Das politische Establishment und die Mainstreammedien in Kanada und der ganzen Welt sind überrascht darüber, wie deutlich die rechte Regierung von Stephen Harpers Konservativer Partei bei der Wahl am Montag von der Bevölkerung abgestraft wurde.
Die Konservativen waren in ihrer zehnjährigen Amtszeit für Sozialkürzungen in zweistelliger Milliardenhöhe und umfassende Angriffe auf demokratische Rechte verantwortlich. Sie haben Kanada noch fester in die militärischen und strategischen Offensiven des US-Imperialismus im Nahen Osten sowie gegen Russland und China eingebunden.
Die völlig ungerechtfertigten Nutznießer dieses Widerstandes der Bevölkerung gegen Harper waren Justin Trudeau und die Liberale Partei, die für einen Großteil des letzten Jahrhunderts die bevorzugte Regierungspartei der kanadischen Bourgeoisie war. In ihrer letzten Amtszeit hatten die Liberalen Harper den Weg geebnet: unter der Chretien-Martin-Regierung hatten sie die größten Sozialkürzungen in der Geschichte Kanadas durchgeführt, dem Großkapital durch Steuerersenkungen zweistellige Milliardenbeträge zukommen lassen und durch eine führende Rolle der kanadischen Streitkräfte in Washingtons Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan die Rückkehr des kanadischen Militarismus eingeleitet.
Vor knapp über vier Jahren erlitt die Liberale Partei ihre bisher größte Wahlniederlage. Damals wurden die Liberalen unter Führung von Michael Ignatieff, einem der führenden Verteidiger von George W. Bushs „Krieg gegen den Terror“ mit weniger als zwanzig Prozent der Stimmen nur drittstärkste Kraft.
Für die Rückkehr der Liberalen sind zwei miteinander verbundene Faktoren verantwortlich. Zum einen haben wichtige Teile der Bourgeoisie das Vertrauen in Harper verloren. Das zeigte die Unterstützung von Conrad Black, eines Förderers der Neokonservativen, für eine liberale Regierung.
Es gab Bedenken, dass Harper zum Blitzableiter für den sozialen Widerstand geworden sei, dessen Zunahme mit dem Zusammenbruch des Schieferölbooms und dem Abgleiten Kanadas in die Rezession einherging. Auch dass Harper nicht in der Lage war, wichtige Elemente der Pläne der herrschenden Klasse umzusetzen, sorgte für Frustration. Unter anderem konnte er die USA nicht dafür gewinnen die Keystone XL-Pipeline zu unterstützen und war nicht in der Lage, eine deutliche Erhöhung der Militärausgaben gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen.
Kanadas herrschende Klasse spekuliert darauf, dass eine liberale Regierung mit dem Versprechen von „Veränderungen“ und beschränkten Appellen an die Wut der Bevölkerung über soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Unsicherheit wirkungsvoller öffentliche Leistungen abbauen, soziale Rechte aushöhlen und ihre Interessen auf der Weltbühne durchsetzen kann.
Vor Trudeaus Wahl zum Parteichef der Liberalen bestand seine einzige Leistung darin, der erstgeborene Sohn des ehemaligen liberalen Premierministers Pierre Trudeau zu sein. Jetzt soll er das Aushängeschild einer rechten Regierung des Großkapitals werden. Seine Aufgabe ist es, die Agenda der herrschenden Klasse in „progressive“ Schlagworte zu verpacken, mit denen Obama die amerikanische Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. Einige medienwirksam ausgeschlachtete, aber größtenteils kosmetische Kurskorrekturen sollen dabei helfen.
Die Liberalen haben schon oft in Wahlkämpfen „progressive“ Appelle verbreitet, nur um danach die politischen Vorgaben ihrer rechten angeblichen Gegner umzusetzen. Trudeaus Vater gewann 1974 inmitten einer Lohnoffensive der Arbeiterklasse die Mehrheit, indem er sich über die Forderung der Progressive Conservatives nach einer 90-tägigen Nullrunde bei Löhnen lustig machte. Ein Jahr später kündigte Trudeau eine dreijährige Nullrunde an.
Der zweite und grundlegendere Faktor bei der Wiederauferstehung der Liberalen ist die Unterdrückung des Klassenkampfes durch die Gewerkschaften und die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP). Genau wie im Rest der Welt setzen die vorgeblichen Organisationen der Arbeiterklasse und die „Linken“ seit Jahrzehnten auch in Kanada den Abbau von Arbeitsplätzen durch, zwingen die Arbeiter zu Zugeständnissen und zerstören den Sozialstaat. Als Reaktion auf die größte Krise des Weltkapitalismus seit der Großen Depression der 1930er Jahre sind diese Organisationen noch weiter nach rechts gerückt.
Die Gewerkschaften haben die gesetzlichen Streikverbote der Harper-Regierung und der Provinzregierungen unter den Liberalen, Konservativen, der Parti Quebecois und der NDP durchgesetzt.
Als sich der Bildungsstreik in Quebec 2012 zum Ausgangspunkt einer größeren Bewegung der Arbeiterklasse gegen den Sparkurs zu entwickeln drohte, schritten die Gewerkschaften ein, um ihn abzuwickeln. Sie erklärten, sie würden die Gesetze der liberalen Provinzregierung von Quebec befolgen, die ihnen befahlen, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Hochschullehrer und andere Gewerkschaftsmitglieder zum Streikbruch zu animieren. Gleichzeitig nutzten sie den Widerstand gegen die Sparmaßnahmen der Liberalen für die Wahl einer Regierung des Großkapitals unter der Parti Quebecois. Die NDP weigerte sich, die Studenten auch nur mit Worten zu unterstützen oder den Gesetzentwurf 78 der Liberalen zu kritisieren.
Das wichtigste politische Projekt der Gewerkschaften und der NDP, den Klassenkampf zu unterdrücken, war ihre jahrelange Kampagne für eine „progressive Regierung“, d.h. eine andere von Austerität und Krieg geprägte Regierung, in der die Liberalen eine zentrale Rolle spielen sollten.
Die Gewerkschaften und die NDP haben die Lüge verbreitet, die Liberalen seien ein Verbündeter der arbeitenden Bevölkerung im Kampf gegen die Harper-Regierung. Dabei hat Harper nur die wichtigsten rechten Initiativen der liberalen Chretien-Martin-Regierung ausgeweitet.
Im Dezember 2008 überredete die NDP die Liberalen zu dem dann gescheiterten Versuch, gemeinsam mit ihnen eine Anti-Harper-Regierungskoalition zu bilden. Gemäß der Koalitionsvereinbarung sollte die NDP den Juniorpartner in einer Koalitionsregierung unter liberaler Führung spielen. Diese sollte sich zu „fiskalischem Verantwortungsbewusstsein“, der Weiterführung des Krieges in Afghanistan bis Ende 2011 und einer Steuersenkung für Unternehmen in Höhe von 50 Milliarden Dollar verpflichten.
2015 investierten die Gewerkschaften unter der Parole „Alles außer den Konservativen“ Millionen Dollar in strategische Wahlinitiativen, welche die Liberalen unterstützen sollten. Die NDP erklärte derweil ihre Bereitschaft, sich mit den Liberalen an einer Koalitionsregierung zu beteiligen. Sie beteuerte diese Bereitschaft noch einmal wenige Tage vor der Wahl in ihrem Wahlprogramm.
Um die herrschende Klasse davon zu überzeugen, dass die NDP uneingeschränkt ihre Interessen vertreten werde, übernahm diese eine noch ausdrücklicher rechte Politik und wurde dabei von den Gewerkschaften unterstützt. Unter der Führung des ehemaligen liberalen Ministers Thomas Mulcair begann die NDP einen „Harper Light“-Wahlkampf. Sie versprach, in den nächsten vier Jahren einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, selbst für die reichsten Kanadier die Steuern nicht zu erhöhen und die Militärausgaben auszuweiten.
Das ermöglichte es Trudeau und seinen Liberalen, sich als die Partei „echter Veränderungen“ darzustellen. Die NDP griff die Liberalen von rechts an, um damit das Finanzkapital zu beeindrucken.
Da die Autorität der Gewerkschaften und der NDP aufgrund ihrer Beteiligung an dem Angriff auf die Arbeiterklasse massiv beschädigt wurde, haben sich diverse pseudolinke Organisationen eingeschaltet, um Arbeiter und Jugendliche im Umfeld dieser pro-kapitalistischen Organisationen zu halten, indem sie behaupten, sie ließen sich nach links drücken.
Die kanadischen Schwesterorganisationen der amerikanischen International Socialist Organization (ISO) und der französischen Neuen Antikapitalistische Partei unterstützten die NDP. Sie behaupteten zwar, gegen die „Jeder, nur nicht Harper“-Kampagne zu sein, unterstützten jedoch 2013-14, die „Stoppt Hudak“-Kampagne der Gewerkschaften von Ontario, welche die Grundlage der Anti-Harper-Initiative der Gewerkschaften in diesem Jahr bildete.
Die Kampagne der Gewerkschaften vor und während der Provinzwahl in Ontario 2014 gegen den engen Harper-Verbündeten Hudak war der Rahmen für die weitere Unterstützung der Gewerkschaften für die Liberalen in Ontario. Diese setzten jedoch massive Sozialkürzungen um und verboten die Streiks der Lehrer.
Die Arbeiterklasse wird mit der liberalen Regierung unter Trudeau in erbitterte Konflikte geraten. Ihre Agenda wird nicht von Trudeaus zuckersüßen Phrasen oder dem betrügerischen „progressiven“ Wahlprogramm der Liberalen bestimmt werden, sondern von der zunehmenden Krise des Kapitalismus und der Verschärfung der geopolitischen Konflikte, die sich daraus ergeben.
Die kanadischen Arbeiter müssen als Vorbereitung auf die kommenden Kämpfe dringend politisch Bilanz ziehen.
Von Griechenland bis hin zu den amerikanischen Autowerken wächst der Widerstand der Arbeiterklasse nach Jahren der Austerität und der Kriege. Doch dieser Widerstand findet keinen organisierten politischen Ausdruck. Der Grund dafür ist, dass die Arbeiterklasse von Organisationen wie den Gewerkschaften und der NDP politisch blockiert wird, die einen Kampf gegen das kapitalistische Profitsystem rundheraus ablehnen. Sie repräsentieren nicht die Arbeiterklasse, sondern privilegierte Schichten des Kleinbürgertums und Teile der herrschenden Klasse.
Die Arbeiterklasse muss sich als unabhängige politische Kraft organisieren, um ihre grundlegenden Interessen durchzusetzen. Sie muss die Arbeiter auf der ganzen Welt in einem gemeinsamen Kampf gegen imperialistischen Krieg, die Finanzoligarchie und die transnationalen Konzerne mobilisieren.
Dies erfordert den Aufbau neuer Kampforganisationen, vor allem einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse, um den Kampf für eine Arbeiterregierung und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu führen. Das wiederum erfordert den Aufbau der Socialist Equality Party als kanadische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.