI-Dokument. Es sei keine Kleinigkeit, dass die gesamte alte Führung der Vierten Internationale unter dem Druck des Imperialismus und Stalinismus kapituliert habe. Die pablistische Krise habe "die Vierte Internationale desorganisiert" und "ungelöste theoretische und politische Probleme angehäuft". "Wir können nicht rufen: Der König ist tot, lang lebe der König’. Wir müssen eine Diskussion über diese Fragen beginnen, was innerhalb des IKs noch nicht gründlich geschehen ist." Die Erklärung gipfelte in den Sätzen: "Im Wesentlichen wurde die Vierte Internationale unter dem Druck feindlicher Klassenkräfte zerstört," und "Das IK ist nicht die Führung der Vierten Internationale. ... Das IK ist die Triebkraft für den Wiederaufbau der Vierten Internationale." (43)
Es folgte eine Darstellung des Pablismus, die völlig von der bisherigen Einschätzung des Internationalen Komitees abweicht. Die OCI beschuldigte die Pablisten nicht, das marxistische Programm revidiert, den Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse aufgegeben und die Vierten Internationale liquidiert zu haben. Stattdessen warf sie ihnen vor, sie hätten "das Konzept einer fertigen, ultra-zentralistischen Vierten Internationale und entsprechender Parteien, versehen mit einer pyramidenartigen Hierarchie und Weltkongressen", vertreten. Trotzki dagegen sei "der Ansicht gewesen, dass die Vierte Internationale weder aufgebaut sei, noch eine endgültige Struktur besitze". (44)
Im Lichte der Auseinandersetzungen mit Spartacist und Voix Ouvrière fiel es der britischen SLL nicht schwer, den Sinn dieser Worte zu erfassen. Sie wies die Infragestellung des Internationalen Komitees durch die OCI scharf zurück. "Die Zukunft der Vierten Internationale", hieß es in ihrer Antwort, "ist im angestauten Hass von Millionen Arbeiter gegen die Stalinisten und Reformisten enthalten, die ihre Kämpfe verraten. Die Vierte Internationale muss bewusst um Führung kämpfen, um diesen Bedürfnissen entgegenzukommen... Nur der Kampf gegen den Revisionismus kann den Kader darauf vorbereiten, die Führung der Millionen Arbeiter zu übernehmen, die in den Kampf gegen den Kapitalismus und die Bürokratie hinein gezogen werden.... Der lebendige Kampf gegen den Pablismus und das Training von Kadern und Parteien auf der Grundlage dieses Kampfs war in den Jahren seit 1952 das Leben der Vierten Internationale." (45)
Die SLL ließ es nicht dabei bewenden, die historische Kontinuität der Vierten Internationale zu verteidigen. Sie zeigte den Zusammenhang zwischen den objektiven Veränderungen im Klassenkampf und der wachsenden Skepsis der OCI auf. Angesichts der Radikalisierung von Arbeitern und Jugendlichen, die sich weltweit abzeichnete, und der zahlenmäßigen Schwäche des eigenen Kaders suchte die OCI nach einer opportunistischen Abkürzung, die es ihr erlauben würde, Einfluss zu gewinnen, ohne den mühsamen Kampf für marxistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse zu führen. Ihr Vorwurf an die Pablisten, sie hätten eine "ultra-zentralistische" Internationale befürwortet, ihre Behauptung, Trotzki sei für eine Internationale ohne feste Struktur eingetreten, ihr Herumreiten auf organisatorischen Schwächen und Versäumnissen des Internationalen Komitees nach dem Dritten Weltkongress, wiesen alle in diese Richtung.
Die SLL warnte deshalb: "Die Radikalisierung der Arbeiter in Westeuropa schreitet jetzt rasch voran, besonders in Frankreich... In einem solchen Entwicklungsstadium besteht immer die Gefahr, dass eine revolutionäre Partei nicht in revolutionärer Weise auf die Lage in der Arbeiterklasse reagiert, sondern sich an das Niveau anpasst, auf das die Arbeiter durch ihre eigene Erfahrung unter der alten Führung beschränkt sind, d.h. an die unvermeidliche anfängliche Verwirrung. Solche Revisionen des Kampf für die unabhängige Partei und das Übergangsprogramm werden üblicherweise unter dem Deckmantel näher an die Arbeiterklasse’, Einheit mit allen, die sich im Kampf befinden’, keine Ultimaten stellen’, kein Dogmatismus’ usw. versteckt." (46)
Besonders deutlich wurde die opportunistische Orientierung der OCI in ihrer Haltung zur "Einheitsfront". "Zwischen 1944 und 1951", schrieb sie, "hat der PCI regelmäßig Briefe an das Politische Büro der französischen KP geschickt und ihr eine Einheitsfront von Organisation zu Organisation angeboten." Diese Politik sei angesichts der zahlenmäßigen Schwäche des PCI unrealistisch gewesen, denn: "Welche Abteilung führte der PCI, die die Grundlage für eine Einheitsfront zwischen ihr und der französischen KP hätte bilden können?" "Jetzt ist unsere Politik der Einheitsfront anders", fuhr die OCI fort. "Wir verleihen den Forderungen der fortgeschrittenen Arbeitern gegenüber den von der Arbeiterklasse anerkannten Führungen (SFIO, französische KP, Gewerkschaftsführungen) Ausdruck: Man muss mit der Bourgeoisie brechen und eine Klasseneinheitsfront bilden.’ ... Wir bringen Schichten von Jugendlichen, Arbeitern und Aktivisten zusammen und organisieren sie, um für die Einheitsfront zu kämpfen. Durch diese Kämpfe für die Einheitsfront bauen wir die OCI auf..." (47)
Die SLL protestierte heftig gegen diese Konzeption der "Einheitsfront". Sie beharrte darauf, dass die Partei "offen, auf der Grundlage ihrer eigenen Politik kämpfen und die opportunistischen und zentristischen politischen Führungen der Arbeiterklasse herausfordern" müsse. Wenn "die Einheitsfront dem Kampf für eine unabhängige Führung als Alternative, als leichterer Weg, entgegengestellt" werde, lenke dies die Arbeiter vom Weg einer revolutionären Führung ab. "Wird in diesem Stadium der Weltkrise, in diesem Stadium des Kampfs gegen den Revisionismus, das ganze Gewicht vom Aufbau der bolschewistischen Partei weggenommen, öffnet dies sofort die Schleusen für den vollen Druck des Klassenfeinds. Die sogenannte Klasseneinheitsfront ist ein Ausdruck dieses gefährlichen Kurses, eines verheerenden Kurses", warnte die SLL. (48)
Im Wesentlichen bedeute die Politik der OCI, "als erstes die Einheitsfront, und als zweites, durch sie, die Partei. Wir lehnen das ab," schrieb die SLL weiter. Die Einheitsfront sei eine Taktik mit dem Ziel, die Massen von den reformistischen Parteien zu brechen. "In der von der OCI vorgeschlagenen Form bereitet sie ebenso sicher wie die pablistische Theorie des Entrismus sui generis ’ die Liquidation vor. ... Das Entscheidende ist in beiden Fällen die Aufgabe der zentralen Bedeutung des Aufbaus der revolutionären Partei." (49)
Wie wir gesehen haben, wies die OCI die Kritik der SLL zurück. Ihr Eingreifen in die revolutionären Ereignisse von 1968 beruhte auf der von der SLL kritisierten politischen Linie, was, wie von der SLL vorausgesagt, schließlich zu ihrer Liquidation als trotzkistische Partei führte.
Der Brief vom 19. Juni 1967 war die letzte umfassende Kritik, welche die britische Sektion am politischen Kurs der OCI übte. In den darauffolgenden Jahren unterzog die SLL die Linie der OCI nie wieder einer gründlichen Analyse. Sie veröffentliche zwar eine oberflächliche, von Tom Kemp verfasste Artikelserie über die französischen Ereignisse vom Mai-Juni 1968, aber die Rolle der OCI wurde darin weitgehend ausgespart. Konnte dies 1968 noch mit der offiziellen Mitgliedschaft der OCI im Internationalen Komitee begründet werden, die einen öffentlichen politischen Angriff verbot, so verzichtete die SLL auch nach der Spaltung von 1971 darauf, die Wurzeln der zentristischen Degeneration der OCI zu untersuchen.
Eine solche Untersuchung wäre erforderlich gewesen, um den Kader des Internationalen Komitees politisch und theoretisch zu bewaffnen. Sie hätte weit vor die Ereignisse von 1968 und 1966 zurückgehen und aufzeigen müssen, wie sich die zentristische Orientierung der OCI entwickelte und welche politischen Probleme damit verbunden waren. Doch die SLL wich dieser Aufgabe aus, indem sie behauptete, politische Differenzen seien lediglich zweitrangige Erscheinungsformen philosophischer Meinungsverschiedenheiten, die konkrete Untersuchung politischer Fragen könne daher durch die abstrakte Diskussion erkenntnistheoretischer Probleme ersetzt werden. Sie begründete den Bruch mit der OCI schließlich mit deren Ablehnung des dialektischen Materialismus als marxistische Erkenntnistheorie.
Der Grund für das ausweichende Verhalten der SLL waren Meinungsverschiedenheiten in ihren eigenen Reihen, die die Führung der Partei nicht diskutieren wollte. Eine Auseinandersetzung mit der OCI hätte diese Differenzen aufbrechen lassen und die praktischen und organisatorischen Erfolge der SLL gestört. Die SLL zahlte schließlich einen hohen Preis für ihre Weigerung, die Hintergründe der Degeneration der OCI auszuleuchten. Weil die damit verbundenen politischen Probleme nicht geklärt wurden, fanden sie Einganin die SLL. 1974 gelang es der OCI, über Alan Thornett, den Leiter ihrer Gewerkschaftsarbeit, erhebliche Spannungen in die Reihen der Workers Revolutionary Party, wie die SLL inzwischen hieß, zu tragen. In der resultierenden Krise verlor die WRP einen großen Teil ihrer Mitglieder in den Betrieben. Ende der 70er Jahre verfolgte sie schließlich in Großbritannien einen ähnlich opportunistischen Kurs, wie die OCI in Frankreich - vor allem was die Beziehung zu den Gewerkschaften, der Labour Party und nationalistischen Bewegungen in den ehemaligen Kolonien anging. 1985 zerbrach die WRP an ihren inneren Gegensätzen.
Die politische Herkunft Pierre Lamberts
Das Versäumnis der SLL, die politischen Degeneration der OCI aufzuarbeiten, hatte zur Folge, dass deren Geschichte lange Zeit im Dunkeln blieb. Es war nur wenig über ihre politische Entwicklung, die parteiinternen Debatten und den Hintergrund ihrer Führer bekannt. In den vergangenen fünfzehn Jahren sind in Frankreich aber eine Vielzahl persönlicher Erinnerungen, historischer Werke unterschiedlicher Qualität sowie ernsthafter akademischer Studien über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung erschienen, die einen Einblick erlauben. Der Grund für das gewachsene Interesse war zum einen die Wahl Lionel Jospins, eines früheren OCI-Mitglieds, zum Regierungschef im Jahr 1997, zum anderen der beachtliche Wahlerfolg angeblicher Trotzkisten wie Arlette Laguiller und Olivier Besancenot.
Im September 2006 reichte Jean Hentzgen an der historischen Fakultät der Universität Paris I eine Magisterarbeit ein, die sich ausführlich mit der Frühgeschichte der OCI befasst. (50) Gestützt auf die Auswertung umfangreicher Archivmaterialien, von Interviews mit Zeitzeugen und von bereits vorhandenen Werken gibt der Autor eine detaillierte Darstellung der Geschichte des Mehrheits-PCI von 1952 bis 1955. Die Mehrheit des Parti communiste internationaliste war 1952 von Pablo aus der Vierten Internationale ausgeschlossen worden, weil sie sich seiner Politik des "Entrismus sui generis" - des Eintritts in die Kommunistische Partei und ihrer Auflösung als unabhängige Organisation - widersetzt hatte. Sie gehörte 1953 zu den Gründungsmitgliedern des Internationale Komitees und nannte sich ab 1965 OCI.
Hentzgens Arbeit macht deutlich, dass es im Mehrheits-PCI von Anfang an zwei unterschiedliche Strömungen gab. Die eine, geführt von Pierre Lambert, war stark syndikalistisch geprägt, sie konzentrierte ihre Arbeit auf die Gewerkschaften und später auf das Umfeld der Sozialdemokratie. Die andere, geführt von Marcel Bleibtreu, legte das Schwergewicht auf die Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Partei.
Der Konflikt zwischen diesen beiden Strömungen wurde mit wachsender Schärfe und Erbitterung geführt. Im März 1953 löste Lambert Bleibtreu an der Spitze des PCI ab. Zwei Jahre später wurden Bleibtreu und seine engsten Gesinnungsgenossen trotz eines Protests des Internationalen Komitees aus der Partei ausgeschlossen. Beide Fraktionen wiesen erhebliche politische Schwächen auf. Viele der komplexen Fragen, die mit dem Kampf gegen den pablistischen Revisionismus verbunden waren, sind in der französischen Sektion nie wirklich geklärt worden.
Marcel Bleibtreu (1918-2001) hatte sich im November 1950 auf einem Treffen des Internationalen Exekutivkomitees der Vierten Internationale als erster gegen die Thesen Pablos ausgesprochen und diese unter dem Titel "Wohin geht Pablo?" einer intensiven politischen und theoretischen Kritik unterzogen. (51) Das Dokument Bleibtreus (Parteiname: Favre), das im Juni 1951 veröffentlicht wurde, trug entscheidend zur politischen Orientierung der französischen Mehrheit bei, deren wichtigster Führer Bleibtreu war. Er hatte sich den französischen Trotzkisten 1934 angeschlossen, als diese innerhalb der sozialdemokratischen SFIO arbeiteten. Nach dem Krieg leitete er das Parteiorgan La vérité und wurde politischer Sekretär des PCI. Von Beruf war er Arzt.
Pierre Lambert (1920-2008) hatte sich 1937 der Gruppe von Raymond Molinier und Pierre Frank angeschlossen, die damals wegen ihres opportunistischen Kurses heftige Differenzen mit Trotzki und der offiziellen französischen Sektion hatte. Er war während des Krieges in den illegalen Gewerkschaften aktiv und leitete nach der Wiedervereinigung der französischen Trotzkisten im Jahr 1944 deren Gewerkschaftsarbeit. Die antipablistische Mehrheit unterstützte er erst nach anfänglichem Zögern. Einer der wichtigsten Gründe war offenbar, dass Pablos Kurs des "Entrismus sui generis" die Gewerkschaftsarbeit des PCI zu zerstören drohte, in deren Rahmen sich vor allem jüngere Genossen in den Betrieben mutig den Stalinisten widersetzt hatten.
Viele Merkmale von Lamberts späterer Politik deuteten sich bereits vor der Spaltung mit den Pablisten an. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass er 1947 innerhalb des PCI einen Beschluss durchsetzte, der auf der völligen Unabhängigkeit der Gewerkschaften von politischen Parteien beharrte. Von 1950 bis 1952 beteiligte sich Lambert an der Herausgabe einer Gewerkschaftszeitung mit dem Namen L’Unité (Einheit), deren Redaktion sich aus Gewerkschaftern unterschiedlicher politischer Orientierung zusammensetzte - neben den Trotzkisten des PCI waren darin auch Anarchisten und Reformisten, darunter offene Antikommunisten, vertreten. Einige - wie Alexandre Hébert, Anarchist und von 1947 bis 1992 Sekretär der Gewerkschaft Force Ouvrière in der Region Loire-Atlantique - hielten Lambert Zeit seines Lebens die Treue.
Im Juli 1952 tagte der achte Kongress des PCI. Erstmals trafen sich Mehrheit und pablistische Minderheit getrennt. Der Kongress der Mehrheit stand ganz im Zeichen des Kampfs gegen die Pablisten. In dieser Frage waren sich Bleibtreu und Lambert einig. Auch darin, dass sich der PCI nicht aus der Vierten Internationale verdrängen lassen, sondern innerhalb dieser für einen Kurswechsel und für ihre Wiederaufnahme kämpfen sollte. Zu Spannungen kam es dagegen über die Ausrichtung der politischen Arbeit. Bleibtreu lehnte zwar Pablos Kurs ab, die ganze Sektion in der Kommunistischen Partei aufzulösen, hielt aber eine geheime Fraktionsarbeit ausgewählter Kader innerhalb der Kommunistischen Partei für notwendig und unverzichtbar. Lambert war der Ansicht, dass die Organisation für eine solche Arbeit zu schwach sei, und wollte alle Kräfte auf die Gewerkschaftsarbeit konzentrieren.
In den folgenden Monaten verschärften sich die Spannungen. Auf einer Sitzung des Zentralkomitees Ende Dezember gab Bleibtreu den politischen Bericht, Lambert den Bericht über die Gewerkschaftsarbeit. Hentzgen fasst die gegensätzlichen Standpunkte zusammen:
Laut Bleibtreu "soll der PCI die Intervention der unabhängigen Partei mit einer geheimen Fraktionsarbeit und Hilfe für die Strukturierung der Linksoppositionellen [innerhalb der KPF] verbinden. Die revolutionäre Partei wird ausgehend von dieser Linksopposition aufgebaut."
Laut Lambert "besteht die erste Aufgabe der Revolutionäre darin, die äußerst geschwächten gewerkschaftlichen Organisationen wieder aufzubauen: vorrangig die CGT aber auch FO. Die aktive Gewerkschaftsarbeit wird es den Trotzkisten erlauben, in die Massen einzudringen und sich dort zu verankern. Durch die Wirkungskraft ihrer Parolen und die von ihnen vorgeschlagenen Aktionen wird es den Trotzkisten gelingen, die Arbeiter zum Handeln zu bewegen und nach und nach die Rolle der Führung zu übernehmen." (52)
Beide Standpunkte näherten sich bedrohlich jenen der Pablisten. Diese vertraten die Auffassung, dass die revolutionäre Partei nicht aus dem bestehenden Kader der Vierten Internationale, sondern aus einer - von den Trotzkisten beeinflussten - linken Fraktion innerhalb der stalinistischen oder reformistischen Organisationen hervorgehen würde.
Die Hoffnungen, die Bleibtreu auf die Entwicklungen einer linken Opposition innerhalb der KPF setzte, fanden ihren deutlichsten Ausdruck in einem Bündnis mit André Marty. Der stalinistische Veteran, der seinen Ruhm der Meuterei auf einem französischen Kriegsschiff vor Odessa im Jahr 1919 verdankte, von 1935 bis 1943 als Sekretär der Kommunistischen Internationale diente und im spanischen Bürgerkrieg die Internationalen Brigaden organisierte, fiel 1952 in Ungnade und wurde aus der KPF ausgeschlossen. Obwohl Marty wegen seines brutalen Vorgehens gegen linke Oppositionelle in Spanien der Ruf des "Schlächters von Albacete" anhaftete und es wenig Anzeichen dafür gab, dass er ernsthaft mit seiner stalinistischen Vergangenheit abrechnete, betrachtete ihn Bleibtreu als Anführer einer linken Opposition.
Bleibtreu traf sich persönlich mit Marty, der Interesse an einer Zusammenarbeit bekundete, aber auch mit den Pablisten in Kontakt stand. Der Mehrheits-PCI führte eine Kampagne zu Martys Verteidigung und gründete zu diesem Zweck Komitees der kommunistischen Reorganisation (Comités de redressement communiste), die sich zu einer linken Opposition gegen die stalinistische Führung entwickeln sollten. Im Januar 1953 forderte La Vérité Marty auf: "Gehen Sie vorwärts und Sie werden erst der Wortführer, dann der Organisator des revolutionären Proletariats dieses Landes sein!" (53)
Die Anbiederung an Marty, die rund drei Jahre andauerte, stieß im PCI auf erheblichen Widerstand und brachte Bleibtreu den Vorwurf des "Pablismus ohne Pablo" ein. Sie trug wesentlich dazu bei, seine Autorität zu unterhöhlen. Im März 1953 geriet er im Zentralkomitee in die Minderheit, und Lambert übernahm die Führung des PCI.
Während Bleibtreu den Kontakt zur André Marty pflegte, setzte Lambert große Erwartungen in ein anderes Führungsmitglied der KPF, in Benoît Frachon, den Führer der Gewerkschaft CGT.
Frachon hatte 1951 und dann wieder 1953 zur Aktionseinheit aller Gewerkschaften aufgerufen und damit die volle Unterstützung Lamberts gefunden. Es gab zwar Spannungen zwischen Frachon und anderen Führern der KPF, doch diese nahmen nie einen grundsätzlichen Charakter an. Die Wende der CGT zur "Aktionseinheit" hing eher damit zusammen, dass die KPF selbst eine mögliche Regierungsbeteiligung ins Auge fasste und deshalb eine Annäherung an die reformistischen Parteien anstrebte. 1954 unterstützte sie dann tatsächlich eine Koalitionsregierung von Sozialisten, Radikalsozialisten und Linksgaullisten unter Pierre Mendés-France. Lambert dagegen behauptete, der Apparat der CGT sei - im Gegensatz zu dem der KPF - mit den Massen verbunden.
Die Forderung nach Einheit stand im Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit des PCI. Ab 1953 rief er zur Organisation von "Assisen für die gewerkschaftliche Aktionseinheit" auf, die auf örtlicher und nationaler Ebene Vertreter verschiedener Gewerkschaftsorganisationen zusammenbringen sollten. Die PCI-Mitglieder in den Gewerkschaften wurden angewiesen, alle Probleme des gewerkschaftlichen Lebens mit der Parole der "Nationalen Assisen für die gewerkschaftliche Aktionseinheit" in Verbindung zu bringen.
Gegenüber den Gewerkschaftsführern verhielt sich der PCI dabei weitgehend unkritisch. Im März 1954 organisierte er eine nationale Konferenz, die ausdrücklich nicht das Programm der Partei, sondern die "demokratische Einheit" in den Mittelpunkt stellte. Das Erscheinen eines hochrangigen CGT-Funktionärs auf dieser Konferenz, des Generalsekretärs der Postgewerkschaft G. Frischmann, feierte sie als großen Erfolg. Im Anschluss schickte das "Permanente Komitee für die Assisen" eine Delegation in die Gewerkschaftszentralen, darunter drei Trotzkisten, die auch von der CGT empfangen wurden.
Schließlich traf sich Lambert persönlich mit CGT-Chef Frachon und wurde auf dessen Betreiben hin wieder in die Gewerkschaft aufgenommen, aus der er zuvor ausgeschlossen worden war. Frachon war der Auffassung, dass die Kampagne des PCI für Gewerkschaftseinheit für die Bürokratie keine Bedrohung darstelle.
Am 16. November 1953 veröffentlichte die amerikanische Socialist Workers Party den "Offenen Brief", der zum Bruch mit den Pablisten und zur Gründung des Internationalen Komitees aufrief. Er wurde vom PCI mit Begeisterung aufgenommen. Ihre internationale Isolation hatte ein Ende. La Vérité erschien mit der Schlagzeile: "Der Trotzkismus wird siegen, ein Appell der amerikanischen Trotzkisten gegen die Liquidatoren der Vierten". Die PCI organisierte am 23. November ein erstes Treffen des Internationalen Komitees in Paris. Marcel Bleibtreu, obwohl nicht mehr ihr Sekretär, vertrat den PCI im Internationalen Komitee und Gérard Bloch übernahm die Aufgabe des Sekretärs. Doch die Auseinandersetzungen innerhalb des PCI gingen trotz dieser Veränderung unvermindert weiter.
Zu den bereits bestehenden Differenzen kamen weitere hinzu. Nach dem Tode Stalins und der Niederschlagung des DDR-Aufstands vom Juni 1953 gab es unterschiedliche Einschätzungen der stalinistischern Parteien. Bleibtreus Tendenz trat für die kritische Unterstützung linker Strömungen in der Bürokratie ein, die Parteimehrheit um Lambert und Bloch lehnte dies ab und setzte auf einen Arbeiteraufstand, wie er in Ost-Berlin stattgefunden hatte.
Auch hinsichtlich der nationalen Befreiungsbewegungen gab es Differenzen. Hier trat Lambert - ähnlich wie die Pablisten - für eine bedingungslose Unterstützung ohne jegliche Kritik ein, während die Bleibtreu-Tendenz die Auffassung vertrat, die Unterstützung müsse mit einer solidarischen Kritik verbunden sein.
Ab Mai 1952 pflegte die PCI enge politische und persönliche Beziehungen zu Messali Hadj, dem Führer der algerischen Befreiungsbewegungen MTLD (Mouvement pour le Triomphe des Libertés Démocratiques) und MNA (Mouvement national Algérien). Nachdem Messali Hadj von der Polizei aus Algerien ausgewiesen worden war, nahmen PCI-Mitglieder sogar seine Kinder bei sich auf. Das MTLD wurde von vielen algerischen Arbeitern in Frankreich unterstützt, und diese arbeiteten innerhalb der CGT zum Teil eng mit dem PCI zusammen. Messali Hadj war und blieb aber ein bürgerlicher Nationalist.
Mit dem Beginn des algerischen Befreiungskriegs 1954 rückte die Unterstützung des MNA, die von Lambert zeitweilig mit einer revolutionären proletarischen Partei verglichen wurde, immer mehr ins Zentrum der Arbeit des PCI. Der PCI übernahm logistische Aufgaben und beteiligte sich an der illegalen Arbeit. Die Bleibtreu-Tendenz kritisierte diesen Standpunkt und warf der Führung vor, sie habe "gegenüber der MTLD und ihren Mängeln eine Haltung des servilen Opportunismus" eingenommen. (54)
In Algerien wurde die MNA von der Nationalen Befreiungsfront FLN verdrängt. Diese war aus einer Abspaltung der bewaffneten Untergrundorganisation des MTLD hervorgegangen, verfügte kaum über Wurzeln in der Arbeiterklasse und verdankte ihre Stärke der Unterstützung durch die ägyptische Regierung Gamal Abdel Nassers, die sie mit Waffen belieferte, sowie ihrem rücksichtslosen Vorgehen gegen politische Rivalen. Messali Hadj reagierte auf seine zunehmende Isolation mit einem politischen Rechtsruck. Im Sommer 1958 nahmen seine Anhänger Verhandlungen mit der französischen Regierung auf und der PCI brach die Beziehungen zu ihm ab.
Die fraktionellen Spannungen im PCI wurden im Laufe des Jahres 1954 immer bitterer. Das Internationale Komitee und vor allem dessen britische Sektion bemühten sich vergeblich, die Wogen zu glätten und die beiden Flügel zu einer positiven Zusammenarbeit zu bewegen. Schließlich wurden Bleibtreu und zwei seiner Anhänger - Michel Lequenne und Lucien Fontanel - wegen einer Disziplinfrage ausgeschlossen. Sie hatten gegen den Willen des Politischen Büros einer Vorladung der Polizei Folge geleistet. Sie hatten dort zwar - wie es der bisherigen Politik der Partei entsprach - keinerlei Aussagen gemacht. Doch das Politische Büro hatte verlangt, dass sie die Vorladung ignorieren - was ihre sichere Verhaftung zur Folge gehabt hätte!
Das Internationale Komitee gab am 21. Mai 1955 in einer Erklärung seiner Entrüstung über den Ausschluss Bleibtreus, Lequennes und Fontanels Ausdruck. Es verlangte, dass sie wieder aufgenommen werden und in allen führenden Gremien der Partei vertreten sind. Vergeblich. Das Zentralkomitee des PCI lehnte die Forderung des Internationalen Komitees rundweg ab.
Lamberts Tendenz dominierte nun den PCI, der in der Arbeit des Internationalen Komitees nur noch eine geringe Rolle spielte. Als sich die amerikanische SWP 1963 mit den Pablisten zum Vereinigten Sekretariat zusammenschloss, hielt die französische Sektion zwar zum Internationalen Komitee. Aber alle wichtigen Dokumente gegen die Vereinigung wurden von der britischen Sektion verfasst.
In Frankreich widmete sich der PCI der Betriebsarbeit, wobei er jahrelang eine enge Arbeitsteilung mit der opportunistischen Voix Ouvrière pflegte, die erst 1966 durch den Konflikt auf dem Dritten Weltkongress des Internationalen Komitees beendet wurde. Ab 1959 produzierten und verteilten die beiden Organisationen gemeinsam Flugblätter vor Betrieben, wobei VO-Führer Hardy, der als Pharmavertreter ein Auto besaß, Lambert häufig zu gemeinsamen Fahrten mitnahm.
Auch Bleibtreu und Lequenne rückten nach ihrem Ausschluss weiter nach rechts. Sie schlossen sich der Neuen Linken an, bauten darin eine eigene Tendenz auf und beteiligten sich an der Gründung des Parti socialiste unifié (PSU), einer linken Sammlungsbewegung, aus der später zahlreiche sozialistische Regierungschefs und Minister hervorgehen sollten. 1968 beherrschte der PSU unter der Führung Michel Rocards den Studentenverband UNEF, wie wir gesehen haben.
Bleibtreu war eine Zeit lang Mitglied des Politischen Komitees und des Generalsekretariats des PSU, bis er ihm 1964 den Rücken kehrte. Danach engagierte er sich in zahlreichen Initiativen - für den Frieden in Vietnam, gegen Kinderarmut und, in den neunziger Jahren, gegen das Irak-Embargo. Lequenne ging 1963 nach Algerien, um das nationale Regime zu unterstützen, schloss sich dort den Pablisten an und wurde Mitglied des Vereinigten Sekretariats. Von 1974 bis 1995 arbeitete er für die Zeitung Libération. Er starb 2006.
Der Zentrismus, den die OCI 1968 an den Tag legte, hatte also eine lange Vorgeschichte. In letzter Analyse war er das Ergebnis davon, dass die französische Sektion den Kampf gegen den pablistischen Revisionismus aufgegeben hatte.
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Anmerkungen:
1) Michelle Zancarini-Fournel, « 1962-1968. Le champ des possibles », dans « 68. Une histoire collective », Paris 2008
2) Daniel Bensaid, Alain Krivine, "Mai si! 1968-1988 : Rebelles et repentis", Montreuil 1988, p. 39
3) Karl Marx u. Friedrich Engels, "Ansprache der Zentralbehörde an den Bund", Werke, Bd.7, Berlin/DDR. S.247
4) Jean-Paul Salles, « La Ligue communiste révolutionnaire », Rennes 2005, p. 49
5) Alain Krivine, « Ça te passera avec l’âge », Flammarion 2006, p. 93-94
6) Jean-Paul Salles, ibid., p. 52
7) Pierre Frank, « Mai 68 : première phase de la révolution socialiste française », http://www.lcr-rouge.org/spip.php?article1609
8) Pierre Frank,ibid.
9) Ingrid Gilcher-Holtey, "Mai 68 in Frankreich", in "1968. Vom Ereignis zum Mythos", herausgegeben von Ingrid Gilcher-Holtey, Frankfurt am Main 2008, S. 25
10) archplus 183, Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Mai 2007
11) Alain Krivine, Daniel Bensaid, "Mai si! 1968-1988: Rebelles et repentis", Montreuil 1988
12) ibid., p. 39-40
13) Leo Trotzki, « Das Übergangsprogramm », Essen 1997, S. 109-110
14) Pierre Frank, « Mai 68 : première phase de la révolution socialiste française », http://www.lcr-rouge.org/spip.php?article1609
15) Leo Trotzki, "Die Volksfront und die Aktionskomitees", 26. November 1935, http://marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/11/volksfront.htm
16) Jeunesse Communiste Revolutionnaire, "Workers, Students", May 21, 1968, http://marxists.org/history/france/may-1968/workers-students.htm
17) Leon Trotsky, "What is a ‘Mass Paper’?", in "The Crisis of the French section (1935-36)", New York 1977, p. 98, 101
18) Leon Trotsky, "Against False Passports in Politics", ibid. p. 115, 119
19) ibid, p. 119-120
20) Krivine, Bensaid, ibid., p. 43
21) Alain Krivine, « Ça te passera avec l’âge », Flammarion 2006, p. 103-104
22) Leo Trotzki, "Klasse, Partei und Führung", in "Revolution und Bürgerkrieg in Spanien1931-39", Frankfurt 1976, S. 346
23) Edwy Plenel, « Secrets de jeunesse », Editions Stock 2001, p. 21-22
24) François de Massot, "La grève générale (Mai-Juin 1968)", Supplément au numéro 437 d’ Informations Ouvrières. Alle in diesem Teil angeführten Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Buch.
25) Leo Trotzki, "Der Zentrismus und die IV. Internationale", in "Schriften über Deutschland", Frankfurt 1971, S. 671 / Leo Trotzki, "Was nun?", ebd. S. 243
26) unsere Hervorhebung
27) Zitiert in Leo Trotzki, "Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats", in "Schriften über Deutschland", Frankfurt 1971, S. 222
28) Leo Trotzki, "Die Dritte Internationale nach Lenin", Essen 1993, S. 100
29) Zitiert in "Was nun?", op.cit. S. 222-223
30) de Massots Hervorhebung
31) Zur Haltung der marxistischen Bewegung zu den Gewerkschaften siehe David North, Marxismus und Gewerkschaften, http://www.wsws.org/de/sydney/gewerk.htm
32) Leo Trotzki, "Die neue Etappe", in "Europa und Amerika", Essen 2000, S. 80
33) ebd. S. 79
34) Daniel Gluckstein, Pierre Lambert, "Itinéraires", Éditions du Rocher 2002, p.51
35) La vérité No. 541, avril-mai 1968
36) "Le bonapartisme gaulliste et les tâches de l’avant-garde", la vérité No. 540, février-mars 1968
37) Dieses und die folgenden Zitate in diesem Abschnitt: Leo Trotzki, "Die Volksfront und die Aktionskomitees" (26. November 1935), http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/11/volksfront.htm
38) Leo Trotzki, « Das Übergangsprogramm », Essen 1997, S. 109-110
39) "Le bonapartisme gaulliste et les tâches de l’avant-garde", la vérité No. 540, février-mars 1968)
40) zitiert in Jean-Paul Salles, "La ligue communiste révolutionnaire", Rennes 2005, p. 98
41) "Reply to the OCI by the Central Committee of the SLL, June 19, 1967" in "Trotskyism versus Revisionism", Volume 5, London 1975, p. 107-132
42) "Statement by the OCI, May 1967" in "Trotskyism versus Revisionism", Volume 5, London 1975, p. 84
43) ibid. p. 91-92 / 95
44) ibid. p. 92
45) "Reply to the OCI by the Central Committee of the SLL, June 19, 1967", ibid., p. 107/114
46) ibid., pp. 113-114
47) "Statement by the OCI, May 1967", ibid. p. 95
48) ibid. pp. 123-124
49) ibid. p. 125
50) Jean Hentzgen, "Agir au sein de la classe. Les trotskystes français majoritaires de 1952 à 1955", Université de Paris I, Septembre 2006. http://jeanalain.monfort.free.fr/Hentzgen/pci306.pdf
51) "’Where is Pablo going?’ by Bleibtreu Favre, June 1951" in "Trotskyism versus Revisionism", Volume 1, London 1974
52) Hentzgen, op.cit., p. 57
53) zitiert in ibid. p. 60
54) zitiert in ibid. p. 148