„Höll startet neu durch! Restrukturierung rettet Arbeitsplätze und schafft Perspektive!“ heißt es auf der Website des mittelständischen Saarbrücker Wurstherstellers Höll, der im September 2011 Insolvenz beantragt hatte und seine Geschäfte jetzt unter neuem Namen und mit neuem Konzept wieder aufnimmt. „Durch die übertragende Sanierung werden über 200 Arbeitsplätze gesichert.“
Die Details dieser „Arbeitsplatzsicherung“ sollten allen Arbeitern eine deutliche Warnung sein. Sie setzen neue Maßstäbe beim Lohndumping und bei der Abschaffung von Sozialleistungen und verdeutlichen die Verschärfung eines Trends, der sich seit letztem Sommer extrem beschleunigt hat – die Beschäftigung von Arbeitskräften auf der Grundlage von Werkverträgen.
Wegen gestiegener Rohstoffpreise geriet das Unternehmen Höll, das an drei Standorten im Saarland, in Brandenburg und in Polen etwa 600 Arbeitskräfte beschäftigt, letztes Jahr in Zahlungsschwierigkeiten. Zusammen mit Insolvenzverwalter Günter Staab entwickelte der neue Besitzer des Unternehmens, Ex-Bertelsmann-Aufsichtsratschef Gunter Thielen, einen Plan zur Rettung des Unternehmens, legte ihn der Landesregierung vor und erhielt dafür im Januar grünes Licht.
Dieser Insolvenzplan sah offiziell den „Abbau“ von 102 Arbeitsplätzen vor. Bei seiner Verwirklichung entpuppte er sich allerdings als etwas ganz anderes: Nach der Entlassung der 102 bis dahin fest angestellten Mitarbeiter wurden diese nämlich bereits in der nächsten Schicht durch rumänische Billigkräfte ersetzt. Grundlage ihrer Beschäftigung sind die seit 2007 von der EU genehmigten sogenannten Werkverträge, die der Arbeitgeber mit einem Subunternehmer abschließt und mit deren Hilfe er Kündigungsschutz und Sozialleistungen umgehen und ganz legal Dumpinglöhne bezahlen kann.
Solche Werkverträge erleben zurzeit einen gewaltigen Aufschwung. Hintergrund ist die Einführung des Mindestlohnes für Leiharbeiter im Mai 2011 (7,01 Euro in den fünf ostdeutschen Bundesländern und Berlin, 7,89 Euro in den übrigen Bundesländern). Um ihn zu umgehen, geben immer mehr Unternehmen die Arbeit an „Dienstleistungs“-Firmen ab und beschäftigen auf diese Weise Arbeitskräfte, ohne auf Mindestlöhne und Tarifverträge Rücksicht nehmen zu müssen.
Während reguläre und Leiharbeiter nach den geleisteten Stunden bezahlt werden müssen, beziehen sich Werkverträge auf ein zu verrichtendes „Werk“ – auf eine Dienstleistung oder eine Ware. Ist dieses „Werk“ vollendet, gilt der Vertrag als erfüllt. Wie und mit welchem Zeitaufwand das „Werk“ erbracht wird, bleibt ebenso wie Krankheitsrisiko und soziale Absicherung dem Vertragnehmer überlassen.
Wer als Werkverträgler arbeitet, gehört nicht zur Belegschaft und genießt keinerlei Rechte. Sein vorgeschriebener „getrennter Arbeitsbereich“ wird mittels gestrichelter Linien in der Werkhalle markiert, die Maschinen, an denen er arbeitet, werden stundenweise an seinen Subunternehmer vermietet. Die Benutzung firmeneigener Einrichtungen wie Kantinen und Aufenthaltsräumen ist dem Werkverträgler nicht gestattet, Fahrtkostenzuschüsse oder andere Zusatzleistungen stehen ihm nicht zu.
Besonders lukrativ sind Werkverträge, wenn sie grenzüberschreitend abgeschlossen werden. Seit dem Beitritt zehn neuer EU-Mitglieder am 1. Mai 2004 gibt es mit Ausnahme der Bauindustrie eine „eingeschränkte Dienstleistungsfreiheit“. Ein Unternehmen in der EU kann einem Unternehmen in Deutschland anbieten, über einen Werkvertrag eine Dienstleistung zu erbringen. Es „entsendet“ seine Beschäftigten in den deutschen Betrieb und „nutzt“ dessen Anlagen. Für die Beschäftigten gelten bei Bezahlung, Steuern und Versicherung aber die Bedingungen des Herkunftslandes.
Statistiken über Werkverträge gibt es nicht, denn sie werden betriebsrechtlich über den Einkauf geordert und – man mag es kaum glauben – als Sachkosten verbucht.
Die auf Werkverträge spezialisierte Personalberatung Zimmermann schreibt auf ihrer Website: „Werkverträge ermöglichen Ihnen, … Kosten zu senken, indem durch die Ausgliederung von internen Leistungen fixe Kosten zu variablen Kosten transformiert werden. Weitere Vorteile sind z. B. Produktivitätssteigerung, bessere Risikoverteilung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit.“
Werkverträgler sind nichts anderes als moderne Parias und das bisherige Endprodukt einer Entwicklung, die vor etwa zwanzig Jahren mit der „Liberalisierung des Arbeitsrechtes“ eingesetzt hat. Durch die Agenda 2010 und die Einführung von Hartz IV von SPD und Grünen vorangetrieben, ist Deutschland inzwischen zum Spitzenreiter bei Niedriglöhnen in Europa geworden. Rund 23 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten derzeit zu einem Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle von 1.802 Euro.
Die Gewerkschaft ver.di schätzt, dass derzeit allein im Einzelhandel 120 Firmen etwa 350.000 Werkverträgler an Firmen vermittelt haben Während der Export boomt und die Konzerne ihre Führungskräfte fürstlich entlohnen, bleibt immer mehr Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft für einen Hungerlohn zu verkaufen.
Nachdem Wirtschaftsminister Peter Jacoby wegen seines öffentlichen Lobes für das neue Geschäftsmodell der Firma Höll in die Kritik geraten war, sah sich die saarländische Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer (CDU) genötigt, darauf hinzuweisen, dass „dies nur eine Maßnahme sein kann, um die aktuelle Insolvenzsituation zu beenden und keine Maßnahme, die auf Dauer die Stammbelegschaft ersetzt.“
Das ist eindeutig nicht der Fall. Das Bosch-Werk in Stuttgart zum Beispiel ist keinesfalls von einer Insolvenz bedroht. Trotzdem arbeiten dort 2.000 von 12.000 Arbeitern auf der Grundlage von Werkverträgen. Im BMW-Werk Leipzig besteht die Hälfte des 5.000 Köpfe zählenden Personals aus Werkverträglern. Laut einer Umfrage der IG Metall beschäftigt inzwischen ein Drittel aller Betriebe einen Teil ihres Personals auf diese Weise. Kai Bliesener, IG-Metall-Sprecher in Baden-Württemberg, spricht von einem seit Monaten andauernden „überdimensionalem Anstieg“.
Genaue Zahlen über die Bezahlung von Werkverträglern sind nur schwer zu finden, da die Betriebe keine Auskunft geben. Laut Zeitungsberichten liegen die Stundenlöhne in der Fleischindustrie unter fünf Euro. In der Automobilindustrie in Leipzig verdient ein Werkverträgler nach Aussage eines Betriebsrates rund tausend Euro im Monat weniger als ein regulär angestellter Arbeiter.
Wie der Spiegel schreibt, arbeiten in der Schlachtindustrie nach Schätzung der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) bis zu 90 Prozent der Beschäftigten über Werkverträge. Häufig kommen die Billigkräfte aus Rumänien. „Die Leute arbeiten teilweise 12 bis 16 Stunden am Stück. Das sind moderne Sklaven“, wird Mark Baumeister, Geschäftsführer der NGG im Saarland, vom Spiegel zitiert.
Die Zunahme der Werkverträge ist der extremste Ausdruck einer Veränderung des gesamten Arbeitsmarktes. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass immer mehr „klassische“ – das heißt unbefristete, tariflich geregelte und von Sozialleistungen begleitete – Arbeitsplätze durch ungeregelte Beschäftigungsverhältnisse ersetzt werden. Ein Meilenstein dieser Entrechtung war die Leiharbeit, ein weiterer ist jetzt die Arbeit auf der Grundlage von Werkverträgen.
Höll ist also kein Einzelfall. Trotzdem verdient er besondere Erwähnung wegen der Dreistigkeit, mit der hier vorgegangen wurde. Während in den meisten Betrieben ein schleichender Wechsel von Vollzeitsarbeitsplätzen zu Werkvertrags-Einstellungen vor sich geht oder Neueinstellungen auf dieser Grundlage vorgenommen werden, sind hier im Rahmen eines Insolvenzverfahrens 102 Arbeiterinnen und Arbeiter mit Vollzeitverträgen vor die Tür gesetzt und bereits eine Schicht später durch Niedriglohnarbeiter mit Werkverträgen ersetzt worden. Die Hemmungslosigkeit, mit der die Rechte von Arbeitern mit Füßen getreten werden, hat damit eine neue Dimension erreicht.