Manche Tatsachen der deutschen Nachkriegsgeschichte werden heutzutage von Historikern und Medienvertretern als alte Geschichten abgetan. Dazu gehört der Tatbestand, dass nach dem Untergang des Nazi-Regimes zahllose NS-Verbrecher nicht bestraft wurden, sondern im westdeutschen Staat Karriere als Richter, Staatsanwälte, Professoren, Vorständler in der Wirtschaft sowie in Polizei, Armee und Geheimdiensten machen konnten!
In einem Artikel vom 12. Juli 2010 unter der Überschrift „Brauner Sumpf“ hob der politische Redakteur der Berliner Zeitung Andreas Förster diese Tatsache wieder ins öffentliche Bewusstsein und warf zugleich einige offene und aktuelle Fragen auf.
Anlass für den Zeitungsartikel war die am 28. April 2010 erfolgte Freigabe von zwei bisher gesperrten Aktenordnern der Hauptabteilung IX/11 des früheren Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die sich mit der Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen befasste. Diese beiden Aktenordner waren im Jahre 2000 von der Stasi-Unterlagenbehörde unter VS (Verschlusssache) gestellt worden, nachdem ein Journalist die Akteneinsicht für eine Recherche beantragt hatte. Es handelt sich dabei um Akten eines Vorgangs aus den Jahren 1971 bis 1980, der die Namen von insgesamt 18 früheren Polizeibeamten und Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), des Verfassungsschutzes sowie der Landespolizei von Schleswig-Holstein, von Hamburg und von Westberlin enthält. Zu zwölf Personen liegen den Stasi-Akten Nachweise ihrer Nazi-Vergangenheit als Kopie bei.
Andreas Förster listet einige Namen auf: So den 1905 geborenen Kurt Fischer, einen früheren Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Laut den NS-Unterlagen wurde der zu Kriegszeiten als Polizeibeamter tätige Fischer 1941 zunächst in Sosnowitz im besetzten Polen eingesetzt. 1944 versetzte ihn das für die Konzentrationslager zuständige Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS erst nach Dachau und dann "zur Dienstleistung" an das Amt für Schädlingsbekämpfung in Auschwitz. Das Amt war Adressat des aus Deutschland gelieferten Giftgases Zyklon B, das zum Massenmord an den KZ-Insassen in Auschwitz verwendet wurde. Nach dem Krieg tauchte der SS-Sturmbannführer Fischer zunächst unter dem Namen Karschner in der Bundesrepublik unter, bevor er unter seinem richtigen Namen vom Verfassungsschutz übernommen wurde.
Der mutmaßlich beim BND tätige Josef Anetzberger war den in der MfS-Akte beigelegten NS-Unterlagen zufolge als damals 39-jähriger Rottenführer Angehöriger des SS-Totenkopf-Wachbataillons Sachsenhausen und im dortigen KZ zur Bewachung von Häftlingen eingesetzt.
Über den 1902 geborenen schleswig-holsteinischen Verfassungsschützer Franz Market heißt es, er sei ab 1944 in Bozen als SS-Mann in einem Gefangenenlager eingesetzt gewesen. Wegen "fortgesetzter Wachverfehlungen" habe man ihn im September 1944 jedoch aus der SS ausgeschlossen.
Belastende Unterlagen fand das MfS auch über Erwin Japp, Anfang der 1970er Jahre Inspekteur der Schutzpolizei Süd in Schleswig-Holstein. Laut den beigefügten NS-Unterlagen war Japp von 1942 an Adjutant des Kommandeurs der Ordnungspolizei in Simferopol, Ort eines grausamen Massakers Weihnachten 1941 an über 14.000 Juden und weiteren Massenmorden im Jahr 1942. In einer sowjetischen Liste von Personen, die an Nazi-Verbrechen in der UdSSR beteiligt gewesen sein sollen, taucht auch sein Name auf.
NS-Täter im bundesdeutschen Staat
Der Zeitungsbericht knüpft an frühere Veröffentlichungen und Dokumentationen an. Erinnert sei an das 1965 in der DDR publizierte und nach der Wende neu aufgelegte Braunbuch, das damals von westdeutschen Politikern und Medien als pure SED-Propaganda bezeichnet wurde. Darin waren die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von 1.800 Wirtschaftsführern, Politikern und führenden Beamten in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin aufgelistet. Inzwischen sind sich die meisten Historiker einig, dass 99 Prozent der im „Braunbuch“ gemachten Angaben der Realität entsprachen und eher noch die Zahl der Nazis in führenden Positionen der Wirtschaft, der Verwaltung, der Wissenschaft, der Justiz und der Armee unterschätzten.
Es sei auch an einige exponierte Vertreter in Wirtschaft und Politik erinnert, deren braune Vergangenheit bereits zu Lebzeiten aufgedeckt worden war – so der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke, der am Bau und Betrieb von Konzentrationslagern maßgeblich beteiligt war; der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, der als NS- Marinerichter noch kurz vor Kriegsende Todesurteile verhängte; der frühere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, an führender Position im Reichsaußenministerium tätig; ferner der Staatssekretär im Bundeskanzleramt und engste Berater Konrad Adenauers, Hans Globke, als Ministerialrat im Reichsinnenministerium für die Auslegung der „Nürnberger Rassegesetze“ zuständig; oder auch, manchen weniger bekannt, der führende Verwaltungsrechtler der Nazis, Theodor Maunz, der nach dem Krieg den maßgeblichen Kommentar zum bundesdeutschen Grundgesetz schrieb.
Bekannt ist auch die Entstehung des Bundesnachrichtendiensts aus der „Organisation Gehlen“. Dessen Leiter und spätere erste Präsident des BND, Reinhard Gehlen, hatte in Hitlers Generalstab die „Abteilung Fremde Heere Ost“ geleitet und wurde von der amerikanischen Besatzungsbehörde und der CIA ab 1946 beauftragt, den neuen deutschen Geheimdienst aufzubauen. Er nutzte dies, um zahlreichen Ehemaligen aus SS, SD, Gestapo, der Abwehr und der Wehrmachtsführung Unterschlupf und eine neue Identität zu verschaffen. Aus jetzt von der CIA freigegebenen Unterlagen über die Organisation Gehlen, die im Nationalarchiv von Washington einsehbar sind, geht hervor, dass im Sommer 1949 rund 400 Mitarbeiter der Organisation, die meisten von ihnen in leitenden Positionen, aus dem Sicherheitsapparat der Nazis stammten. Anfang der 60er Jahre wurden bei einer internen Untersuchung rund 200 BND-Mitarbeiter als frühere Angehörige von NS-Sicherheitsbehörden identifiziert, die zum Teil an Kriegsverbrechen beteiligt waren, und selbst Anfang der 70er Jahre waren noch schätzungsweise 25 bis 30 Prozent mit NS-Hintergrund beim BND beschäftigt.
Andreas Förster erwähnt in der gleichen Zeitungsausgabe ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der BND-Geschichte. Der 2006 damit beauftragte Erlanger Historiker Gregor Schöllgen habe es nach zwei Jahren Verhandlungen „entnervt“ hingeworfen, weil Kräfte in der Regierung und der BND-Leitung das Projekt offensichtlich zum Schutz von BND-Mitarbeitern blockierten, die „zum Teil schon in dritter Generation im Dienst tätig sind und dadurch mit der Geschichte ihrer eigenen Familie konfrontiert werden könnten“. Versuche einer geschichtlichen Aufarbeitung wurden stattdessen mit der Observation der entsprechenden Journalisten beantwortet. Förster selbst war 2005 ins Visier eines Spitzels geraten, als er zu einem Bericht über den BND recherchierte.
Einige aktuelle Fragen
Mit der neuerlichen Aufdeckung des braunen Sumpfes in den deutschen Staatsorganen stellen sich jedoch weitere Fragen, die für die gegenwärtige Situation bedeutsam sind. Der Forschungsvorgang des MfS mit der Bezeichnung FV 5/7 umfasst insgesamt 27 Ordner. 25 Ordner waren bisher schon zur Einsicht freigegeben. Förster verweist darauf, dass auch in diesen Ordnern zahlreiche Namen von Angehörigen der bundesdeutschen Geheimdienste und Polizei mit Nazi-Vergangenheit erwähnt werden ebenso wie die Namen von rund hundert weiteren ehemaligen Nazis, die später leitende Positionen in Wirtschaft und Politik einnehmen konnten.
Die DDR-Regierung nutzte solche Erkenntnisse, um Illusionen in der Bevölkerung über eine antifaschistische und antikapitalistische Rolle der SED zu verbreiten. Gleichzeitig wurden damit allerdings auch NS-belastete westliche Geheimdienstler unter Druck gesetzt, sich als Doppelagenten dem MfS zur Verfügung zu stellen.
Was aber war das Interesse des bundesdeutschen Staats nach dem Ende der DDR, solche Akten noch zwanzig Jahre lang unter Verschluss zu halten?
Nach dem Sturm empörter Demonstranten 1989/90 auf die Stasi-Zentralen, um die Vernichtung der Akten zu verhindern, vereinbarten die Vertreter des Runden Tisches Anfang 1990, dass alle Unterlagen der Staatssicherheit dem DDR-Staatsarchiv zu übergeben und der Forschung und damit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen seien. Joachim Gauck, der damals dem Neuen Forum angehörte, wurde nach der letzten Volkskammerwahl der DDR zum Leiter des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)/Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) gewählt und nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik zum Beauftragten der Bundesregierung für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR bestimmt. Die ursprüngliche Forderung nach Öffnung aller Akten ließ er schnell fallen und initiierte stattdessen 1991 das Stasi-Unterlagengesetz.
Dieses Gesetz besagt, dass die Behörde Akten dann sperren kann, wenn sie Informationen über Mitarbeiter der Geheimdienste der Bundesrepublik oder der Geheimdienste befreundeter Nationen beinhalten und „wenn der Bundesminister des Innern im Einzelfall erklärt, dass das Bekanntwerden der Unterlagen die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde“. Genau dies betraf auch die besagten zwei Ordner, als ein Journalist im Jahr 2000 Akteneinsicht forderte. Die Gauck-Behörde versagte die Erlaubnis nach Rücksprache mit dem damaligen SPD-Innenminister und früheren Grünen-Mitglied Otto Schily.
Dazu Andreas Förster: „Die rigide Verwahrungsordnung im Stasi-Unterlagengesetz führt unter anderem dazu, dass auch zwanzig Jahre nach Ende der Stasi Akten über DDR-Geschäftspartner, die beispielsweise als Chefs westdeutscher SED-Firmen gleichzeitig als Informanten für den Verfassungsschutz gearbeitet haben, gesperrt sind. Auch die Namen von früheren Offizieren des sowjetischen Geheimdienstes KGB müssen in den Akten geschwärzt werden, da der russische Nachfolgedienst inzwischen Partner des Bundesnachrichtendienstes ist.“
Für was wurden oder werden diese Personen noch gebraucht? Welche Rolle haben sie bis zum Jahre 2010 gespielt? Und welche Akten werden noch geheim gehalten und aus welchem Grund? Sind darin ehemalige Stasi-Mitarbeiter oder Doppelagenten enthalten, die nach der Wende in den Dienst des BND, MAD oder Verfassungsschutzes gewechselt sind? Brauchen die jetzigen Geheimdienste ihre Erfahrungen in der Unterdrückung oppositioneller Tendenzen in der Bevölkerung? In einer Situation wie heute, die durch eine immer schärfere Kluft zwischen Arm und Reich und immer heftigere Angriffe der herrschenden Elite auf die Bevölkerung beherrscht ist, liegt dieser Schluss nahe.
Die Ankündigung der Merkel-Regierung, die Dokumente der Stasi-Unterlagenbehörde noch bis zum Jahr 2019 – dreißig Jahre nach dem Ende der DDR – nutzen zu wollen, könnte diesen Hintergrund haben. Die angegebene Begründung, sie wolle weiterhin alle Bewerber und Mitarbeiter in führenden Positionen des öffentlichen Dienstes auf eine frühere Stasi-Tätigkeit überprüfen, ist wohl nur die halbe Wahrheit.
Als sichtbares Zeichen für eine Ausweitung von Geheimdienstoperationen gegen die Bevölkerung und fast schon bedrohlich, entsteht derzeit ein riesiger Neubaukomplex für die Zentrale des BND – nicht mehr im abgelegenen Pullach bei München, sondern mitten im Zentrum der Hauptstadt Berlin. 720 Millionen Euro wurden dafür im Haushalt eingeplant, weitere Gelder darüber hinaus schon beantragt, beispielsweise erst vor kurzem 25 Millionen für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen. Das zehn Hektar große Gelände ist hermetisch abgeriegelt, der Bauzaun wird mit zahlreichen Videokameras überwacht, nachts wird die Baustelle mit Flutlicht ausgeleuchtet und beinahe hinter jedem Bauarbeiter steht ein Wachmann. Die Geschossflächenzahl der Gebäude dieses geheimen Städtchens wird der Größe von 35 Fußballfeldern entsprechen. Bereits im Jahre 2013 sollen voraussichtlich 4.000 der offiziell 6.000 Mitarbeiter des BND hier einziehen.
Diese Geheimdienstzentrale wird nicht nur von ihren Dimensionen her an die finstersten Zeiten der deutschen Geschichte anknüpfen.