Dieser Text ist ein Ausschnitt aus einem Vortrag, der 2001 in Sydney, Australien gehalten wurde. Der ganze Vortrag unter dem Titel „Zum Stellenwert Leo Trotzkisin der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ findet sich in „Verteidigung Leo Trotzkis“. Das Buch kann beim Mehring Verlag (auch als E-Book)bestelltoder im Buchhandel bezogen werden.
David North ist Vorsitzender der internationalen Redaktion der WSWS und nationaler Vorsitzender der Socialist Equality Party der USA.
Vor sechzig Jahren, am 21. August 1940, erlag Leo Trotzki den Verletzungen, die ihm ein Agent des sowjetischen Geheimdiensts am Tag zuvor zugefügt hatte. Das stalinistische Regime hoffte, dass dieser Mord nicht nur der politischen Tätigkeit ihres größten Gegners ein Ende setzen, sondern ihn auch gänzlich aus der Geschichte tilgen würde. Der totalitäre Pragmatismus erwies sich als kurzsichtig. Der Mörder beendete das Leben des großen Revolutionärs, aber seine Ideen und Schriften lebten fort. Die politische Arbeit der Weltbewegung, die Trotzki gegründet hatte, endete nicht durch den Mord an seiner Person. Die Vierte Internationale sollte schließlich den Zusammenbruch des stalinistischen Regimes erleben. Somit ist es auch seinen Mördern nicht gelungen, Trotzki aus der Geschichte zu streichen. Für Historiker, die das zwanzigste Jahrhundert studieren und interpretieren, gewinnt die Person Leo Trotzkis immer mehr an Bedeutung. In nur wenigen Biografien spiegeln sich die Kämpfe, Hoffnungen und Tragödien des letzten Jahrhunderts so grundlegend und edel wie in Trotzkis Leben. Von Thomas Mann stammt die Einsicht, dass sich das Schicksal der Menschheit heute politisch ausdrückt. In diesem Sinne kann man durchaus sagen, dass dieses Schicksal in Trotzkis sechzig Lebensjahren seinen bewusstesten Ausdruck fand. In der Biografie Leo Trotzkis konzentrieren sich die Wechselfälle der sozialistischen Weltrevolution während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Drei Jahre vor seinem Tod erklärte Trotzki im Gespräch mit einem skeptischen amerikanischen Journalisten, er fasse sein Leben nicht als Kette verwirrender und letztlich tragischer Episoden auf, sondern als verschiedene historische Entwicklungsstadien der revolutionären Bewegung. Sein Aufstieg zur Macht im Jahr 1917 war das Ergebnis eines Aufschwungs der Arbeiterklasse. Sechs Jahre bildeten die sozialen und politischen Beziehungen, die aus dieser Offensive entstanden waren, die Grundlage seiner Machtstellung. Ebenso ergab sich Trotzkis Verlust an Macht und Einfluss aus dem Abebben der revolutionären Welle. Trotzki verlor die Macht nicht deshalb, weil er als Politiker weniger fähig gewesen wäre als Stalin, sondern weil die soziale Kraft, auf der seine Macht beruhte – die russische und internationale Arbeiterklasse – den politischen Rückzug antrat. Gerade Trotzkis historisch bewusstes Herangehen an Politik, das in den revolutionären Jahren so wirksam war, erwies sich in Zeiten des wachsenden politischen Konservativismus im Vergleich mit seinen skrupellosen Gegnern als nachteilig. Die Erschöpfung der russischen Arbeiterklasse nach dem Bürgerkrieg, die zunehmende politische Macht der sowjetischen Bürokratie und die Niederlagen der europäischen – insbesondere der deutschen – Arbeiterklasse waren letzten Endes die Faktoren, die den Ausschlag gaben und Trotzki die Macht nahmen.
Die Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse hinterließen Spuren in Trotzkis persönlichem Leben: die politische Demoralisierung, die durch die Niederlage der chinesischen Revolution 1927 ausgelöst wurde, bot Stalin die Möglichkeit, die Linke Opposition aus der Kommunistischen Internationale auszuschließen und Trotzki zunächst nach Alma-Ata und kurz darauf aus der UdSSR insgesamt zu verbannen. Der Sieg Hitlers 1933 – ermöglicht durch die Politik der stalinistisch geführten Kommunistischen Partei Deutschlands – löste eine Ereigniskette aus, die schließlich zu den Moskauer Prozessen, den politischen Katastrophen der stalinistischen Volksfrontpolitik und zu Trotzkis endgültiger Vertreibung aus Europa führte. So verschlug es ihn ins weit entfernte Mexiko.
In Coyoacán, einem Vorort von Mexico City, wurde Trotzki von einem stalinistischen Agenten, Ramon Mercader, ermordet. Sein Tod erfolgte auf dem Höhepunkt der faschistischen und stalinistischen Konterrevolution. 1940 waren die alten Genossen Trotzkis in der Sowjetunion nahezu ausnahmslos liquidiert. Seine vier Kinder waren alle tot. Die älteren Töchter waren infolge der Notlagen, in die sie die Verfolgung ihres Vaters gebracht hatte, beide früh gestorben. Die beiden Söhne, Sergej und Leon, wurden vom stalinistischen Regime ermordet. Leon Sedow war zum Zeitpunkt seines Tods – er starb im Februar 1938 in Paris – neben seinem Vater die wichtigste Person in der Vierten Internationale. Weitere herausragende Mitglieder des Sekretariats der Vierten Internationale – Erwin Wolf und Rudolf Klement – wurden 1937 und 1938 ermordet.
Im Jahr 1940 hielt Trotzki seine eigene Ermordung für praktisch unvermeidbar. Dies heißt nicht, dass er sich in sein Schicksal ergeben hätte. Er tat alles, was ihm möglich war, um den Schlag zu verzögern, den Stalin und seine Agenten im Apparat der GPU und des NKWD vorbereiteten. Er war sich jedoch darüber im Klaren, dass Stalins Schritte von den Bedürfnissen der Sowjetbürokratie bestimmt waren. „Ich lebe auf dieser Erde“, schrieb er, „nicht im Einklang mit der Regel, sondern als ihre Ausnahme.“ (1)Er sagte voraus, dass Stalin den offenen Kriegsausbruch in Westeuropa im Frühjahr und Sommer 1940 für einen Anschlag ausnutzen werde. Trotzki sollte Recht behalten.
Der erste groß angelegte Mordanschlag fand am Abend des 24. Mai 1940 statt, als die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Hitlers Vormarsch gegen die französische Armee gerichtet war. Der zweite, erfolgreiche Anschlag erfolgte während der Schlacht um England im Spätsommer desselben Jahres.
Weshalb war Trotzki so gefürchtet, obwohl er sich im Exil befand und augenscheinlich isoliert war? Weshalb hielt Stalin seinen Tod für notwendig? Trotzki selbst hatte dafür eine politische Erklärung. Im Herbst 1939, mehrere Wochen nach der Unterzeichnung des Stalin-Hitler-Pakts (den er vorhergesagt hatte) und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, verwies Trotzki auf ein Gespräch zwischen Hitler und dem französischen Botschafter Robert Coulondre, über das eine Pariser Zeitung berichtete. Hitler brüstete sich, dass sein Abkommen mit Stalin ihm freie Hand verschaffen werde, Deutschlands Feinde im Westen zu besiegen. Coulondre unterbrach ihn mit der Warnung: „Der wirkliche Sieger (im Kriegsfall) wird Trotzki sein. Haben Sie darüber nachgedacht?“ Hitler erklärte sich mit der Einschätzung des französischen Botschafters einverstanden, warf aber seinen Gegnern vor, ihm keine andere Wahl zu lassen. Trotzki kommentierte diesen erstaunlichen Bericht mit den Worten: „Diese Herren ziehen es vor, dem Gespenst der Revolution einen Namen zu geben … Beide, Coulondre und Hitler, vertreten die Barbarei, die sich über Europa ausbreitet. Gleichzeitig zweifelt keiner von ihnen daran, dass ihre Barbarei von der sozialistischen Revolution besiegt werden wird.“ (2)
Auch Stalin hatte nicht vergessen, dass die Niederlagen der russischen Armee während des Ersten Weltkriegs die zaristische Regierung diskreditiert und die Massen in Bewegung gebracht hatten. Würde diese Gefahr nicht wiederkehren, wenn trotz des Abkommens mit Hitler ein Krieg ausbräche? Solange Trotzki am Leben blieb, blieb er die große revolutionäre Alternative zur bürokratischen Diktatur, die Verkörperung von Programm, Idealen und Geist des Oktober 1917. Deshalb musste Trotzki sterben.
Doch selbst im Tod ließ die Furcht vor Trotzki nicht nach. Welche andere Persönlichkeit verfügt nicht nur zu Lebzeiten, sondern noch Jahrzehnte nach seinem Tod über die Macht, die Herrschenden in Angst und Schrecken zu versetzen? Das historische Vermächtnis Trotzkis widersteht jedem Vereinnahmungsversuch. Zehn Jahre nach Marx’ Tod war es den Theoretikern der Sozialdemokratie gelungen, seine Schriften der Perspektive der Sozialreform anzupassen. Lenin ereilte ein noch schlimmeres Schicksal: Seine sterblichen Überreste wurden einbalsamiert; sein theoretisches Vermächtnis wurde gefälscht und in eine bürokratisch sanktionierte Staatsreligion umgemodelt. Bei Trotzki war so etwas nicht möglich. Seine Schriften und sein Handeln waren zu präzise in ihren revolutionären Implikationen. Außerdem blieben die von Trotzki analysierten politischen Probleme, die von ihm definierten sozio-politischen Beziehungen und selbst die Parteien, die er so treffend und erbarmungslos charakterisiert hatte, noch fast das gesamte Jahrhundert hindurch bestehen.
Im Jahr 1991 veröffentlichte die Duke University eine tausend Seiten umfassende Arbeit von Robert J. Alexander zur internationalen trotzkistischen Bewegung. In seiner Einführung trifft Alexander folgende Einschätzung: „Bis Ende der 1980er-Jahre sind die Trotzkisten in keinem Land jemals an die Macht gelangt. Obwohl der internationale Trotzkismus im Unterschied zu den Erben des Stalinismus nicht von einem fest etablierten Regime unterstützt wird, muss doch aus der Dauerhaftigkeit der Bewegung in einer Vielzahl unterschiedlicher Länder in Verbindung mit der Instabilität des politischen Lebens in den meisten Nationen der Welt geschlossen werden, dass der Machtantritt einer trotzkistischen Partei für die absehbare Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.“ (3)
Das „fest etablierte Regime“ hat sich kurz nach dem Erscheinen von Alexanders Buch verflüchtigt. Die Sowjetbürokratie hatte Leo Trotzki niemals rehabilitiert. Die Geschichte steckt bekanntlich voller Ironien. Jahrzehntelang hatten die Stalinisten Trotzki unterstellt, er wolle die Sowjetunion vernichten und habe sich zu diesem Zweck mit den Imperialisten verschworen. Für diese vorgeblichen Verbrechen war Trotzki in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Doch am Ende war es die Sowjetbürokratie selbst, die, wie Trotzki warnend vorausgesehen hatte, die UdSSR liquidierte. Und dies geschah, ohne dass sie jemals offen und geradeheraus die Vorwürfe gegen Trotzki und seinen Sohn Leon Sedow widerrufen hätte. Es fiel Gorbatschow und Jelzin leichter, das Todesurteil gegen die UdSSR zu unterschreiben als die vollkommene Verlogenheit sämtlicher Anklagen gegen Trotzki einzugestehen.
Trotz der ökonomischen und sozialen Veränderungen der vergangenen sechzig Jahre sind wir heute nicht allzu weit entfernt von den Problemen, Fragen und Themen, mit denen sich Trotzki auseinandersetzte. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeichnen sich Trotzkis Schriften durch ein erstaunliches Maß an Aktualität aus. Das Studium seiner Schriften ist eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für ein Verständnis der Politik des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch für die politische Orientierung in der äußerst komplexen Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Will man die Größe einer politischen Figur an Umfang und bleibender Bedeutung ihres Vermächtnisses messen, dann nimmt Trotzki unter den Führern des zwanzigsten Jahrhunderts den ersten Rang ein. Werfen wir einen kurzen Blick auf die politischen Persönlichkeiten, die in den 1940er-Jahren die Weltbühne beherrschten. Die totalitären Führer jener Ära – Hitler, Mussolini, Stalin, Franco – kann man kaum erwähnen, ohne ihre Namen zu verfluchen. Außer der Erinnerung an ihre unsäglichen Verbrechen haben sie nichts hinterlassen. Was die „großen“ Führer der imperialistischen Demokratien angeht, Roosevelt und Churchill, so lässt sich nicht bestreiten, dass sie interessante Persönlichkeiten waren und im Rahmen des klassischen Parlamentarismus gewandt agierten. Churchill, der den amerikanischen Präsidenten überragte, war ein talentierter Redner und verfügte auch über gewisse schriftstellerische Fähigkeiten. Doch kann man wirklich von einem Vermächtnis dieser beiden Männer sprechen? Churchills Lobreden über das altersschwache britische Empire wurden selbst von vielen, die ihn bewunderten, als anachronistisch angesehen. Seine Schriften sind als historische Dokumente von Interesse, aber heute kaum noch aktuell. Roosevelt seinerseits war der vollendete Pragmatiker, der mit einer Mischung aus List und Intuition auf aktuelle Probleme reagierte. Kann man ernstlich behaupten, dass die Reden oder Schriften Churchills und Roosevelts (wobei Letzterer kein Buch verfasste) Analysen und Einsichten enthielten, die zu einem Verständnis der politischen Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts beitrügen?
Schon zu Lebzeiten überragte Trotzki seine politischen Zeitgenossen. Der Einfluss all seiner Gegner war direkt bedingt und abhängig von ihrer Kontrolle über die Instrumente der Staatsmacht. Losgelöst von dieser Macht hätten sie schwerlich die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen. Getrennt vom Kreml und seinem Terrorapparat wäre Stalin nur das gewesen, was er vor dem Oktober 1917 war: „ein grauer Fleck“.
Im Jahr 1927 hatte man Trotzki formal jede Macht genommen. Dennoch war er niemals machtlos. Trotzki zitierte gern den berühmten Satz, mit dem Ibsen seinen Doktor Stockmann den „Volksfeind“ abschließen lässt: „Der ist der stärkste Mann auf dieser Welt, der allein steht.“ Diese Einsicht des großen norwegischen Stückeschreibers verwirklichte sich im Leben des größten aller russischen Revolutionäre. Die Stärke von Ideen und Idealen, die dem menschlichen Fortschrittsstreben entsprechen und es zum Ausdruck bringen, zeigte sich nirgends zeitloser als im Leben Leo Trotzkis.
Anmerkungen
1) Leo Trotzki, „Stalin Seeks my Death“, 8. Juni 1940, in: Writings of LeonTrotsky (1939–40). New York 2001; S. 298 f., aus dem Englischen.
2) Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus. Essen 2006; S. 36.
3) Robert J. Alexander, International Trotskyism 1929–1985. A documented Analysisof the Movement. Durham 1991; S. 32, aus dem Englischen.