Mehr als fünf Wochen sind vergangen, seit der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) auf der Terrasse seines Hauses von einem Neonazi durch einen gezielten Kopfschuss ermordet wurde. Seitdem wird alles getan, um die enge Verflechtung des mutmaßlichen Täters mit einem rechtsextremen Terrornetzwerk zu vertuschen, das tief in die Geheimdienste und den Staatsapparat hinein reicht.
Wer erwartet hatte, dass die brutale Ermordung eines ranghohen Politikers der Kanzlerpartei durch einen Faschisten in der deutschen Politik einen Schock auslöst; wer erwartet hatte, dass umfangreiche Ermittlungen der Frage nachgehen, wie es sein kann, dass 75 Jahre nach dem Nazi-Terror wieder Politiker von Faschisten ermordet werden; wer erwartet hatte, dass die Medien intensiv berichten und kritische Fragen stellen – wurde schnell eines Besseren belehrt.
Nachdem die Kanzlerin und einige Politiker ihr Bedauern und den Hinterbliebenen ihr Beileid ausgesprochen haben, wird das rechtsterroristische Attentat wie eine politische Bagatelle behandelt: ‚Bedauerlich, aber nicht außergewöhnlich.‘ Obwohl es fatal an die politischen Morde in der Weimarer Republik erinnert, wo paramilitärische Organisationen mit enger Verbindung zum Staatsapparat ranghohe Politker ermordeten, geht der Politikbetrieb unbekümmert weiter.
Die Hauptsorge im politischen Berlin gilt der AfD. Es soll verhindert werden, dass die rechtsextreme Partei wegen des Lübcke-Mords ausgegrenzt wird oder anderweitig Schaden nimmt. Nur zwei Wochen nach dem Mord meldete sich der frühere Bundespräsident Joachim Gauck zu Wort und forderte, der Begriff rechts müsse „entgiftet“ werden. In seinem pastoralen Geschwätz verlangte er „eine erweiterte Toleranz in Richtung rechts“ und kritisierte die Bundestagsparteien, weil sie bisher noch kein AfD-Mitglied zum Vize-Präsidenten gewählt haben.
Ganz ähnlich äußerte sich Friedrich Merz, der vor zehn Jahren die CDU-Bundestagsfraktion geführt hatte, dann beim weltweit größten Vermögensverwalter BlackRock Karriere machte und nun wieder ein führendes Amt in der Politik anstrebt. Er forderte, eine politische Zusammenarbeit mit der AfD keinesfalls grundsätzlich auszuschließen.
Der Grund für die Weigerung, den Lübcke-Mord strafrechtlich und politisch in vollem Umfang aufzuarbeiten, ist beunruhigend. Offenbar hat die rechtsradikale Verschwörung im Staatsapparat, die tief in das gesamte politische System hineinreicht, eine Dimension angenommen, die sich nicht mehr kontrollieren lässt.
Der Mord an einem ranghohen CDU-Politiker ist nicht zuletzt eine Warnung, dass niemand seines Lebens sicher sein kann. Politiker, Parteien und Medien werden bedroht und eingeschüchtert, um zu verhindern, dass die Wahrheit über das rechtsextreme Netzwerk ans Licht kommt.
Mittlerweile steht unbestreitbar fest, dass der dringend tatverdächtige Stephan Ernst Mitglied eines umfangreichen Terrornetzwerks ist, das in der Kontinuität des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) steht, der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet hat.
Professor Hajo Funke, Experte für den Rechtsterrorismus und Autor des Buchs „Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz“, schrieb am letzten Wochenende auf seinem Blog: „Der Mord an Walter Lübcke, dem Regierungspräsidenten von Kassel ist von einem Täter verübt worden, der im Hotspot der terrorbereiten Szene im Umfeld von Combat 18 – der ‚Kampftruppe Adolf Hitler‘ – in Kassel lebte und agierte. … Zu diesem Szene- und Kontakt-Netz in und um Kassel gehört das who´s who der C 18 und NSU-Unterstützerszene.“
Es folgt eine detaillierte Schilderung des rechtsterroristischen Netzwerkes, in dem sich der Lübcke-Mörder bewegte. Funke nennt fast ein Dutzend Namen bekannter Neonazis, darunter Ralf Wohlleben, der im Münchener NSU-Prozess auf der Anklagebank saß und verurteilt wurde, und Thorsten Heise, ein Vordenker der rechten Kampftruppe C18 und Anführer der „Arischen Bruderschaft“ – „eine Art Elite oder übergeordnet organisierte Kameradschaft mit entsprechendem Bekanntheitsgrad“.
Zu den Freunden Stephan Ernsts hat demnach auch Benjamin G. gezählt, der über Jahre zur Neonazi- und Hooligan-Szene von Kassel gehörte und unter dem Decknamen „Gemüse“ als V-Mann für den Verfassungsschutz arbeitete. Sein V-Mann-Führer, Andreas Temme, war am 6. April 2006 in einem Kasseler Internet-Café anwesend, als der NSU dort sein neuntes Opfer, Halit Yozgat, ermordete. Später wechselte Temme vom hessischen Verfassungsschutz ins Regierungspräsidium von Walter Lübcke, wo er bis heute arbeitet.
Anderen Berichten zufolge sollen auch die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in der Kasseler Neonazi-Szene verkehrt haben.
Der NSU hatte enge Verbindungen zu den Geheimdiensten; vieles deutet darauf hin, dass er sogar von diesen gesteuert wurde. So wurde der Thüringer Heimatschutz vom V-Mann Tino Brandt aufgebaut, der 200.000 D-Mark für seine Dienste erhielt, die größtenteils in den Aufbau der rechtsextremen Organisation flossen. Aber Brandt war nicht der einzige V-Mann; fast jedes Dritte der 150 Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes arbeitete für den Staat.
Im Münchener NSU-Prozess, der sich über fünf Jahre hinzog, versuchten mehrere Opferanwälte Licht in die Rolle staatlicher Stellen in der Mord-Serie zu bringen. Sie stießen auf eine Mauer aus Granit. Sowohl der Generalbundesanwalt, der die Anklage führte, wie das Gericht unterbanden alle entsprechenden Vorstöße. Mitarbeiter der Geheimdienste erhielten keine oder nur beschränkte Aussagegenehmigungen; Akten wurden für geheim erklärt und dem Gericht vorenthalten.
Nun ist mit Lübcke ein Vertreter des Staates diesem rechtsterroristischen Netzwerk zum Opfer gefallen – und die Vertuschung geht weiter.
Inzwischen hat der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich gezogen. Er versucht – wie im NSU-Prozess – Ernsts Verbindungen zum NSU-Netzwerk und zu den Geheimdiensten zu vertuschen oder zu bagatellisieren.
Vor einigen Tagen wurde Ernsts Geständnis, das dieser inzwischen aus taktischen Gründen zurückgezogen hat, an die Presse durchgestochen. Darauf erschienen zahlreiche Artikel, die ihn als psychisch gestörten Einzeltäter darstellen, der an Depressionen leide. Ernst, lautete die Story, habe sich vor zehn Jahren aus der rechtextremen Szene gelöst, um ein „normales Leben mit Familie und Beruf“ zu führen. Erst von Migranten begangene Morde hätten ihn „aufgewühlt“ und zum Attentat auf Lübcke bewogen.
Die NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes könnten vermutlich Einblick in das Netzwerk von Rechtsterroristen, Neonazis, V-Leuten und Geheimdiensten geben, dem Lübcke zum Opfer gefallen ist. Doch die hessische Landesregierung, geführt vom früheren Innenminister Volker Bouffier, hat entschieden, diese Akten bis zum Jahr 2044 geheim zu halten.
„Die Tatsache, den regionalen Verfassungsschutzbericht über die hessische rechte Gewaltszene Jahrzehnte geheim zu halten, ist geradezu die Bestätigung dafür, dass hier Informationen bewusst verborgen … wurden“, schreibt Hajo Funke. „Die Sicherheitsbehörden, insbesondere die Verfassungsschützer haben ein ungeheures Wissen über die gewaltbereiten und rechtsterroristischen Netzwerke in Deutschland, ohne dies angemessen verlässlich den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen, vielmehr vielfach vorzuenthalten.“
Der hessische Ministerpräsident Bouffier kommt aus dem rechts-konservativen „Stahlhelm-Flügel“ der CDU, in dem auch AfD-Chef Alexander Gauland 40 Jahre lang Karriere machte. Die Grünen, die in Hessen mit der CDU die Regierung bilden, unterstützen die Entscheidung, die NSU-Akten weitere 25 Jahre lang geheim zu halten.
Die Komplizenschaft mit den Rechtsextremen reicht bis in die Chefetage der Geheimdienste. Als der frühere stellvertretende Präsident des Verfassungsschutzes, Klaus-Dieter Fritsche, 2012 vor den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zitiert wurde, um über seine Rolle und Verantwortung bei der Vernichtung von NSU-Akten Auskunft zu geben, griff er die Parlamentarier scharf an. Er erklärte, die Staatssicherheit stehe weit höher als das Kontrollrecht des Parlaments.
Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy, der ihn zurecht wies, bezahlte dafür einen hohen Preis. Kurze Zeit später wurden auf seinem Bundestagscomputer angeblich kinderpornografische Bilder entdeckt und Edathy wurde politisch und persönlich ruiniert. Fritsche stieg zum Sonderbeauftragten im Kanzleramt für die Koordination der Geheimdienste auf. Nach seinem altersbedingten Ausscheiden beriet er die österreichischen Rechtsradikalen der FPÖ im Wiener Innenministerium.
Noch deutlicher ist die enge Verbindung von Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen zu den Rechten. Er arbeitete eng mit der AfD zusammen, attackierte die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel und verharmloste den Aufmarsch der Rechtsradikalen in Chemnitz im vergangenen Sommer. Seit seiner Ablösung von der Spitze des Geheimdiensts ist er auf dem rechten Flügel der CDU aktiv und setzt sich für eine Zusammenarbeit von Union und AfD ein.
Auch in der Bundeswehr und der Polizei existieren rechtsterroristische Netzwerke, die weitgehend unbehelligt bleiben, obwohl sie Waffen horten und Listen potentieller Opfer erstellen.
Fünf Wochen nach dem Mord an Walter Lübcke zeigt sich ein erschreckendes Bild.
Der Geheimdienst und große Teile des Sicherheitsapparats sind von Rechtsextremen und Neofaschisten dominiert und blockieren systematisch die Ermittlungen und Verfolgung des Rechtsterrorismus. Die AfD fungiert als politischer Arm des rechten Terrorismus und rückt selbst ständig weiter nach rechts. Sie dominiert nicht nur in der Flüchtlingsfrage die Regierungspolitik.
Parallel dazu findet an den Universitäten eine Neubewertung der deutschen Geschichte statt, die die deutschen Verbrechen im Ersten und Zweiten Weltkrieg systematisch verharmlost. Professor Jörg Baberowski, der vor fünf Jahren den Hitler-Apologeten Ernst Nolte rehabilitierte und behauptete, „Hitler war nicht grausam“, wird bis heute von der Universität und der Regierung verteidigt.
Vor drei Wochen schrieben wir, dass der Mord an Lübcke eine Warnung sei. „Angesichts wachsender sozialer und internationaler Spannungen kehrt die herrschende Klasse zu ihren autoritären und militaristischen Traditionen zurück. Unter dem demokratischen Lack, der den entnazifizierten Vertretern der deutschen Bourgeoisie nach Hitlers Untergang überpinselt wurde, scheint wieder die alte braune Farbe hervor.“ Diese Einschätzung bestätigt sich Tag für Tag.