Es kommen immer mehr Fakten ans Tageslicht, die die enge Verquickung der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) mit den Geheimdienst- und Polizeibehörden belegen. Dem NSU wird zur Last gelegt, von 2000 bis 2006 neun Migranten und 2007 eine Polizistin ermordet zu haben. Wo dabei die staatlichen Aktivitäten aufhören und die rechtsterroristischen beginnen, wird immer unklarer, weil offensichtlich eine solche Trennung nicht existiert.
Dies haben nun Meldungen aus dem NSU-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags erneut bestätigt. Dabei geht es um den Tod eines wichtigen Zeugen im Mord an der Polizistin Kiesewetter in Heilbronn. Der Zeuge Florian Heilig soll laut der Online-Ausgabe der Welt gewusst haben, „wer die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen hat“. Dies habe er schon Mitte 2011 ausgesagt, also vor dem Bekanntwerden des NSU im November desselben Jahres. Details zum Mord und zu den Verstrickungen der Polizei mit der neonazistischen Szene wollte er dem Landeskriminalamt Stuttgart (LKA) erneut am Tage seines Todes mitteilen. Acht Stunden vorher starb er.
Als der Betonbau-Lehrling Florian Heilig am Morgen des 16. September 2013 in Stuttgart in seinem Auto verbrannte, lautete die von den Ermittlern herausgegebene offizielle Version, er habe sich aus Liebeskummer umgebracht. Einen Abschiedsbrief gab es nicht. Die Ermittler behaupteten, dies „aus dem familiären Umfeld“ erfahren zu haben. Aber die Familie und alle, die Florian Heilig kannten, haben stets einen Selbstmord ausgeschlossen. Seine Freundin ist von den Ermittlern nicht einmal befragt worden.
Die Mär vom Selbstmord aus Liebeskummer war damals schon unglaubwürdig, nun kann sie als bewusste Falschmeldung gelten. Die jetzt durch den Untersuchungsausschuss gesichteten Akten zum Tod von Heilig zeigen, dass Ermittlungen bewusst nicht geführt wurden.
Ein Zeuge, der sich der bei Polizei gemeldet hatte und nun mit der Jungen Welt sprach, weil er einen Mann am Auto Heiligs sah, bevor es ausbrannte, wurde nicht befragt und noch nicht einmal in die Akten aufgenommen. Das Handy, der Laptop und eine Videokamera von Florian Heilig nahm man nicht als Beweismittel auf, sondern ließ sie offenbar einfach im ausgebrannten Auto liegen. Einen Autoschlüssel oder den Schlüsselbund von Heilig wurden dagegen nicht aufgefunden.
Der damals 21-jährige Heilig war erst zwei Jahre zuvor aus der Neonazi-Szene ausgestiegen. In seiner aktiven Zeit in der rechten Szene soll er u. a. auch die NSU-Terroristin Beate Zschäpe getroffen haben. Mitte 2011 kam er ins Aussteigerprogramm des LKA namens „BIG Rex“ und sagte auch zum Mord an Kiesewetter aus. Dabei nannte er Namen von Personen, gegen die bis heute nicht ermittelt wurde.
Sein Vater und seine Schwester haben jetzt vor dem Untersuchungsausschuss in Stuttgart ausgesagt. Die Schwester berichtete laut dem Südwest-Rundfunk (SWR), „dass ihr Bruder ihr auch von einer rechten Gruppierung bei der Heilbronner Polizei erzählt habe. Bei einer Attacke auf eine Dönerbude habe jemand dafür gesorgt, dass keine Polizei in der Nähe sei.“
Das fügt sich ins Bild dessen, was schon bekannt ist. So ist es erwiesen, dass mindestens zwei Mitglieder der zehnköpfigen Polizei-Einheit von Kiesewetter, darunter der Gruppenführer, dem deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) angehört hatten. Dieser war wiederum eine Gründung des baden-württembergischen Verfassungsschutzes, die Hälfte der Organisation bestand aus V-Leuten der Geheimdienste.
Angesichts dessen werfen weitere Aussagen der Schwester Heiligs Fragen auf. Heilig wurde von seinen ehemaligen Kameraden als „Verräter“ gejagt. Ende 2011 war er bereits von Neonazis in Heilbronn niedergestochen worden. Gegenüber den Eltern soll er gesagt haben: „Sie finden mich immer, wo immer ich bin.“
Die Schwester berichtete, wie sich ihr Bruder immer wieder neue Handynummern zugelegt habe, mindestens fünf in kurzer Zeit. Aber immer wieder sickerten diese an die Neonazis durch. Heilig selbst vermutete die Behörden hinter der undichten Stelle. Er soll gesagt haben: „Sobald meine neue Nummer bei BIG Rex bekannt ist, hängen die Rechten eine Woche später wieder drauf.“
Zum Mord an Kiesewetter soll er seiner Familie gesagt haben: „Das ist ein Riesending, da hängen hohe Tiere mit drin, das könnt ihr euch nicht vorstellen.“ Genauere Angaben wollte er nicht machen, um seine Familie nicht zu gefährden.
Schon vor drei Wochen hatte ein Autorenteam um Stefan Aust in der Welt am Sonntag eine tiefe Verstrickung des hessischen Verfassungsschutzes in den Mord an Halit Yozgat belegt. Aust und seine Mitautoren stützten sich dabei auf bisher nicht bekannte Tonbandmitschnitte der Polizei, die eine Zeit lang das Telefon des Verfassungsschützers Andreas Temme abgehört hatte. Temme saß zum Zeitpunkt des Mordes an dem 21-jährigen Halit Yozgat am 6. April 2006 in dessen Internet-Café. Schon im August letzten Jahres hatten Aussagen zweier Polizeibeamter nahegelegt, dass Temme „Tat- oder Täterwissen“ habe, er also in den Mord verwickelt sein müsse.
Die Protokolle der Abhörbänder, auf die sich die Welt stützt, und weitere, bislang unbekannte Details wurden in mehreren Beweisanträgen der Anwälte der Familie von Halit Yozgat im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München eingereicht.
Die Nebenkläger wollen beweisen, dass der Geheimdienstbeamte Temme nicht zufällig am Tatort war, sondern bereits vor dem Mord „konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Tatopfer und den Tätern hatte“. Nicht nur das: „Sie wollen anhand abgehörter Telefonate belegen, dass der Hessische Verfassungsschutz davon gewusst hat und alles tat, die Polizei bei ihren Ermittlungen zu behindern und abzulenken“, schreibt Die Welt.
Der wichtigste Beweis dafür sei ein Telefonat von Temme mit dem ihn betreuenden Geheimschutzbeauftragten des Verfassungsschutzes Hess. Dieser soll zu Temme wörtlich gesagt haben: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren.“
Im Beweisantrag der Anwälte heißt es dazu: „Es besteht also Konsens zwischen den Telefonierenden, dass Temme schon vor der Tat wusste, ‚dass ... so etwas passiert‘ und entgegen den Anweisungen trotzdem ‚vorbeigefahren‘ ist. Diese Äußerung des Zeugen Hess bleibt durch den Beschuldigten Temme unwidersprochen.“
Dann habe Hess dem Kollegen Temme einen guten Rat gegeben: „So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.“ Wohlgemerkt: Nicht die ganze Wahrheit sagen. Anschließend habe er ihn auch noch auf Fragen der Ermittler vorbereitet. Er solle „sich noch mal überlegen“, wann er von der NSU-Mordserie erfahren habe.
Einem anderen Kollegen aus dem Geheimdienst versicherte Temme: „Wenn der ganze Spaß rum ist, dann kann ich dir das mal erzählen, das ist am Telefon ein bisschen schlecht. Auch wegen dem ganzen anderen Drumrum, von wegen, dass ja auch niemand außerhalb auch nur irgendwas darüber erfahren darf.“
Was verheimlichen Temme und der Verfassungsschutz? Aus den Ermittlungsakten, die jetzt erst von den Nebenklägern ausgewertet werden konnten, ergibt sich eine außerordentlich große Nähe von Temmes V-Mann mit den NSU-Morden. Dieser Kontaktmann in der rechten Szene war ein Skinhead namens Benjamin Gärtner. Er hatte Kontakte zu Neonazis in Ostdeutschland, in Dortmund, Kassel und natürlich Heilbronn.
Am Tag des Mordes an Halil Yozgat telefonierte Temme mit Gärtner zweimal, das letzte Mal nur eine Stunde vor dem Mord, was Temme gegenüber der Polizei 2006 verschwieg. Ein Alibi hat Gärtner für die Tatzeit nicht. Die Ermittler fanden anhand von Temmes Kalender und Telefondaten auch heraus, dass er auch an zwei weiteren Mordtagen mit Gärtner telefoniert hatte: am 9. Juni 2005 in Nürnberg und sechs Tage später in München.
An diesen Tagen starben İsmail Yaşar und Theodoros Boulgarides. Gärtner war wie in Kassel bei beiden Morden zur Tatzeit in der Stadt. In Kassel war am Tag des Mordes an Halil Yozgat auch ein Kamerad Gärtners, Sven Wendl. Er parkte seinen Wagen nur fünf Minuten Fußweg vom Tatort entfernt. Dies ist aktenkundig, weil er falsch parkte.
Als der Generalbundesanwalt Ende 2011 eine Liste mit 38 Namen aus dem Umfeld des NSU an Behörden verschickte, standen darauf auch Gärtner und sein Kamerad Wendl. Ebenfalls aufgeführt waren die drei mutmaßlichen NSU-Mitglieder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, die Mitangeklagten im Münchener Prozess und V-Leute wie Tino Brandt, der den „Thüringer Heimatschutz“ aufbaute, aus dem dann der NSU hervorging,
Als das Bundeskriminalamt Gärtner 2012 endlich vernehmen durfte, begleitete ihn ein Anwalt des Verfassungsschutzes. Die meisten Fragen beantwortete er jedoch nicht, dafür habe er keine Aussagegenehmigung. Verantwortlich dafür war der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU). Heute ist er Hessens Ministerpräsident.
Die Anwälte des Ermordeten beantragten jetzt, Bouffier als Zeugen im NSU-Prozess zu laden. Er habe sich für Temme eingesetzt und polizeiliche Ermittlungen verhindert.
Der Anwalt der Familie Yozgat, Alexander Kienzle, wertete auch einen Stadtplan von Kassel aus, den man in der mutmaßlich von Zschäpe in Brand gesetzten Wohnung des NSU in Zwickau fand. Die darauf befindlichen handschriftlichen Markierungen seien bis auf eine auf den täglichen Fahrtrouten von Temme zu finden.
In der ausgebrannten Wohnung fand man auch einen Zettel mit einer Skizze des Internet-Cafés von Yozgat, auf der Rückseite standen Straße und Hausnummer des Cafés sowie sieben verschlüsselte Zahlenreihen. Dabei handelt es sich um die Funkkanäle des Polizeipräsidiums Nordhessen und der Leitstellen verschiedener Rettungsdienste in Kassel und Umgebung. Insbesondere eine Zahlenreihe wirft Fragen auf. Es ist der nicht öffentliche Kanal des hessischen Innenministeriums. Wer kundschaftete den Tatort aus, der gleichzeitig den Funkkanal des Innenministeriums kannte?
Die Fülle der Indizien im Kasseler Mordfall, die eine Verwicklung des Verfassungsschutzes nahelegen, spricht eine klare Sprache. Dies ist wohl der Grund, weshalb sich die Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess so ungewöhnlich vehement gegen die Beweisanträge der Nebenkläger-Anwälte ausgesprochen hat.
„Würden die Beweisanträge stimmen, wäre dies eine Staatsaffäre“, kommentiert die Süddeutsche Zeitung. Dabei deutet alles genau darauf hin. Es ist bekannt, dass mindestens 25 V-Leute im direkten Umfeld des NSU aktiv waren und dass der Thüringer Heimatschutz genauso wie der baden-württembergische Ku-Klux-Klan-Ableger vom Verfassungsschutz aufgebaut und finanziert wurden.
Der Bericht des Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag zur Mordserie des NSU stellt fest, dass das Verhalten der an der NSU-Fahndung beteiligten Behörden in Thüringen Anlass zum „Verdacht gezielter Sabotage“ gebe. Auch der Verdacht, dass Beate Zschäpe selbst Vertrauensperson des Verfassungsschutzes war, ist alles andere als abwegig.