Die Veranstaltung fand nicht im Düsseldorfer Parkhotel statt, sondern im Berliner Adlon. Im Publikum saßen nicht Fritz Thyssen und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, sondern Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger und andere Schwergewichte der deutschen Wirtschaft und Banken. Und natürlich ist der sozialdemokratische Außenminister Frank-Walter Steinmeier nicht Adolf Hitler.
Trotzdem rief Steinmeiers Auftaktrede beim SZ-Wirtschaftsgipfel vor genau einer Woche Erinnerungen an die Rede Hitlers vor dem Industrie-Club Düsseldorf am 26. Januar 1932 wach. Wie damals der spätere Führer, richtete Steinmeier einen direkten Appell an die deutsche Wirtschaft, den Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht zu unterstützen. Explizit bat er die Wirtschaft darum, ihm und der Regierung zu helfen, die außenpolitische Wende der Bundesregierung gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen.
Das Steinmeiersche Programm erinnerte dabei stark an längst vergangen geglaubte deutsche Großmachtgelüste. „Deutschland solle ‚Europa anführen, um die Welt anzuführen’, ‚Russland europäisieren’ und ‚die USA multilateralisieren’“, forderte Steinmeier unter Berufung auf einen Aufsatz, der seit Monaten auf einer offiziellen Website des Außenministeriums prangt. Er fügte hinzu: „Keine ganz kleinen Aufgaben!“
Diese Worte kann man nicht missverstehen. Die Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Außenpolitik verläuft wieder entlang ähnlicher Linien wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die deutschen Eliten betrachten es erneut als ihre „Aufgabe“, Europa zu dominieren, um Weltmacht zu werden. Dieses Programm des deutschen Imperialismus bedeutet heute wie damals Konflikt mit Russland und mit den USA.
„Russland europäisieren“ heißt nichts anderes, als Russland einem von Deutschland kontrollierten Europa unterzuordnen. „Die USA multilateralisieren“ bedeutet, den USA ihre Rolle als Weltmacht streitig zu machen. Mit anderen Worten: Die deutsche Außenpolitik wird sich künftig in zunehmendem Maße in Konflikt mit den beiden Mächten entwickeln, denen es bereits in zwei Weltkriegen gegenüber stand.
Nach den Verbrechen des Nazi-Regimes sind die deutschen Eliten allerdings – zumindest momentan noch – bemüht, ihr Programm eines dritten „Griffs nach der Weltmacht“ so darzustellen, als würde es von außen an sie herangetragen. „Die Erwartung an deutsches Engagement“ begegne ihm täglich von seinen „Gesprächspartnern im Ausland“, beteuerte Steinmeier im Adlon. Er habe deshalb „eine große Gruppe von internationalen Experten gebeten, ihre Erwartungen an deutsche Außenpolitik zu formulieren“.
Aus den zahlreichen Auftragsarbeiten, die auf diese Weise zusammenkamen, wählte er ausgerechnet eine mit dem Titel „Deutschlands Bestimmung: Europa führen, um die Welt zu führen“ aus. Sie stammt aus der Feder des indisch-stämmigen Professors Kishore Mahbubani von der Nationaluniversität in Singapur, einem autoritär geführten Einparteienstaat.
Der Text ist zusammen mit anderen Aufrufen für eine aggressivere deutsche Außenpolitik auf der Website „Review 2014” des Außenministeriums veröffentlicht. Zu den Kernforderungen Mahbubanis erklärte Steinmeier lapidar: „Und wissen Sie, wer das gesagt hat? Kein Franzose, kein Amerikaner, sondern ein indischer Professor hat uns das geschrieben.“
Steinmeiers Rede war jedoch nicht nur wegen ihres Rufs nach deutscher Führung in der Welt beachtlich. Sie vertrat ein offen imperialistisches Programm. Im Kern stand die Feststellung, dass Deutschland seine globalen Interessen in einer Welt, die zunehmend von nationalen Konflikten geprägt ist, nicht mehr mit rein wirtschaftlichen Mitteln verfolgen kann, sondern auf Außenpolitik und militärische Gewalt angewiesen ist.
Gleich zu Beginn erklärte Steinmeier, es sei kein Zufall, dass er „am Ende dieses turbulenten Jahres 2014“ mit einer „dezidiert außenpolitischen Rede diesen Wirtschaftskongress“ eröffne. Er könne sich in seiner „gesamten politischen Biographie an keine Zeit erinnern, in der internationale Krisen in so großer Zahl, an so vielen Orten der Welt, von so unterschiedlicher Natur, und das alles gleichzeitig auf uns eingestürmt sind wie heute.“
Der deutsche Außenminister zeichnete das Bild einer Welt, die stark an die Welt vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Eine Welt, in der „das Ringen um Einfluss und Dominanz“ vorherrscht, „Krise der neue Normalfall“ wird, deutliche „Risse und Gräben“ hervortreten und „wir auf die Gegensätze zwischen Staaten, Völkern und Kulturen starren“. Selbst „im Umgang mit unseren engsten Partnern, insbesondere den USA“, sei „die öffentliche Debatte dominiert von Unterschieden, nicht Gemeinsamkeiten“.
Wirtschaftlich sei ein „Rückzug in stärkere nationale Grenzen“ bereits seit der Finanz- und Wirtschaftskrise zu beobachten gewesen. Und diese Entwicklung sei gerade für Deutschland ein Problem, für die Wirtschaft wie für die Außenpolitik. Die „Rezession der Globalisierung“ bedrohe die „exportstarke Volkswirtschaft“, während die „Hochkonjunktur der Gegensätze das Handwerkszeug des Diplomaten“ untergrabe.
Steinmeier zog daraus die Schlussfolgerung, dass es im Interesse der Wirtschaft sei, eine aggressivere Außenpolitik zu unterstützen, auch wenn diese kurzfristig wirtschaftliche Nachteile bringe.
Der „erste Schritt zur Besserung“ liege „schon im Bewusstsein dessen, dass uns Deutschen die Krise der globalen Ordnung nicht egal sein darf! Wo wir nur können, müssen wir, Politiker und Wirtschaftsvertreter, uns Deutsche aufrütteln aus jeglichem Inseldenken und jeglicher Bequemlichkeit!“ Wer das anerkenne, der müsse „auch den nächsten Schritt gehen: Wir als meistvernetztes Land sind abhängig von einer friedlichen und regelbasierten Ordnung in der Welt und für sie müssen wir uns einsetzen! Nicht nur in Europa, sondern weltweit...“.
Steinmeier schärfte den Wirtschaftsvertretern ein, dass dieser Aufstieg Deutschlands zur globalen Ordnungsmacht nicht allen mit den Mitteln des friedlichen Handels erfolgen könne: „Wirtschaftliche Globalisierung allein garantiert keine politische Konvergenz! ... Mehr BMWs auf Moskaus Straßen und mehr VW-Werke in Chinas Ballungszentren führen nicht zwangsläufig zu mehr politischer Gemeinsamkeit.“
Die Wirtschaft müsse deshalb auch die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland mittragen. Russland habe „durch die Annexion der Krim und sein Vorgehen in der Ostukraine“ das „Völkerrecht und regelbasierte Ordnungen“ in Frage gestellt und damit „die Grundlagen sowohl unserer Sicherheit als auch unseres Wohlstands verletzt“. Man habe darauf auch mit Sanktionen reagiert, „die uns selbst wirtschaftliche Kosten verursachen“. Die „Kosten einer dauerhaft gefährdeten Ordnung in Europa“ seien jedoch „sehr viel größer“ und die Sanktionen deshalb „auch im langfristigen Interessen der Wirtschaft“, argumentierte Steinmeier.
Gleichzeitig betonte er, es dürfe nicht das Ziel der Sanktionen sein, „Russland ökonomisch niederzuringen“. Das sei brandgefährlich. „Ein destabilisiertes, gar kollabierendes Russland ist am Ende für sich selbst und andere die viel größere Gefahr. Wer so redet, erweist europäischer Sicherheit einen Bärendienst.“
Das war ein unverhohlener Seitenhieb gegen diejenigen, die eine Entscheidung darüber fordern, „ob Russland Freund oder Feind, Partner oder Gegner ist“. Gemeint waren die USA. Um Washington aber nicht zu verärgern, nannte Steinmeier Kanada. Dort könne „man diese Frage vielleicht so stellen. In Europa wird Russland immer eines bleiben: ein sehr großer Nachbar, und er wird im Guten oder im Schlechten Einfluss auf unsere Entwicklung nehmen.“
Im Moment will Deutschland Russland in die Defensive drängen, aber keinen vollständigen Zusammenbruch der wirtschaftlichen Beziehungen. Gleichzeitig ist es (noch) nicht bereit, in eine offene Konfrontation mit den USA zu gehen. Es geht aber dazu über, seine imperialistischen Interessen unabhängiger und selbstbewusster gegen andere Mächte zu verfolgen. Steinmeier ließ dabei keinen Zweifel, dass dies wie in der Vergangenheit auch den Einsatz militärischer Gewalt und Krieg einschließt.
Zur Bekämpfung des Islamischen Staats in Syrien und Irak erklärte er: „Natürlich ist die militärische Lösung ein Teil und wir weichen dem nicht aus. Im Sommer haben wir entschieden, den Kampf durch Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga zu unterstützen.“ Es gelte zwar „der Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern“. Aber Außenpolitik bestehe „in Abwägung von lauter nicht-perfekten Optionen“, und „in solchen Fällen muss man aufpassen, ob man Grundsätze hochhält oder sich nicht hinter ihnen versteckt“.
Steinmeiers gesamte Rede verdeutlicht, dass die herrschenden Eliten Deutschlands nicht länger gewillt sind, sich hinter irgendwelchen „Grundsätzen“ oder Beschränkungen zu „verstecken“, die sie sich nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg auferlegen mussten. Dabei bereiten sie sich auch darauf vor, der eigenen Bevölkerung ihr außenpolitisches Programm aufzuzwingen.
Am Schluss seiner Ausführungen verwies Steinmeier auf eine Umfrage der Körber-Stiftung, die die Deutschen gefragt hatte, „ob sich Deutschland stärker als bisher international engagieren solle“. Nur 38 Prozent hätten mit „Ja“, 60 Prozent dagegen mit „Nein, bitte weiter zurückhalten“ geantwortet.
Der Außenminister kommentierte das folgendermaßen: „Das ist der Graben zwischen äußeren Erwartungen und innerer Bereitschaft, meine Damen und Herren, mit dem ich umzugehen habe. Um ehrlich zu sein: Wenn ich ein Ingenieur wäre, würde ich über einen solchen Graben guten Gewissens keine Brücke bauen. Als Politiker muss ich das! Und ich würde mich freuen – und wenn ich in meinem Vortrag nicht ganz falsch lag, dann liegt es sogar in Ihrem Interesse –, wenn die deutsche Wirtschaft ein bisschen dabei mithilft! Vielen Dank.“
Was Steinmeier hier vorschlägt, ist ein Bündnis von Politik und großem Geld gegen die Bevölkerung, die den neuen Kriegskurs mit großer Mehrheit ablehnt. Ein solches Bündnis, das die Reichen und die Mächtigen gegen die Mehrheit vereint, ist zutiefst undemokratisch. Nach den schrecklichen Erfahrungen von zwei Weltkriegen ist gerade in Deutschland die Opposition gegen Krieg tief verankert. Trotzdem haben die herrschenden Eliten entschieden, wieder auf Kriegskurs zu gehen und ihn der Bevölkerung aufzuzwingen.
Als Steinmeier geendet hatte, gab es im Ball-Saal des Adlon tosenden Applaus.