Ausnahmezustand in Kassel: Am Samstag, dem 20. Juli, dem 75. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler, protestieren in der nordhessischen Stadt viele Tausende gegen einen angekündigten Naziaufmarsch.
Die Tatsache, dass die Partei „Die Rechte“ so kurz nach dem Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) durch Kassel marschieren darf, stellt für die übergroße Bevölkerungsmehrheit eine unerträgliche Provokation dar. „Jetzt müssen wir Flagge zeigen“, bringt ein Teilnehmer die vorherrschende Stimmung auf den Punkt.
Die Teilnehmerzahl übertrifft alle Erwartungen, doch die Presse spielt das herunter. Die Hessenschau spricht erst von 8000, später von „mehr als 10.000“ Teilnehmern, und alle Medien übernehmen diese Angabe der Polizei, während das „Bündnis gegen Rechts“ schon um zwei Uhr nachmittags über mehr als 15.000 Teilnehmer berichtet. Es gibt zwei Demonstrationen nacheinander, und sie teilen sich noch in verschiedene Züge auf, von denen jeder einzelne nach Tausenden zählt. Den ganzen Tag über finden Aktionen, Konzerte und Infostände statt, und an manchen Häusern hängen Plakate gegen Rechts.
Viele Einwohner Kassels schauen dem langen Demonstrationszug vom Fenster aus zu. Die Teilnehmer skandieren: „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“ oder: „Siamo tutti antifascisti“ (Wir alle sind Antifaschisten). Auch der Slogan der Seebrücke ist zu hören: „Um Europa keine Mauer – Bleiberecht für alle, und auf Dauer.“ Einige wandeln es ab und rufen: „… gleiches Recht für alle und auf Dauer“.
Eine Frau mit einem selbstgemalten Schild am Fahrrad („Menschenrechte statt rechter Menschen“) erklärt: „Es ist mir wichtig, hier mitzumachen. Man darf nicht zulassen, dass sich die Geschichte wiederholt.“
Elena ist mit ihrer Tochter hergekommen. Sie sagt: „Wir müssen Gesicht zeigen, nicht nur gegen diese miesen Nazis in Kassel, sondern auch gegen die Ausgrenzung von Ausländern und den ganzen Rechtsruck. Auch gegen Hartz IV, und dass so viele Menschen leiden. Es ist ein Unding, dass die AfD davon profitiert.“
Zu dem riesigen Polizeiaufgebot, das die ganze Stadt Kassel abriegelt und lahmlegt, sagt Elena: „Für mich ist die Polizei nicht ein ‚Freund und Helfer‘. Ich bin heute nicht zum ersten Mal dabei. Wir haben hier schon demonstriert, als Halit Yozgat erschossen wurde.“ Sie spricht über den neunten NSU-Mord, bei dem der Internet-Betreiber Halit Yozgat in Kassel erschossen wurde. Die Rolle, die der Verfassungsschützer Andreas Temme dabei spielte, ist bis heute nicht aufgeklärt.
„Diese Demonstration hat eine neue Qualität“, sagt Elena weiter. „Dass so viele gemeinsam gegen Rechts aufstehen, das hat es bisher hier nicht gegeben. Die Medien haben das bisher eher unterdrückt, und auch von den Gewerkschaften war nichts zu hören.“
Nebenan wird ein Transparent vorbeigetragen, darauf steht: „Für Demokratie und Pressefreiheit, gegen politischen Mord und Hetze.“ Da wendet sich das Gespräch dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange zu, der in London inhaftiert ist und an die USA ausgeliefert werden soll. Elena erzählt, dass sie sich einen Aufkleber „Free Julian Assange“ ans Auto geklebt habe.
„Vor einigen Jahren hat man noch viel mehr über ihn gehört“, sagt ein anderer Teilnehmer, der nebenher marschiert. „Aber das wurde ziemlich erfolgreich unter den Teppich gekehrt.“
Überall ist eine euphorische Stimmung zu spüren, weil so viele gekommen sind. Ali Sener, der eher zufällig auf die Demonstration gestoßen ist, freut sich enorm, „dass so viele Leute gegen die Nazis demonstrieren. Ich hätte das nicht erwartet.“ Er berichtet, dass er als Flüchtling in Thüringen viele Monate lang in einer Unterkunft leben musste, wo er nicht arbeiten und einen Umkreis von 35km nicht verlassen durfte.
Über 150 Organisationen haben sich dem Bündnis gegen Rechts angeschlossen. Sie reichen vom Ausländerbeirat und dem AStA über Gruppen wie die Bildungsstätte Anne Frank oder die Omas gegen Rechts, bis hin zur Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Auch kirchliche, sportliche und kulturelle Vereine sind dabei.
Der ganzen Vielfalt zum Trotz vermisst man jedoch auf dieser Demo eine politische Perspektive. Auch die Vertreter von Gewerkschaften, Jusos, SPD, Grünen oder Linken, die mit oder ohne Fahne teilnehmen, haben nichts zu bieten, was über „Nazis raus“ hinausgehen würde. Es gibt auf der Demonstration praktisch keine Zeitungen oder politische Flyer.
Das ist kein Zufall. Diese Politiker könnten auf einer solchen Demonstration gar nicht offen über die Rolle ihrer eigenen Parteien sprechen. Tatsächlich sind ja SPD, Grüne, Linke und die DGB-Gewerkschaften aktiv an dem sozialen Kahlschlag, den Kriegsvorbereitungen und der Staatsaufrüstung beteiligt, die den AfD-Aufstieg erst möglich machen. Die Neonazi-Szene, aus der Lübckes Mörder stammt, ist von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt und wird von diesem gedeckt.
An diesem Samstag brüstet sich der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), er sei „sehr stolz auf seine Stadt“. Gewalt, Hass, Hetze und Terror hätten in Kassel keinen Platz. Wenige Stunden zuvor hatte Geselle zugestimmt, dass die Sicherheitskräfte diese Gelegenheit für eine gigantische Bürgerkriegsübung nutzen.
Seit den Morgenstunden riegelt die Polizei die Innenstadt weiträumig mit Patrouillen und Sperrgittern ab, und in den wenigen Zügen, die den Hauptbahnhof anfahren, werden die Passagiere polizeilich kontrolliert. In der Innenstadt verkehren keine Trams und Busse – bis auf zwei städtische Linienbusse, welche die Nazis vom Hauptbahnhof zu ihrem Versammlungsort bringen. In der Vorbereitung auf einen möglichen Wasserwerfer-Einsatz hat man die Oberleitungen in der City abgestellt. Permanent kreisen Helikopter über City und Fuldabrücke.
Die Neonazis bilden am Ende ein Häuflein von gerade mal gut hundert Personen, die etwa 45 Minuten durch die westliche Vorstadt marschieren. Grölend ziehen sie hinter dem vorbestraften Holocaustleugner Christian Worch her, beschützt von mehreren hundert martialisch bewaffneten Polizisten.
Offiziell sind an diesem Tag in Kassel „über 2000 Polizisten“ eingesetzt. Inoffiziell könnte auch diese Zahl deutlich höher sein. Ihr Einsatz richtet sich nicht gegen ein paar Dutzend tumbe Glatzen, sondern hier probt der Staat das Abriegeln einer ganzen Stadt und den Umgang mit sozialem Widerstand.