Geschrieben, inszeniert und produziert von Roberta Grossman
Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto, ein Film über das historische Warschauer Ghetto-Archiv "Oyneg Shabes" unter der Leitung des polnisch-jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum (1900-1944), wurde kürzlich im Rahmen des New York Jewish Film Festival im Lincoln Center gezeigt.
Roberta Grossmans Film wird in den nächsten zwei Wochen in ausgewählten Kinos in New York und Los Angeles laufen. Auch Arte, das deutsch-französische Fernsehen und die ARD zeigen den Film.
Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto basiert auf dem bemerkenswerten Buch „Ringelblums Vermächtnis“ von Professor Samuel Kassow, der Geschichte am Trinity College in Hartford, Connecticut, lehrt.
Inmitten eines internationalen Wiederauflebens der extremen Rechten ist dieser Film über den mutigen Kampf des Oyneg Shabes um die Bewahrung der historischen Wahrheit über die politischen und kulturellen Traditionen des polnischen Judentums und seine Vernichtung durch die Nazis von großer Bedeutung.
Das Archiv Oyneg Shabes [Fröhlicher Sabbat] wurde von Emanuel Ringelblum gegründet und im Warschauer Ghetto (das von Oktober 1940 bis Mai 1943 bestand) im Angesicht der ständigen Bedrohung, entdeckt und getötet zu werden, zusammengestellt. Es umfasst eine außergewöhnliche Bandbreite an historischen Materialien.
Darunter sind Tagebücher von professionellen Journalisten und Historikern wie Rachel Auerbach und Ringelblum sowie von anderen Gefangenen des Ghettos und Kindern, die die Verbrechen der Nazis dokumentieren wollten; Gegenstände und Dokumente des täglichen Lebens im Ghetto; Dokumente über die Vernichtung des polnischen Judentums in den Todeslagern und durch Massenerschießungen; Dutzende von Zeitungen, darunter die einzigen erhaltenen Dokumente der Trotzkisten im Warschauer Ghetto und anderer politischer Tendenzen; sowie verschiedene Dokumente über das religiöse und kulturelle Leben im Ghetto. Um sie vor der Zerstörung durch die Nazis zu retten, wurden die Dokumente in Milchkannen und Metallkisten gelagert und an drei Orten im Ghetto vergraben. Nur zwei dieser Verstecke wurden nach dem Krieg entdeckt.
Der Film erzählt die Geschichte des Ghetto-Archivs aus der Sicht von Auerbach, einer brillanten Journalistin. Sie hat als eine von nur drei der 60 Mitarbeiter des Archivs den Krieg überlebt.
Der Film verbindet nachgestellte Szenen aus der Zeit mit historischem Filmmaterial und Interviews mit führenden Historikern, darunter Kassow, Barbara Kirshenblatt-Gimblett und Karolina Szymaniak.
Die Zuschauer erfahren von den ersten Monaten des Krieges in Polen, der Errichtung des Warschauer Ghettos, das gegenüber der polnischen Bevölkerung in der Nazi-Propaganda als Mittel zum Schutz vor der angeblich krankheitsbefallenen jüdischen Bevölkerung gerechtfertigt wird; von den schrecklichen Bedingungen im Ghetto selbst, den Massendeportationen nach Treblinka im Sommer 1942; dem Aufstand des Warschauer Ghettos von 1943, der mit einem erbarmungslosen Massaker der Nazis und der Zerstörung des Ghettos beendet wurde.
Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto entfaltet den größten Teil seiner Geschichte auf der Grundlage von Dokumenten und Tagebüchern, die durch das Oyneg Shabes gesammelt wurden. Passagen aus den Dokumenten werden zu nachgestellten Szenen aus dem Ghetto gelesen. Zusammen mit Ringelblums Tagebüchern und Notizen über das Ghetto hören wir von Auerbach, der in einer Suppenküche für die hungernde Ghetto-Bevölkerung arbeitete und deren Beobachtungen für Ringelblum sorgfältig notierte; von Hersh Wasser, der als einer der Exekutivsekretäre von Ringelblum trotz des Hungers weiterhin Dokumente sammelte; und von Abraham Lewin, der mit seiner Familie im Sommer 1942 den Deportationen zum Opfer fiel.
Die Nachstellungen sind sehr gut gemacht. Polnische Schauspieler sind in den Rollen Ringelblum (Piotr Glowacki) und seiner Frau (Karolina Gruszka), Auerbach (Jowita Budnik), Wasser (Piotr Jankowski), Lewin (Wojciech Zielinski) und Rabbi Shimon Huberband (Gera Sandler) zu sehen. Die Darsteller sprechen sowohl Polnisch als auch Jiddisch, die Muttersprache eines Großteils des polnischen Judentums zu dieser Zeit, um die Atmosphäre der Zeit zu rekonstruieren und das Engagement der Protagonisten für die jiddische Sprache und Kultur zu unterstreichen. Die im Film zitierten Passagen, die sowohl die Bedeutung des Archivs als auch die Schrecken des Ghettos veranschaulichen, sind beeindruckend und bewegend.
Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto hat jedoch schwerwiegende Einschränkungen, die mit der politischen und sozialen Orientierung der Filmemacher verbunden sind. Sowohl künstlerisch als auch in Bezug auf die ausgewählten Dokumente konzentriert sich der Film darauf, vor allem die moralischen Empfindungen und Emotionen der Zuschauer anzusprechen, ohne ihre konventionelleren (und meist gleichartigen) politischen und ideologischen Annahmen und Vorurteile in Frage zu stellen. Der historische Kontext zum Holocaust als Ganzes wird kaum berührt, nur wenige der wichtigsten Fakten und Daten sind genannt. Gleichzeitig werden die Politik und Traditionen, die das Oyneg Shabes und Ringelblum verkörperten, fast vollständig ausgeklammert.
Das Oyneg Shabes entstand nicht in einem intellektuellen und politischen Vakuum. Es wurzelte in einer reichen politischen und historiographischen Kultur, die in der Zwischenkriegszeit unter dem Einfluss der Russischen Revolution von 1917 und dem Aufstieg des jüdischen Nationalismus und der jiddischen Kultur entstanden war.
Die Tradition innerhalb der polnisch-jüdischen Intelligenz, den Antisemitismus durch die Erforschung der und das Schreiben über die Geschichte des polnischen Judentums zu bekämpfen – eine Tradition, die in Kassows Buch sehr detailliert untersucht wurde und eine wesentliche Grundlage für die Arbeit des Oyneg Shabes war – wird im Film überhaupt nicht thematisiert. (Nur wenige Minuten zu Beginn des Geheimarchivs im Warschauer Ghetto sind der Vorkriegszeit gewidmet. Später gibt es eine kurze Bemerkung über das YIVO-Institut, das Jüdische Wissenschaftliche Forschungsinstitut, das 1925 in Wilnius gegründet wurde und zu dem Ringelblum und viele seiner Mitarbeiter gehörten.)
Ringelblum war zwar bemüht, Vertreter aller politischen und kulturellen Tendenzen in die Arbeit der Oyneg Shabes zur Erhaltung der historischen Wahrheit einzubeziehen, aber es steht außer Frage, dass er und mehrere andere führende Persönlichkeiten Sozialisten und Marxisten waren. In dem Film erwähnt Kassow kurz, dass Ringelblum und Wasser Mitglieder der linken Poalei Zion (LPZ), einer sozialistischen zionistischen Partei, waren und dass Ringelblum "sehr, sehr marxistisch" war, aber weder der Inhalt dieser politischen und theoretischen Ansichten wird diskutiert, noch in welchem Verhältnis sie zu den Aktivitäten des Ghetto-Archivs stehen.
Insgesamt waren drei der fünf Figuren, die der Film ausführlich zitiert - Ringelblum, Lewin und Wasser - überzeugte Sozialisten, doch der Begriff „Sozialist“ wird nicht einmal erwähnt. Stattdessen wird impliziert, dass ihr Projekt allein auf die Erhaltung des jüdischen Nationalgedächtnisses ausgerichtet war. Das ist historisch nicht korrekt.
Ringelblum und andere sozialistische Zionisten waren Anhänger einer bestimmten Tendenz des kulturellen und politischen Nationalismus, doch sie waren weit entfernt von den heutigen, rechten Strängen des Zionismus und lehnten es ab, die Geschichte der Juden durch eine rein nationale Perspektive zu betrachten. Die Ausrichtung Ringelblums auf die jüdischen Massen war nicht nur von diesem kulturellen Nationalismus, sondern ebenso sehr von dem enormen Einfluss des Sozialismus und der Russischen Revolution geprägt, die seit 1905 für das osteuropäische Judentum eng mit dem Kampf um die nationale, politische und soziale Emanzipation der Juden verflochten war. (Seine Partei, die LPZ, unterstützte die Oktoberrevolution in Russland und viele ihrer Mitglieder kämpften in den Reihen der Roten Armee während des Bürgerkriegs.)
Wie Kassow in seinem Buch einräumt, fühlte sich Ringelblum auch im Ghetto der sozialistischen Revolution verpflichtet. Über die Arbeit des Oyneg Shabes sagte er: „Ich verstehe unsere Arbeit nicht als ein Projekt, das nur Juden einschließt, nur Juden betrifft und nur Juden interessiert. In mir wehrt sich alles gegen diese Auffassung. Ich kann mich als Jude, als Sozialist oder als Historiker mit einem solchen Verständnis nicht anfreunden. Bedenkt man, wie beängstigend komplex soziale Prozesse sind, bei denen alles mit allem interagiert, würde es keinen Sinn ergeben, wenn wir uns isoliert betrachten würden [kon nisht zayn keyn reyd vegn opshlisn zikh in unzere daled omes]. Jüdisches Leiden, jüdische Befreiung und Erlösung sind integrale Bestandteile des allgemeinen Unglücks und des universellen Bemühens, das verhasste Joch [der Naziherrschaft] abzustreifen. Wir müssen uns als Teilnehmer an einem universalen Versuch sehen, ein solides Gebäude objektiver Geschichtsschreibung zu errichten, das der Menschheit zum Wohl gereichen wird. Hoffen wir, dass die Backsteine und der Mörtel unserer Erfahrung und unseres Wissens ein tragfähiges Fundament bilden können.“ (Samuel D. Kassow: „Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos“, Hamburg 2010, S. 603-604)
Man kann sich vorstellen, dass die Filmemacher unter erheblichem finanziellen und politischen Druck standen, diesen Aspekt der Arbeit der Oyneg Shabes und Ringelblums so weit wie möglich herunterzuspielen. Das Ausklammern der marxistischen und sozialistischen Politik bei der Diskussion über Ringelblum und die Oyneg Shabes hat jedoch erhebliche Auswirkungen. Es verzerrt nicht nur das historische Bild des Archivs, sondern begrenzt auch die Lehren, die die Zuschauer von Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto aus der Arbeit der Oyneg Shabes für den Kampf gegen die extreme Rechte heute ziehen können.
Das heutige Wiederaufleben von Faschismus und Antisemitismus wurde wesentlich erleichtert durch die fast absichtliche Indifferenz von Akademikern in Europa und den Vereinigten Staaten gegenüber den Bemühungen prominenter deutscher Professoren, insbesondere Jörg Baberowski von der renommierten Berliner Humboldt-Universität, die Verbrechen Hitlers und des Nazi-Regimes zu relativieren und zu rechtfertigen. Diesem Schweigen liegt die Befürchtung zugrunde, dass entschiedene Opposition gegen faschistische Apologetik eine Konnotation von linken und sozialistischen Sympathien mit sich bringt, die Akademiker oft nur allzu gerne vermeiden wollen.
Trotz dieser Schwächen ist Grossman's Geheimarchiv im Warschauer Ghetto ein wichtiger Beitrag, um das historische Werk der Oyneg Shabes einem breiten Publikum bekannt zu machen. Der Film sollte von so vielen Menschen wie möglich gesehen werden und wird hoffentlich ein größeres Interesse an Kassows Buch und vor allem eine breitere Diskussion über die Bedeutung der historischen Wahrheit im Kampf gegen die Gefahren des Faschismus ermutigen.
Für die deutsche und französische Version des Films in der Arte-Mediathek siehe hier.
Für die Rezension von Samuel Kassows Buch siehe: „Ringelblums Vermächtnis“: Die Geschichte des Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos
(22. August 2015)