Dieser Kommentar zur aktuellen Tarifrunde der BVG stammt von Andy Niklaus, einem Berliner Busfahrer, der für die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) zur Europawahl kandidiert. Seit 28 Jahren arbeitet Niklaus bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), wo er der prokapitalistischen Politik von Verdi entgegentritt und zum Aufbau unabhängiger Aktionskomitees im Betrieb aufruft.
Überfüllte Fahrzeuge, gehäufte Ausfälle und Verspätungen, ein ungewöhnlich hoher Krankenstand der Mitarbeiter – der schlechte Zustand des Nahverkehrs in Berlin und Brandenburg sorgt seit langem für Schlagzeilen. Am meisten leiden darunter die Bus-, Tram- und U-Bahn-Fahrerinnen und -Fahrer.
Am Montag haben Manteltarifverhandlungen für die 14.500 Verkehrsarbeiter begonnen, die für die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und ihre Tochter Berlin Transport GmbH (BT) arbeiten. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bemüht sich, die Unruhe unter den Fahrerinnen und Fahrern durch einige wohlklingende Forderungen zu beschwichtigen, während sie ihren Kampf bewusst von der aktuellen Tarifrunde des öffentlichen Dienstes im Bund und in den Kommunen isoliert.
Wie Jeremy Arndt, Chef der Verdi-Tarifkommission für die BVG, erklärte, will die Gewerkschaft offiziell für vier Forderungen kämpfen: Eine 36,5-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für alle Mitarbeiter, also auch für diejenigen Neubeschäftigten, die seit 2005 eine 39-Stundenwoche fahren. Zweitens sollen alle, auch die Neueingestellten, das Weihnachtsgeld, das gegenwärtig bei 1400 Euro brutto liegt, schon im ersten, und nicht wie bisher erst im zweiten Jahr bekommen.
Drittens soll die „Entgeltforderung und Stufenlaufzeit“ überarbeitet werden. Damit wird ein Zugeständnis an die langjährig Beschäftigten signalisiert, denn bisher können die Fahrer ihr Entgelt von anfangs 2200 Euro brutto in sechzehn Jahren nur auf rund 2600 Euro brutto steigern – ein Gehalt, von dem man in der Hauptstadt Berlin kaum überleben kann.
Als vierte Forderung hat die Gewerkschaft erstmals einen Verdi-Bonus in Form einer Einmalzahlung von 500 Euro für ihre Mitglieder aufgestellt. Durch diese undemokratische Maßnahme versucht sie, dem grassierenden Mitgliederschwund entgegenzuwirken. Nur noch maximal die Hälfte der Verkehrsarbeiter sind Verdi-Mitglieder.
Schon am vergangenen Donnerstag kündigte Verdi-Verhandlungsführer Arndt auf einer Pressekonferenz an, er schließe „Arbeitskampfmaßnahmen“ nicht aus. Schon jetzt sei absehbar, dass diese Verhandlungen sich „äußerst schwierig gestalten“ würden. Ein Streik drohe aber nur, „wenn unsere Forderungen blockiert werden“. Die Arbeitgeber bezeichneten ihrerseits die Forderungen am Montag als nicht erfüllbar und warnten Verdi vor „unnötigen Drohgebärden“.
Kein Arbeiter darf sich von diesem Spiel mit verteilten Rollen täuschen lassen. Die Tarifrunde ist Teil eines Rituals, das seit Jahrzehnten nach ganz bestimmten Regeln abläuft und im Wesentlichen ein einziges Ziel verfolgt: einen wirklichen Arbeitskampf und eine soziale Rebellion zu verhindern.
Die Forderungen sollen hauptsächlich die Wut unter den Beschäftigten beschwichtigen. Auch sind gewisse Verbesserungen schon deshalb notwendig, um die neu eingestellten Fahrer länger an den Betrieb zu binden. Seit langem brodelt es im Personal der BVG und der BT, und nicht selten kommt es vor, dass neu eingestellte Busfahrer mitten im laufenden Betrieb wieder aussteigen, weil sie den Stress nicht ertragen. Das Resultat ist ein dramatischer Personalmangel. Wie eine neue Studie zeigt, haben sich besonders bei den Straßenbahnen die personalbedingten Ausfälle in nur zwei Jahren mehr als verfünffacht.
Die Situation hat sich dermaßen verschärft, dass die Abgeordneten des Berliner Senats vergangene Woche eine Generaldebatte zum Thema „Krise im Nahverkehr“ ansetzten und die BVG-Vorstandschefin Sigrid Nikutta (Jahresgehalt: 497.000 Euro) zum Rapport ins Abgeordnetenhaus bestellten.
Die Verdi-Führer agieren als verlängerter Arm der BVG-Chefetage und des Berliner Senats. Sie teilen deren gemeinsames Ziel, die Verschuldung der BVG weiter abzutragen und den öffentlichen Berliner Nahverkehr bis 2020 auf Profit zu trimmen. Auf der Pressekonferenz erklärte Jeremy Arndt: „Wir wollen, dass beide Unternehmen [BVG und Berlin Transport] als Arbeitgeber wieder konkurrenzfähig werden.“
Verdi spielt ein zynisches und abgekartetes Spiel. Die heutigen schlechten Löhne, der Stress bei der Arbeit und der Niedergang der Verkehrs-Infrastruktur sind die direkte Folge von Verdis profitorientierter Gewerkschaftspolitik.
Vor über zehn Jahren sorgte Verdi für den Ausverkauf des Berliner Verkehrsarbeiterstreiks von 2008. Dies hing direkt mit dem Abschluss des Verkehrsvertrags zwischen der BVG und der Berliner Regierung zusammen, der im selben Jahr 2008 verabschiedet wurde und auf den Verdi maßgeblich Einfluss hatte. Bedingung für den Vertrag war der Abschluss des neuen Tarifvertrags Nahverkehr (TV-N) von 2005, der auf eine Vereinbarung zwischen der Gewerkschaft und der damaligen rot-roten Koalition zurückging. Der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hatte die Weichen dafür auf seinem berüchtigten „Waldspaziergang“ mit Verdi-Chef Frank Bsirske und dem Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke) gestellt.
Es ging damals darum, die Personalkosten der Verkehrsbetriebe um dreißig Prozent zu senken. Das war die Bedingung des damaligen Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD). Andernfalls, so drohte Sarrazin, werde die BVG privatisiert und für einen symbolischen Euro am Markt verkauft. Mit dem Verkehrsvertrag von 2008 blieb die BVG im Eigentum der Stadt Berlin mit dem erklärten Ziel, bis 2020 ihre „Wettbewerbsfähigkeit“ wiederherzustellen.
Mit dem TV-N wurde ein Niedriglohnsektor neu eingeführt, der die Belegschaft in Alt- und Neubeschäftigte aufspaltete und für neueingestellte Fahrer Tariflöhne weit unter den Reallöhnen der Altbeschäftigten einführte. Seither arbeiten die nach 2005 eingestellten Fahrerinnen und Fahrer deutlich länger als ihre Altkollegen, und sie verdienen bis zu einem Drittel weniger.
Diese Verhältnisse wurden 2013 mit dem Knebelvertrag „Ergänzungstarifvertrag Zukunftssicherung“ weiter festgeschrieben. Dieser Vertrag sorgte dafür, dass die Personalkosten nur bei „positivem Betriebsergebnis“ und höchstens um 2,5 Prozent pro Jahr steigen durften.
Dank Verdi konnte sich die BVG auf Kosten der Beschäftigten und der Fahrgäste sanieren. Alle Tarifabschlüsse der letzten zehn Jahre haben es dem Unternehmen ermöglicht, die Personalkosten niedrig zu halten. Damit wurden auf Kosten der Belegschaft die Schulden von über einer Milliarde Euro bis Ende 2017 auf 679 Millionen Euro gedrückt, und bis 2020 soll ein Jahresgewinn von achtzig Millionen Euro erzielt werden.
Daran änderte auch die Verlängerung des Verkehrsvertrags nichts, der vorsieht, dass die BVG bis 2035 Eigentum der Stadt bleibt. Wie in den letzten Tagen bekannt geworden ist, sollen mehr als 28 Milliarden Euro bis 2035 investiert werden. Das gesamte Netz des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs ÖPNV von Berlin und Brandenburg soll ausgebaut und modernisiert werden, und in diesem Rahmen sollen noch in diesem Jahr 1100 Mitarbeiter, darunter über 600 Fahrer, neu eingestellt werden.
Bei all diesen Veränderungen setzt der Berliner Senat aus SPD, Linke und Grünen auf die enge Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Verdi, die als Betriebspolizei agiert. Sie soll ihre Erfahrung und ihren Einfluss auf die Kollegen nutzen, um auch künftig dafür zu sorgen, dass kein ernsthafter Arbeitskampf die profitablen Aussichten trübt.
In dieser Situation ruft die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) die Verkehrsarbeiter auf, den Arbeitskampf der Kontrolle durch Verdi zu entreißen. Die Verkehrsarbeiter dürfen nicht länger zulassen, dass sämtliche Verhandlungen Verdi allein überlassen werden, denn die Dienstleistungsgewerkschaft wird alles daran setzen, den Arbeitskampf durch einen faulen Kompromiss auszuverkaufen. Schon heute isoliert sie alle Streiks und Proteste ihrer Mitglieder bewusst voneinander, um die Kontrolle zu behalten.
Unterstützt wird Verdi durch einige pseudolinke Gruppen, zum Beispiel die „oppositionelle“ Gewerkschaftsliste verdi-aktiv. Sie ist nichts weiter als ein dürftiges Feigenblatt für Verdi und Die Linke. In einem „Brandbrief“ hat verdi-aktiv den „neoliberalen Zeitgeist“ angeprangert und vor einem Zusammenbruch des Nahverkehrs gewarnt. Darin erweist sie sich als besorgter Ratgeber Verdis und des Senats, die sie mit den Worten warnt: „Wenn die Weichen jetzt nicht anders gestellt werden, entgleist der Berliner Vorzeigebetrieb mit voller Fahrt. Und das geht nicht ohne Schäden an der Umgebung.“
In dem fast zweiseitigen Brief findet man kein Wort der Kritik an Verdi, nicht eine Silbe, obwohl jeder weiß, dass Verdis enge Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung und dem Senat hauptverantwortlich für die Misere bei der BVG ist.
Aber die Stimmung unter den Fahrern ist explosiv, und weiterhin treten immer mehr Beschäftigte aus der Gewerkschaft aus.
Die SGP schlägt vor, dass diejenigen Mitarbeiter der BVG, die gegen die ständigen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen kämpfen wollen, eigene Aktionskomitees gründen. Diese Komitees müssen vollkommen unabhängig von Verdi agieren und ihren Kampf mit den Lohnkämpfen anderer Arbeiter verbinden, die in der gleichen Lage sind.
Allein in dieser Woche stehen in Berlin mehrere Arbeitskämpfe gleichzeitig an. Sie richten sich nicht nur gegen die Spar- und Kriegspolitik der Großen Koalition in Berlin, sondern auch gegen die Gewerkschaftsführungen, die eng mit der SPD zusammenarbeiten. Am heutigen Dienstag werden die Erzieher in 276 landeseigenen Kitas einen halben Tag für mehr Lohn streiken. Auch bei ihnen, wie bei den andern öffentlichen Bediensteten, deren bundesweite Tarifverhandlungen gerade laufen, macht sich seit Jahren Wut und Unzufriedenheit breit.
Vor wenigen Wochen haben die Berliner Feuerwehrleute ihren „Berlin brennt“-Protest ohne die Gewerkschaft Verdi neu aufgenommen. Auch kommt die aktuelle Tarifverhandlungsrunde mit Konflikten in der Stahlindustrie, an den Flughäfen und in der Autoindustrie zusammen. Die Belegschaften von Ford, Opel, VW, aber auch von Siemens, Bombardier, ThyssenKrupp und vielen andern Betrieben sind von massivem Stellenabbau bedroht und kampfbereit.
Überall in Europa und weltweit ist die Situation explosiv. In Frankreich gehen die „Gelbwesten“ schon seit zehn Wochen auf die Straße. Sie haben sich völlig unabhängig von den Gewerkschaften und gegen sie organisiert. Beispielhaft ist auch der Streik von 70.000 Arbeitern der Montagewerke von Matamoros im nordmexikanischen Grenzgebiet, die von den deutschen Medien totgeschwiegen werden. Sie wenden sich gegen die Gewerkschaften, weil sie deren Funktionäre als Juniorpartner ihrer Ausbeuter erleben. Bezeichnenderweise hieß es am Montag auf einem Transparent ihrer Massendemonstration: „Die Gewerkschaften und das Unternehmen töten die Arbeiterklasse.“
An ihnen – an der internationalen Arbeiterklasse – müssen sich die Berliner Verkehrsarbeiter orientieren. Die Sozialistische Gleichheitspartei und die World Socialist Website werden den Aufbau unabhängiger Aktionskomitee bekannt machen und unterstützen.