Sozialismus und historische Wahrheit

Am 13. März stellte David North im Rahmen der Leipziger Buchmesse vor 450 Zuhörern sein neues Buch „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ vor. Wir dokumentieren hier seine Rede im Wortlaut.

Die Buchvorstellung in Leipzig

Es ist mir eine große Ehre, hier in Leipzig sprechen zu dürfen. Pünktlich zur Leipziger Buchmesse ist beim Mehring Verlag die deutsche Ausgabe von „Die russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ erschienen. Ich danke allen Genossen von der Partei für Soziale Gleichheit, die durch ihren selbstlosen Einsatz zu dieser großen Errungenschaft beigetragen haben. Insbesondere danke ich Peter Schwarz und Andrea Rietmann für die sorgfältige Übersetzung und Redigierung. Es ist kaum zu glauben, dass ein Buch von mehr als 450 Seiten innerhalb von knapp drei Monaten aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen wurde.

Zum Glück habe ich eine Übersetzerin, die nicht nur versteht, was ich sagen möchte, sondern auch fähig ist, es in Deutsch präzise und mit literarischen Gespür zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht hat ihr der Inhalt des Buches diese Arbeit auch erleichtert. So viele Ereignisse, die in meinem Buch behandelt werden, spielten sich in diesem Land ab, dass man fast sagen könnte: Andrea hat die amerikanische Ausgabe wieder in die Originalsprache rückübersetzt.

Das letzte Mal war ich im März 2011 hier auf der Buchmesse. Damals war gerade die deutsche Ausgabe von „Verteidigung Leo Trotzkis“ erschienen. Einige von euch werden sich erinnern: Dieses Buch besteht aus einer Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen zur Widerlegung der Verdrehungen, Halbwahrheiten und offenen Lügen in den Trotzki-Biografien von Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service.

Einige Monate vor dem Erscheinen von „Verteidigung Leo Trotzkis“, Anfang 2011, hätte nach den Plänen des Suhrkamp Verlags die Service-Biografie auf Deutsch herauskommen sollen. Doch das geplante Erscheinungsdatum war durchkreuzt worden durch einen Offenen Brief von 14 renommierten Historikern. Sie protestierten dagegen, dass sich das angesehene Verlagshaus für das Buch von Service hergab. Verstärkt wurde die Wirkung dieses Protests durch eine Besprechung in der maßgeblichen Historikerzeitschrift American Historical Review. Darin wurde meine Kritik an Service in eindeutigen Worten unterstützt und die Trotzki-Biografie von Service als „zusammengeschustertes Machwerk“ verurteilt.

Derart drastische Ausdrücke werden in einer wissenschaftlichen Zeitschrift nicht ohne guten Grund verwendet. Der akademische Ruf von Robert Service hatte einen vernichtenden und wohlverdienten Schlag erlitten – zumindest in den Augen aufrichtiger Historiker, die noch an Grundsätzen aus der Zeit vor der Postmoderne festhalten: dass Historiker die wissenschaftliche und moralische Pflicht haben, bei der Auswahl, Darstellung und Auslegung der Fakten seit Langem etablierte professionelle Standards zu beachten, gegen die leider immer häufiger verstoßen wird. Nach einer Verzögerung von nahezu einem Jahr brachte Suhrkamp die Trotzki-Biografie von Service schließlich heraus. Bei ihrer Auslieferung trug sie jedoch bereits das sprichwörtliche Kainsmal auf dem Titelblatt.

Die Aufsätze und Vorträge in der ersten Auflage von „Verteidigung Leo Trotzkis“ entstanden im Zeitraum 2009 bis 2011. Die zweite Auflage enthielt zusätzliche Texte, die im Zuge der Kontroverse um die erste Auflage entstanden waren. Dieses Buch enthielt nur einen Teil der schriftlichen Dokumente des Kampfs, den das Internationale Komitee der Vierten Internationale gegen Geschichtsfälschungen geführt hatte. Mit dem Erscheinen von „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ wird deutlich, wie eng der Kampf für den Sozialismus in unserer Zeit mit dem Kampf für die historische Wahrheit verknüpft ist.

„Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ besteht aus fünfzehn Vorträgen und Essays, die in den Jahren 1995 bis 2014 entstanden sind. Man kann das Buch allerdings nicht als Anthologie bezeichnen, und das sage nicht aus Autorenstolz. Unter einer Anthologie versteht man eine Sammlung von Texten, die zwar vom selben Autor stammen, aber kaum einen inhaltlichen Zusammenhang aufweisen. „Die Russische Revolution und das Unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ dagegen kann meiner Meinung nach als ein in sich geschlossenes Werk betrachtet werden. Seine fünfzehn Kapitel entstanden im Laufe von 20 Jahren jeweils als Reaktion auf die historischen, theoretischen und politischen Probleme, die sich stellten, nachdem in den Jahren 1989 bis 1991 die stalinistischen Regime in Osteuropa zusammengebrochen waren und die Sowjetunion aufgelöst worden war.

Das abrupte Verschwinden dieser Regime warf grundlegende Fragen auf, die den gesamten Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts betrafen. Praktisch jedes wichtige Ereignis dieses Jahrhunderts wurde zum Gegenstand intensiver Kontroversen, die nicht nur die Interpretation, sondern auch die faktische Darstellung betrafen. Insbesondere die russische Revolution von 1917 bot Anlass zu hitzigen Auseinandersetzungen. Der Grund lag in ihrem zentralen Stellenwert für das zwanzigste Jahrhundert. Ihr alle kennt das deutsche Sprichwort: „Sag mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer du bist.“ Mit gleicher Gewissheit kann man zu einem Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts sagen: „Zeigen Sie mir, was Sie über die russische Revolution schreiben, und ich sage Ihnen, ob Sie überhaupt Historiker sind.“

Vor 1989 bestand allgemeines Einvernehmen darüber, dass der von den Bolschewiki angeführte Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung im Oktober 1917 einen Meilenstein in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und auch der Weltgeschichte darstellte. Bestritten wurde dies höchstens von den schlimmsten faschistischen und neofaschistischen Feinden der Sowjetunion. John Reed veröffentlichte seinen Augenzeugenbericht über die Ereignisse in Petrograd im Oktober 1917 unter dem Titel „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Diese historische Würdigung der Revolution wurde von ihren Befürwortern und Gegnern geteilt. Nicht nur in der enormen wirtschaftlichen Verwandlung der Sowjetunion zeigte sich die ungeheure Wirkung der Oktoberrevolution. Von ihr ging auch ein starker Anstoß zur Herausbildung von revolutionärem gesellschaftlichem und politischem Bewusstsein aus, bei Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Das ganze gesellschaftliche, politische und ökonomische Umfeld des zwanzigsten Jahrhunderts wurde durch die Oktoberrevolution geprägt.

Die Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 führte bei der akademischen Bruderschaft innerhalb kürzester Zeit zu einer grundlegenden Umbewertung der Oktoberrevolution und der gesamten sowjetischen Geschichte. Vor 1991 fand man weit und breit keinen bekannten Historiker, der das Ende der Sowjetunion vorhergesehen hätte. Die trotzkistische Bewegung warnte davor, dass die stalinistischen Herrscher mit ihrer Politik die Zerstörung der Sowjetunion vorbereiteten. Doch diese Warnungen wurden als Wahnvorstellungen trotzkistischer Sektierer abgetan oder einfach ignoriert. Selbst nachdem Gorbatschow 1985 die Regierung übernommen und die Perestroika eingeleitet hatte, zweifelten die kapitalistischen Regierungen und ihre Geheimdienste nicht an der grundlegenden Stabilität der Sowjetunion – von den Berufshistorikern für Sowjetgeschichte ganz zu schweigen, egal, ob sie rechts oder links eingestellt waren. Einzig und allein das Internationale Komitee warnte bereits 1986, dass Gorbatschows Perestroika zur Restauration des Kapitalismus und zur Zerstörung der UdSSR führen werde, wenn die sowjetische Arbeiterklasse dem nicht entgegentrete.

Nur wenn man sich vor Augen führt, wie kurzsichtig die Historiker für Sowjetgeschichte vor 1991 waren, kann man ermessen, wie extrem die Wende war, die sie nach 1991 in ihrer Einschätzung vollzogen. Nahezu über Nacht verwandelte sich ihr langjähriger Glauben an den ewigen Fortbestand der UdSSR in die Überzeugung, dass ihre Auflösung das unvermeidbare Schicksal des Staates darstellte, der aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war. Nach diesem neuen Konsens war die sowjetische Revolution von Anfang an zum Untergang verurteilt. Der Zug der Geschichte, der Lenin im April 1917 zum Finnländischen Bahnhof gebracht hatte, fuhr auf demselben Geleise schnurstracks weiter zu seiner Endstation, einem Dorf in der Nähe von Minsk, in dem Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislav Schuschkewitsch im Dezember 1991 die Übereinkunft zur Auflösung der Sowjetunion unterzeichneten.

Die Neuinterpretation der sowjetischen Geschichte – und damit der gesamten modernen Geschichte – wurde stark durch das politische Umfeld geprägt, das nach 1991 entstanden war. Es bestand aus einer Mischung von bürgerlichem Siegestaumel, kleinbürgerlichem Pessimismus und offener Demoralisierung. Für einen großen Teil der Akademiker, die sich vor 1991 gezwungen gesehen hatten, ihre reaktionären Instinkte entweder zu zügeln oder für sich zu behalten, gab es nun kein Halten mehr. In einer Art Urschrei ließen sie antimarxistische und antikommunistische Tiraden los. Ein anderer, vermutlich größerer Teil der Akademiker bereute seine früheren Sympathien mit der Linken, die plötzlich aus der Mode gekommen waren. In diesem von geistiger Feigheit geprägten Milieu der kleinbürgerlichen Pseudolinken fand der verbitterte und äußerst subjektive Irrationalismus des postmodernen Antimarxismus ein besonders ergebenes Publikum.

Die Aufsätze und Vorträge in „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ sind die marxistische Antwort der Trotzkisten auf die wesentlichen historischen, politischen und philosophisch-theoretischen Fragen, die nach der Auflösung der UdSSR aufkamen. Das Internationale Komitee war gut gewappnet, sie zu beantworten. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Akademikern verstand das Internationale Komitee den Charakter des Staats, der aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war. Darin bestand sein Vorteil. Die trotzkistische Bewegung hatte mehr als 50 Jahre lang über die „russische Frage“ debattiert. Trotzkis „Verratene Revolution“ war zwar schon 1936 erschienen, hatte aber als maßgebliche Analyse der Sowjetunion Bestand. Trotzkis Analyse der Sowjetunion als degenerierter Arbeiterstaat hatte die Vierte Internationale in die Lage versetzt, die Entwicklung der UdSSR in ihren verschiedenen historischen Stadien zu verstehen. Sie hatte sowohl Theorien kritisiert, die die UdSSR als „staatskapitalistisch“ bezeichneten, als auch Theorien, die fälschlicherweise behaupteten, sie sei bereits sozialistisch oder stehe kurz davor.

Die Vierte Internationale lehnte die rechten Theorien ab, die die stalinistische Bürokratie als historischen Protagonisten einer neuen Ausbeutergesellschaft darstellten, wie dies Bruno Rizzi in „Die Bürokratisierung der Welt“ und James Burnham in „Das Regime der Manager“ taten, oder die sie zu einer neuen Klasse erklärten, wie zum Beispiel Milovan Djilas. Das Internationale Komitee entstand 1953 im Kampf gegen eine von Michel Pablo und Ernest Mandel geführte Tendenz, die Trotzkis Analyse der stalinistischen Bürokratie zurückwies. Trotzki hatte die Bürokratie als parasitäre, konterrevolutionäre Kraft in der sowjetischen Gesellschaft bezeichnet, während Pablo und Mandel das Kremlregime und die mit ihm verbündeten Parteien auf der ganzen Welt als wichtigste Kraft zur Erlangung des Sozialismus betrachteten.

Wesentliche Elemente von Trotzkis Analyse der Sowjetunion waren: 1) die Erklärung der sozio-ökonomischen und politischen Ursachen der stalinistischen Degeneration; 2) das theoretische Verständnis der gesellschaftlichen Funktion der Bürokratie und der inneren Widersprüche des sowjetischen Staats; 3) die Undurchführbarkeit des Programms der nationalen ökonomischen Autarkie, das Stalin 1924 unter dem Banner des „Sozialismus in einem Land“ vorgebracht hatte; und 4) die unausweichliche Abhängigkeit der Sowjetunion vom weltweiten Sturz des kapitalistischen Systems.

Weil es die Ursachen ihrer Auflösung auf historischer und internationaler Grundlage analysierte, verstand das Internationale Komitee, dass das Ende der Sowjetunion der extremste Ausdruck einer historischen Krise der internationalen Arbeiterbewegung war – einer Krise der politischen Führung und der historischen Perspektiven. Die Auflösung der Sowjetunion vollzog sich nicht losgelöst von den Weltereignissen. Die triumphierende Behauptung, das Ende der Sowjetunion beweise den Bankrott des Marxismus, hält in zweierlei Hinsicht einer kritischen Überprüfung nicht stand.

Erstens konnten die Anhänger der Theorie, der Marxismus sei gescheitert, niemals den Nachweis erbringen, dass die Politik des sowjetischen Regimes in dem halben Jahrhundert vor der Auflösung der Sowjetunion in irgendeiner Weise auf der marxistischen Theorie beruht hätte. Die „Der-Marxismus-ist-gescheitert“-Theoretiker ignorieren schlicht die umfangreiche marxistische Literatur, in der, angefangen mit den Werken Trotzkis, nachgewiesen wird, dass der Stalinismus in Theorie und Praxis die Negation des Marxismus war.

Zweitens: Einmal abgesehen davon, ob die Politik des Sowjetregimes marxistisch, nicht marxistisch oder anti-marxistisch war, vollzog sich die Auflösung der Sowjetunion vor dem Hintergrund des weltweiten Zusammenbruchs aller traditionellen Arbeiterorganisationen. Davon betroffen waren politische Parteien und Gewerkschaften, die Jahrzehnte lang, bis in die 1980er Jahre hinein, Millionen Mitglieder gehabt hatten. Wenn das Scheitern der Sowjetunion die Folge ihres angeblich marxistischen Programms war, wie kann man dann erklären, dass zur selben Zeit auf der ganzen Welt auch die völlig antimarxistischen und pro-kapitalistischen sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften zusammenbrachen?

Der wichtigste Gewerkschaftsverband in den Vereinigten Staaten, die AFL-CIO, wendete während des gesamten Kalten Kriegs enorme Mittel auf, um in enger Zusammenarbeit mit der Central Intelligence Agency die Sowjetunion zu bekämpfen und weltweit jeden linken Einfluss auf Arbeiterorganisationen zu unterbinden. Trotzdem verlief der Zusammenbruch der AFL-CIO im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung im Verlauf der 1990er Jahre genauso dramatisch, wie derjenige der Sowjetunion. Sie hat seither ihre politische Macht und ihren Einfluss nahezu vollständig eingebüßt. Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts, seit der Auflösung der Sowjetunion, hat sie einen großen Teil ihrer Mitglieder verloren. Ebenso erging es in der einen oder anderen Form allen alten Arbeiterorganisationen rund um die Welt.

Angesichts der weltweiten Krise, vor der die Arbeiterklasse stand, hielt das Internationale Komitee nach den Ereignissen von 1991 eine Überprüfung der gesamten Geschichte der Sowjetunion und der Ursachen ihrer Auflösung für unabdingbar. Aufgrund der gewaltigen historischen Bedeutung der Oktoberrevolution musste der endgültige Zusammenbruch der Sowjetunion in breiten Teilen der Arbeiterklasse zwangsläufig Verwirrung und Desorientierung hervorrufen. Es war zu erwarten, dass die herrschende Klasse alle Mittel, über die sie in den Medien und unter intellektuell korrumpierten Akademikern verfügte, einsetzen würde, um die Konfusion zu steigern; dass sie zu den Waffen der massenhaften Fälschung und Desinformation greifen würde, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse ihre eigene Geschichte versteht.

Die trotzkistische Bewegung verfügte bereits über große Erfahrung im Kampf gegen Geschichtsfälschungen. Man kann sagen, dass die Entlarvung und Widerlegung von Lügen die wichtigste Form war, in der die trotzkistische Bewegung jahrzehntelang gegen den stalinistischen Verrat an der Oktoberrevolution kämpfte. Lügen über die Geschichte spielten bei der Usurpation der politischen Macht durch die stalinistische Bürokratie eine zentrale Rolle. Um Trotzkis ungeheures Prestige als einer der Führer der russischen Revolution und als Gründer und Befehlshaber der roten Armee in der Sowjetunion und international zu untergraben, entfesselten Stalin und seine Handlanger eine Lügenkampagne. Sie fälschten die Geschichte der russischen sozialdemokratischen Bewegung vor 1917, um Trotzki als unversöhnlichen Gegner Lenins darzustellen. Sie stellten die Politik, für die Trotzki in der Führung der russischen kommunistischen Partei eingetreten war, falsch dar, um ihn als Feind der Bauernschaft zu denunzieren. 1930 hatten diese Lügen monströse Ausmaße angenommen. Trotzki und seine Anhänger wurden als anti-sowjetische Saboteure und Terroristen dargestellt, als Agenten des Imperialismus, die darauf versessen waren, den Kapitalismus in der Sowjetunion wiederherzustellen. Diese Lügen bildeten die Grundlage der Moskauer Prozesse und des Großen Terrors, den Stalin 1936 entfesselte und der in der physischen Auslöschung Hunderttausender revolutionärer Sozialisten in der Sowjetunion gipfelte – der politisch bewusstesten Elemente der sowjetischen Arbeiterklasse und der marxistischen Intelligenz. Die Massenmorde der Jahre 1936 bis 1939 waren das Endergebnis historischer Fälschungen, die mehr als ein Jahrzehnt vorher begonnen hatten. „Es bleibt eine unwiderlegbar historische Tatsache“, schrieb Trotzki 1937, „dass die Vorbereitung der blutigen Justizkomplotte mit den ‚geringfügigen‘ Entstellungen der Geschichte und der ‚harmlosen‘ Fälschung von Zitaten begann.“

Gestützt auf die Kenntnis dieser tragischen Vergangenheit trat das Internationale Komitee der postsowjetischen Welle politisch motivierter Geschichtslügen entgegen. Viele Essays und Vorträge, die in „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ Eingang fanden, entstanden als Antwort auf Essays oder Bücher bürgerlicher Akademiker, die bedeutende Aspekte der sowjetischen Geschichte und des zwanzigsten Jahrhunderts verfälschten oder verzerrten, oder die wichtige Elemente der marxistischen Theorie und Praxis falsch darstellten. Meiner Ansicht nach belegt mein Buch den erschreckenden Verlust an wissenschaftlichen Ansprüchen und intellektueller Integrität in breiten Teilen des bürgerlichen akademischen Lebens.

Geschichtsfälschungen müssen entlarvt werden. Ich habe mich aber bemüht, dieser Pflicht so nachzukommen, dass ich ihr zugleich einen positiven politischen Inhalt gebe. Es ging also darum, die Dinge zu klären und die Fragen zu beantworten, die durch die tragischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts zurecht aufgeworfen werden. Wenn bürgerliche Akademiker Antworten geben, die in die Irre führen und oft falsch sind, bedeutet das nicht, dass die Fragen an sich nicht gerechtfertigt wären.

Das erste Kapitel befasst sich mit einer Schlüsselfrage der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: War die Machteroberung der Bolschewiki im Oktober 1917 ein Staatsstreich, ein Putsch, durchgeführt von einer kleinen Verschwörergruppe ohne nennenswerte gesellschaftliche Basis und politische Unterstützung? Oder war sie das Ergebnis einer echten revolutionären Massenbewegung der Arbeiterklasse, der die bolschewistische Partei ein Programm und eine Orientierung gab? Das Material, das ich gestützt auf seriöse Forschungen gewissenhafter Wissenschaftler – die es zum Glück noch gibt – vorlege, spricht stark dafür, dass der Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung das Ergebnis eines revolutionären Massenaufstands war. Die bolschewistische Partei wuchs 1917 schnell an, weil ihre Analyse der politischen Lage durch die Ereignisse bestätigt wurde und weil ihr Programm die Bedürfnisse und Stimmungen breiter Teile der Arbeiterklasse zum Ausdruck brachte.

Doch selbst wenn man anerkennt, dass die Sowjetherrschaft des Ergebnis einer echten revolutionären Bewegung war, muss man die Frage stellen: War die stalinistische Degeneration der Sowjetunion unvermeidlich? Gab es eine Alternative zur bürokratischen Diktatur, die schließlich zur Auflösung der Sowjetunion führte? Oder muss nicht jeder Versuch scheitern, den Sozialismus zu verwirklichen, weil es außer dem Kapitalismus keine tragfähige ökonomische Grundlage für eine Gesellschaft gibt? Diese Fragen beantworte ich nicht mit irgendwelchen tröstlichen Verheißungen, dass die Revolutionen im 21. Jahrhundert schon besser ausgehen werden als diejenigen im 20. Jahrhundert. Stattdessen zitiere ich Dokumente über den intensiven Kampf, der in den 1920er Jahren innerhalb der russischen kommunistischen Partei über Grundfragen der nationalen und internationalen Politik ausgetragen wurde. Die Linke Opposition, die 1923 gegründet und von Trotzki geführt wurde, kämpfte für eine Politik, die eine völlig andere Entwicklung ermöglicht hätte, als sie unter Stalins Führung erfolgte.

Wenn es bei der Auseinandersetzung um die Oktoberrevolution und die darauf folgenden Jahre nur darum gehen würde, Lügen zu widerlegen und den tatsächlichen historischen Verlauf anhand verifizierbarer Tatsachen zu rekonstruieren, dann würden die Schriften Leo Trotzkis zur Pflichtlektüre jedes Studenten gehören, der sich mit der Geschichte der Sowjetunion und des zwanzigsten Jahrhunderts befasst. Aber bei großen politischen Differenzen geht es nicht nur um Tatsachen, sondern auch um materielle Interessen. Ein bekanntes Sprichwort besagt: „Wenn geometrische Lehrsätze materielle Interessen berührten, würde man versuchen, sie zu widerlegen.“ Wenn die Kräfte der politischen Reaktion merken, dass die Wahrheit ihre Interessen berührt, versuchen sie mit allen Mitteln, sie zu diskreditieren. Die Lüge, schrieb Trotzki einst, dient als ideologischer Kitt für das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft. Sie füllt die Lücken zwischen den öffentlich verkündeten Idealen von Freiheit und Gleichheit und der sozialen Wirklichkeit von Unterdrückung und Ungleichheit. Je tiefer die Widersprüche, desto größer die Lügen.

In unserer Zeit, die von enormen gesellschaftlichen Widersprüchen geprägt ist, wird die Suche nach der historischen Wahrheit durch rückschrittliche, äußerst gefährliche Strömungen des bürgerlichen Geisteslebens erschwert. Lügen über Geschichte und Politik gab es auch schon vor dem zwanzigsten Jahrhundert. Aber erst seit einigen Jahrzehnten, seit sich die Postmoderne an den Universitäten weltweit mehr und mehr durchsetzt, wird derart gezielt daran gearbeitet, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge aufzuheben und damit die Fälschung der Geschichte philosophisch zu legitimieren. Aus diesem Grund befasst sich „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ sehr ausführlich mit der Postmoderne. In theoretischer Hinsicht beruht sie auf einem subjektiven, idealistischen Irrationalismus. In politischer Hinsicht ist sie durch Feindschaft gegen den Sozialismus motiviert. In gesellschaftlicher Hinsicht wurzelt sie in den materiellen Interessen der herrschenden Klasse und wohlhabender Teile der Mittelschicht.

Die Kritik der Postmoderne in „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ bezieht sich auf die Schriften des französischen Philosophen François Lyotard und des amerikanischen Philosophen Richard Rorty. Da ich heute in Leipzig spreche, sollte ich wohl meine Vernachlässigung der deutschen Irrationalisten gutmachen, indem ich auf die Schriften von Professor Jörg Baberowski eingehe, der den Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt Universität in Berlin leitet. Sein Werk ist ansonsten nicht weiter von Bedeutung. Es ist einfach ein Lehrbeispiel für den Zusammenhang zwischen Postmoderne, politischer Reaktion und zynischer Verachtung für faktische Beweise und elementare Standards wissenschaftlicher Integrität. Im Vorwort zu „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ gehe ich kurz auf Baberowskis Werk ein, indem ich seine solipsistische Behauptung zitiere: „Es gibt keine Wirklichkeit ohne ihre Repräsentation.“ Es ist angebracht, Baberowskis Geschichtsauffassung hier etwas genauer zu behandeln.

2001 steuerte Baberowski einen Essay zu einem Buch mit dem paradoxen Titel „Geschichte ist immer Gegenwart“ bei. Träfe dies zu, gäbe es keinen Grund, die Geschichte überhaupt zu studieren, weil sie uns nichts über die Ursprünge der Gegenwart sagen könnte. Und tatsächlich spricht sich Baberowski energisch gegen die Auffassung aus, man könne aus dem Studium der Vergangenheit irgendetwas lernen. „Dass man aus der Geschichte lernen könne, ist eine Illusion vergangener Tage, deren Glanz nur noch matt scheint.“

Wer nicht mehr zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheidet, muss die Ereignisse zwangläufig aus ihrem Zusammenhang reißen und die Teilnehmer aus der realen Umgebung herauslösen, die ihre Persönlichkeit prägte und ihr Leben letztlich bestimmte.

Es ist unbestreitbar, dass ein ernsthafter Historiker beim Studium der Vergangenheit den politischen, ideologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen seiner Zeit unterliegt. Der Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart fließt in alle wichtigen historischen Werke mit ein. Doch wer die Geschichte erforscht, kann die Figuren seiner Forschung nicht so behandeln, als ob es seine Zeitgenossen wären. Julius Cäsar, Jeanne d’Arc und Martin Luther lebten in Zeiten, die sich in vieler Hinsicht grundlegend von unserer Zeit unterschieden. Der große französische Historiker der Feudalgesellschaft, Marc Bloch, schrieb in seinem Buch „Der Beruf des Historikers“:

Mit einem Wort, ein historisches Phänomen kann nie befriedigend erklärt werden, ohne dass auch die Zeit untersucht wird, in der es aufgetreten ist. Das gilt für alle Entwicklungsphasen. Für die, in der wir selbst leben, wie auch für alle anderen. Ein altes arabisches Sprichwort lautet: „Die Menschen sehen ihrer Zeit ähnlicher als ihren Vätern.“

Die Rekonstruktion der Vergangenheit erfordert nicht nur Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen, sondern auch methodische Stringenz und Geduld. Professionelle Historiker müssen in den Archiven mit derselben Gründlichkeit und Hingabe arbeiten wie Biologen und Chemiker in Laboren. Einer der besten amerikanischen Historiker der russischen Revolution, der mittlerweile verstorbene Leopold Haimson (1927-2010), schrieb in der Einleitung zu seinem letzten Buch, „Russia’s Revolutionary Experience, 1905-1917“:

„…jedes Geschichtswerk, das wirklich bahnbrechend und wichtig ist, zeichnet sich dadurch aus, wie der Autor die Primärquellen auswählt, auf die er seine Forschungsarbeit konzentriert. Sein Wert hängt letztlich von der Genauigkeit und dem Verständnis ab, mit dem diese Quellen durchdrungen und analysiert werden.“

Baberowski hingegen hat nur Verachtung übrig für Historiker, die sich bemühen, durch die sorgfältige Prüfung von Primärquellen und deren gewissenhafte Auslegung die Vergangenheit so genau wie möglich zu rekonstruieren. Er schreibt:

„Der Anspruch, zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei, erweist sich in Wahrheit als Illusion. Was dem Historiker in den Quellen gegenübertritt ist nicht die Vergangenheit, es ist jener Teil der Vergangenheit, der sich in der Gegenwart erhalten hat. Dokumente und Quellen, die Gegenstände des Historikers, müssen zum Sprechen gebracht werden, sie sprechen nicht für sich selbst. Vergangenheit ist Konstruktion. Ihre Realität bestimmt sich durch das Interesse und den Fragehorizont des Historikers.“

Natürlich müssen Dokumente aus den Archiven von heute lebenden Historikern studiert und interpretiert werden. Doch darf sich der Historiker dabei nicht von seiner ungezügelten Fantasie, und schon gar nicht von seinen persönlichen Vorlieben leiten lassen. Eine solche geistige Selbstdisziplin liegt Baberowski fern. Er lehnt eine systematische Vorgehensweise ab. Das von ihm konstruierte subjektive Narrativ der russischen Revolution ist nichts weiter als eine Fortschreibung seiner politischen Einstellungen, sprich seines Antikommunismus.

Und so finden wir in seinem Essay über die russische Revolution in „Geschichte ist immer Gegenwart“ folgende Aussage:

„Metamorphosen, die vom Aufstand zum Streik, die von der Negation der Ordnung in die Sozialdemokratisierung des Lebensstils führten, waren in Ruβland stets nur Randphänomene. Der Pogrom symbolisierte die Essenz des russischen Weges in die Revolution.“

Einen solchen Satz kann nur jemand schreiben, dem die geschichtlichen Dokumente vollkommen gleichgültig sind. Es gab im Jahr 1905 riesige Streiks. 1912 nahm die Streikaktivität nach dem Massaker an den Bergleuten der Goldminen an der Lena massiv zu und hielt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 an. Das Pogrom als „Essenz“ der russischen Revolution zu beschreiben, heißt außerdem die Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen. Es gibt zahlreiche detaillierte Studien über die antijüdischen Pogrome in Russland. Die schlimmsten fanden in den Jahren 1881-1884, 1903-1906 und 1917-1922 statt. Der Zusammenhang zwischen diesen grauenhaften Morden an Tausenden von Juden und den Versuchen des zaristischen Regimes, den Widerstand der Bevölkerung niederzuschlagen, wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen.

Im Oktober 1905 fand in Odessa ein Pogrom statt, das von Beamten der Regierung und der Polizei unterstützt wurde. Es ereignete sich nur wenige Tage, nachdem sich das Regime gezwungen gesehen hatte, unter dem Druck revolutionärer Streiks und der Entstehung des St. Petersburger Sowjets bedeutende politische Zugeständnisse zu machen. Es fehlt hier die Zeit, aus den zahlreichen wissenschaftlichen Studien zu zitieren, die gestützte auf zaristische Dokumente eindeutig den Zusammenhang zwischen Pogromen und der antisozialistischen Konterrevolution beweisen. Jedenfalls ist unmöglich, dass Baberowski diese Dokumente und die Studien, die sie analysieren, nicht kennt. Er hat entschieden, sie zu ignorieren, weil sie seinem subjektiv motivierten Narrativ widersprechen. In diesem Fall dient die postmoderne Ablehnung der Möglichkeit, die objektive Wahrheit zu verstehen, als ideologischer Deckmantel für bewusste Geschichtsfälschungen.

Baberowskis Dekonstruktion der objektiven Wirklichkeit wird besonders augenfällig, wenn er Historiker denunziert, die festgestellt haben, dass die russische Revolution ein Aufstand der Arbeiterklasse war. Er schreibt:

„Nieder mit der Arbeiterklasse, so möchte man jenen Historikern zurufen, die aus Addition von Lohnabhängigen Arbeiterklassen konstruieren, von den Erfahrungen und Deutungen jener, die sie in solche Klassen einfügen, aber absehen. In den Protesten der Revolution ereignete sich nicht die Arbeiterklasse. Und es gab auch keine Verschmelzung von Arbeiterbewegung und linker Intelligencija, wie Bernd Bonwetsch den ahnungslosen Lesern seiner Revolutionsgeschichte noch 1991 einreden wollte.“

Diese ignorante und absurde Tirade entlarvt die reaktionären politischen Ziele, die Baberowski verfolgt Er ist kein Historiker im legitimen Sinne des Wortes. Er verwischt den Unterschied zwischen Geschichte und Propaganda. Er ignoriert und fälscht die geschichtlichen Tatsachen im Interesse einer rechten politischen Agenda. Und Baberowskis Wortwahl macht sehr deutlich, wes Geistes Kind er ist:

„Die bolschewistische Partei hatte keinen Massenanhang, sie vertrat weder die Interessen der Arbeiter noch der Bauern, noch hatte sie Rückhalt an der Peripherie des Imperiums. Sie war eine Partei von russischen und jüdischen Berufsrevolutionären, die mit dem Volk, das sie befreien wollten, nichtverbunden und an der Peripherie des Imperiums nicht verwurzelt waren.“

Ich muss hier in Deutschland nicht erklären, worin die politische Bedeutung einer solchen Definition des Bolschewismus besteht. Ich möchte aber feststellen, dass es Ausdruck einer tiefen intellektuellen Krise ist, wenn ein Mann, der so etwas schreibt und in seinen Werken eine derartige Verachtung für die historische Wahrheit an den Tag legt, eine führende akademische Position an der Humboldt-Universität in Berlin einnehmen kann.

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich die „Große Lüge“ zu einem verbreiteten Instrument der Massenpolitik. Sie wurde von der politischen Reaktion eingesetzt, um die Menschen zu desorientieren, ihre Kritikfähigkeit zu untergraben und ihre Widerstandskraft zu schwächen. Der Kampf gegen die „Große Lüge“, die heute die Form einer systematischen Fälschung der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts annimmt, ist ein wichtiger Bestandteil des fortschrittlichen Kampfs, mit dem die Menschheit zunehmend gegen den von Krisen gebeutelten Kapitalismus angeht. Dieses System ist auf der Ebene der Philosophie ebenso bankrott wie auf der Ebene von Wirtschaft und Politik. Ein System, dessen Fortbestand von Lügen abhängt, ist zum Untergang verurteilt. Im Kampf für die historische Wahrheit sollten wir uns von Trotzkis Worten inspirieren lassen: „Die Wahrheit wird triumphieren! Wir werden ihr den Weg bahnen. Sie wird siegen!“

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