Am 19. August veröffentlichte die New York Times eine 100-seitige Sonderedition ihres Sonntagsmagazins mit dem Titel „The 1619 Project“ (dt. „Projekt 1619“). Indem sich die Autoren ausschließlich auf die Ideen der Rasse und des Rassenkonflikts stützen, wird eine einseitige und damit verzerrte Erzählung der amerikanischen Geschichte geschaffen. Anlass für die Publikation ist der 400. Jahrestag der erstmaligen Ankunft 20 afrikanischer Sklaven in Port Comfort (Virginia) an der Küste Nordamerikas, damals eine britische Kolonie. Es dauerte nur einen Tag, bis die Sklaven gegen Nahrungsmittel eingetauscht wurden.
Laut der New York Times ist die Intention hinter dem Projekt die „Neuausrichtung der Geschichte des Landes [der USA], um das Jahr 1619 als dessen eigentliches Gründungsjahr zu verstehen, und um die Konsequenzen aus der Sklaverei sowie die Verdienste der schwarzen Amerikaner in den Mittelpunkt der Narrative darüber zu stellen, wer wir sind.“
Allerdings dient der Vorwand des „Projekts 1619“, nämlich die Darlegung des vermeintlich „wahren“ Gründungsjahres der Vereinigten Staaten, lediglich als Grundlage für eine politisch motivierte Falschdarstellung der Geschichte. Es soll ein geschichtliches Narrativ für die Demokratische Partei geschaffen werden, um deren Bemühungen für den Aufbau eines identitätspolitischen Wahlbündnisses voranzutreiben. Neben Geschlechterfragen sollen also sexuelle Präferenzen und Volkszugehörigkeit eine entscheidende Rolle spielen – allem voran jedoch die Rassenfrage.
Die Times propagiert das Projekt mit einer finanziell mehr als großzügig angelegten Werbeaktion, die ihresgleichen sucht. In Zusammenarbeit mit dem Pulitzer Center on Crisis Reporting, einer unabhängigen US-amerikanischen Medienorganisation, wurden thematische Unterrichtsmaterialien für Schulen entwickelt. Hunderttausende zusätzliche Exemplare des Magazins und dessen Extrabeilage wurden zur landesweiten kostenlosen Verteilung an Schulen, Bibliotheken und Museen gedruckt. Initiatorin des „Projekt 1619“ ist die Times-Journalistin und Fellow der New America Foundation, Nikole Hannah-Jones. Sie verfasste die Einleitung, überwachte die Produktion des Magazins und wird landesweit Vorträge an Schulen dazu halten.
Die Essays des Magazins kreisen um die zentrale Prämisse, dass die gesamte amerikanische Geschichte im Rassenhass verwurzelt ist, ganz besonders dem unkontrollierten Hass der „Weißen“ auf „Schwarze“. Hannah-Jones schreibt dazu in der Einleitung: „Der Rassismus gegen Schwarze steckt in der DNA dieses Landes.“
Das ist eine falsche und überaus gefährliche Annahme. Die DNA ist ein biochemisches Molekül, das die genetische Kodierung lebender Organismen enthält und deren körperliche Merkmale und Entwicklung bestimmt. Die Übertragung eines derart zentralen Begriffs aus der Biologie auf die Geschichte eines Landes, und sei es im metaphorischen Sinne, führt zu einer falschen Geschichtsschreibung und reaktionären Politik. Staaten haben keine DNA, sie sind vielmehr durch historisch entwickelte ökonomische Strukturen, Klassengegensätze und komplexe politische Beziehungen geprägt. Diese Elemente existieren bis zu einem gewissen Grad nur in Abhängigkeit von einer bestimmten technologischen Entwicklungsstufe, sowie innerhalb eines mehr oder weniger entwickelten globalen Wirtschaftsnetzes.
Das „Projekt 1619” wird von einer idealistischen Methodik geleitet (d. h., das gesellschaftliche Sein leitet sich in diesem Fall nicht von den objektiven Umständen, sondern von Gedanken und Ideen ab) und ist, im wahrsten Sinne des Wortes, vollkommen irrational. Die gesamte Geschichte wird anhand eines über dem eigentlichen historischen Prozess stehenden, emotionalen Impulses erklärt. Sklaverei wird dabei nicht als spezielle, in den ökonomischen Verhältnissen verwurzelte Form der Ausbeutung der Arbeitskraft gesehen, sondern als Manifestation des Rassismus gegen Schwarze. Woher dieser Rassismus dann käme, fragt die Autorin Hannah-Jones. Ihre Antwort: Dieser stecke in der historischen DNA „weißer Amerikaner“, und bestehe daher unabhängig von politischen und ökonomischen Umständen fort.
Die Bezugnahme von Hannah-Jones auf Erbanlagen ist Teil einer wachsenden Tendenz, rassistische Konflikte aus angeborenen biologischen Prozessen abzuleiten. Die Abgeordnete der Demokraten Stacey Abrams behauptete kürzlich in einem Aufsatz in der Zeitschrift Foreign Affairs, dass weiße und schwarze Amerikaner durch einen „intrinsischen Unterschied“ getrennt wären.
Eine derartige Aussage ist irrational und ist aus wissenschaftlicher Perspektive vollkommen absurd. Sie dient ausschließlich zur Legitimation der reaktionären und sich in der Tradition des Faschismus bewegenden Annahme, dass Schwarze und Weiße einander feindselig gegenüberstehende, inkompatible Spezies wären.
In der aktuellen Ausgabe der Foreign Affairs argumentiert der Neurologe Robert Sapolsky, dass der Antagonismus zwischen Menschengruppen in deren Biologie verwurzelt wäre. Er leitet seine Annahmen aus blutigen Territorialkämpfen von Schimpansen ab, mit denen der Mensch „mehr als 98 % seiner DNA teilt“. Sapolsky behauptet, dass die „Dynamik der Identität innerhalb von Menschengruppen, darunter auch das Wiederaufleben von Nationalismus – möglicherweise eine der destruktivsten Formen des ‚in-group bias’ [Bevorzugung jener Gruppe, der man sich zugehörig fühlt] –, nur zu verstehen ist, wenn man die biologischen und kognitiven Annahmen, denen sie zugrunde liegen, begreift.“
Sapolskys plumper Versuch, die Geschichtsschreibung in der Biologie aufzulösen, ist mehr als eine reaktionäre Wiederbelebung des „Sozialdarwinismus“, der seinerseits dazu diente, die imperialistischen Eroberungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu legitimieren. Er tritt damit zugleich in die Tradition deutscher Genforscher, die auf dieselbe pseudowissenschaftliche Weise den Antisemitismus und Rassismus der Nationalsozialisten rechtfertigten.
In den Kreisen der bürgerlichen Wissenschaft haben gefährliche reaktionäre Ideen Einzug gehalten. Sicherlich würden die Autoren des „Projekt 1619“ mit Vehemenz leugnen, dass sie einen Rassenkrieg heraufbeschwören oder sogar den Faschismus rechtfertigen. Doch haben Ideen ihre eigene Logik, und ihre Urheber tragen die Verantwortung für politische Schlussfolgerungen und Konsequenzen aus ihren falschen und irreführenden Annahmen.
Die Geschichte der amerikanischen Sklaverei ist ein Thema von anhaltender historischer und politischer Bedeutung. Die Ereignisse von 1619 sind Teil dieser Geschichte. Jedoch muss das, was in Port Comfort stattfand, als eine Episode der globalen Geschichte der Sklaverei verstanden werden. Diese datiert zurück bis zur Antike und den Ursprüngen des kapitalistischen Systems. Es gibt unzählige Werke, die sich mit der auch außerhalb des amerikanischen Doppelkontinents weitverbreiteten Sklaverei beschäftigen. So hat Professor G. Ogo Nwokeji vom Department für Afrikanisch-Amerikanische Studien der Universität von Kalifornien aufgezeigt, dass afrikanische Gesellschaften ebenfalls Sklaverei betrieben. Sklaverei existierte in Westafrika „bereits weit vor dem 15. Jahrhundert, als die Europäer den Kontinent über den Atlantischen Ozean erreichten“. [1]
Der Historiker Rudolph T. Ware III von der Universität Michigan schreibt: „Zwischen dem Beginn des 15. Jahrhunderts und dem Ende des 18. Jahrhunderts lebten und starben Millionen von Menschen als Sklaven afrikanisch-muslimischer Gesellschaften.“ [2] Eines der bedeutendsten wissenschaftlichen Werke ist das Buch „Transformations in Slavery: A History of Slavery in Africa“ (dt. Sklaverei im Wandel: Eine Geschichte der Sklaverei in Afrika) des kanadischen Historikers Paul E. Lovejoy aus dem Jahr 1983. Darin heißt es:
Die Sklaverei war stets ein bedeutender Gegenstand der Geschichtsschreibung. Sie war weit verbreitet, beginnend in der klassischen Antike bis in die heutige Zeit. Afrika ist mit dieser Geschichte eng verbunden; sowohl als Ursprungsort von Sklaven der antiken griechischen Zivilisation, der islamischen Welt, Indiens sowie des amerikanischen Doppelkontinents, aber auch selbst als Ort, an dem die Sklaverei weit verbreitet war. Tatsächlich bestand die Sklaverei in Afrika noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein – deutlich länger also als auf dem amerikanischen Kontinent. Eine derart lange Geschichte mit solcher Beständigkeit bedarf einer Erklärung, um zum einen die historische Entwicklung der Sklaverei in Afrika zu verstehen und zum anderen, um in der Relation dazu die Bedeutung von Sklavenhandel zu bewerten. Grundsätzlich gesprochen lässt sich die Sklaverei in drei zeitliche Abschnitte einteilen: von 1350 bis 1600, von 1600 bis 1800 sowie von 1800 bis 1900. Innerhalb dieser Zeiträume erreichte die Sklaverei eine fundamentale Bedeutung für die politisch-ökonomische Struktur in Afrika. [3]
Im Vorwort zur dritten Auflage seines Werkes, das bereits als Klassiker auf seinem Gebiet gilt, gibt Professor Lovejoy als eines seiner Forschungsziele an, dass er die „Realität damit konfrontieren“ wollte, „dass die Sklaverei bereits Teil der afrikanischen Geschichte war, als einige romantisch-verklärte Visionäre und hoffungsvolle Nationalisten noch versuchten, offensichtliche Fakten zu vertuschen.“ [4]
In Anbetracht der Entwicklungen in der Neuen Welt kann das Phänomen der Sklaverei in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung nur im Zusammenhang mit der Entstehung des Kapitalismus im 16. und 17. Jahrhundert verstanden werden. Karl Marx erklärte dazu im Kapitel „Genesis des industriellen Kapitalisten“ im ersten Teil von Das Kapital:
Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. Er wird eröffnet durch den Abfall der Niederlande von Spanien, nimmt Riesenumfang an in Englands Antijakobinerkrieg, spielt noch fort in den Opiumkriegen gegen China usw.
Die Analysen von Marx inspirierten auch den herausragenden trinidadischen Historiker Eric Williams. Er schrieb dazu in seiner 1944 veröffentlichten wegweisenden Studie „Capitalism and Slavery“ (dt. Kapitalismus und Sklaverei):
Die Geschichte der Sklaverei in der Karibik wurde bisher zu wenig mit den Schwarzen in Zusammenhang gebracht. Was eigentlich ein ökonomisches Phänomen ist, wurde mit einer rassistischen Wendung versehen. Die Sklaverei ist kein Produkt von Rassismus, sondern Rassismus vielmehr eine Konsequenz der Sklaverei. Die Zwangsarbeit in der Neuen Welt war braun, weiß, schwarz und gelb, aber auch katholisch, protestantisch und heidnisch.
Die Entstehung und Entwicklung der Sklaverei in den USA kann nicht losgelöst von jenen internationalen ökonomischen und politischen Prozessen verstanden werden, die dem Aufstieg des Kapitalismus und der Neuen Welt zugrunde liegen. Die Sklaverei war ein weltweit verbreitetes, wirtschaftliches Phänomen, das sich vom Herzen Afrikas aus in die Häfen Großbritanniens, die Bankhäuser von Amsterdam, bis in die Plantagen von South Carolina, Brasilien und der Karibik erstreckte. Jede Kolonialmacht war in die Sklaverei verstrickt; angefangen bei den Niederländern, die in ihren Posten in Westafrika Sklavenhandel betrieben, bis zu den Portugiesen, die Millionen von Sklaven nach Brasilien brachten. Schätzungsweise wurden 15 bis 20 Millionen afrikanische Sklaven während der Periode des transatlantischen Sklavenhandels zur Überfahrt auf den amerikanischen Kontinent gezwungen. Davon landeten 400.000 Sklaven in den dreizehn britischen Kolonien, die später die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten.
Die Sklaverei war das unvermeidliche und tragische Vermächtnis der globalen Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten. Die Gegensätzlichkeit der durch die Anführer der Amerikanischen Revolution ausgerufenen Ideale – verkündet durch die vorrangig von Thomas Jefferson verfasste Unabhängigkeitserklärung –, und die gleichzeitige Gegenwärtigkeit von Sklaverei in den damals neu gegründeten Vereinigten Staaten ist unübersehbar.
Allerdings ist die Geschichte kein moralisches Lehrstück. Die Versuche, die Amerikanische Revolution zu diskreditieren, indem Jefferson und den anderen Gründungsvätern der USA Scheinheiligkeit unterstellt wird, tragen nichts zum Verständnis der Geschichte bei. Die Amerikanische Revolution kann nicht als die Summe der subjektiven Intentionen und moralischen Beschränktheit jener verstanden werden, die sie anführten. Die welthistorische Bedeutung der Revolution kann nur durch das Studium ihrer objektiven Gründe und Konsequenzen erfasst werden.
Die Analysen des Historikers Eric Williams widerlegen die niederträchtigen Bestrebungen der Autoren des „Projekt 1619“, die Amerikanische Revolution als teuflischen Versuch zur Aufrechterhaltung der Sklaverei darzustellen. Neben der massiven politischen Wirkung der Unabhängigkeitserklärung und dem folgenden Sturz der britischen Herrschaft betont Williams den objektiven Einfluss der Revolution auf die ökonomische Rentabilität der Sklaverei. Er schreibt dazu:
Wenn Jefferson schreibt, dass „es im Gange menschlicher Ereignisse für ein Volk notwendig wird, die politischen Bande zu lösen, die es mit einem anderen Volk verbunden haben…“, ist das lediglich die halbe Wahrheit. Es waren wirtschaftliche, nicht politische Bande, die aufgelöst wurden. Ein neues Zeitalter hatte begonnen. Im Jahr 1776 wurde die Unabhängigkeitserklärung verkündet und das Werk „The Wealth of Nations“ [dt. Der Wohlstand der Nationen, von Adam Smith] veröffentlicht. Doch statt die wirtschaftliche Bedeutung der sugar islands in der Karibik [Inseln, auf denen Sklaven im Zuckeranbau arbeiteten] zu betonen, markierte die amerikanische Unabhängigkeit deren weiteren Untergang; es war damals eine gängige Redensart zu sagen, dass das britische [Wirtschafts]ministerium nicht nur dreizehn Kolonien verloren hat, sondern gleichermaßen acht Inseln.“
Es war kein Zufall, dass dem siegreichen Ausgang des Revolutionskrieges 1783 nur vier Jahre später die bekannte Aufforderung des englischen Abolitionisten William Wilberforce folgte, den britischen Sklavenhandel einzustellen.
Im Hinblick auf die Ankündigung der Briten, den Sklavenhandel einzustellen, brachte Williams ein bedeutendes Argument an, das als Anklage gegen die subjektive und unwissenschaftliche Herangehensweise der Autoren des „Projekt 1619“ dient. Er schrieb:
Die entscheidenden Kräfte in der besprochenen geschichtlichen Periode [der Sklaverei] sind ökonomischer Natur. Die wirtschaftlichen Veränderungen mögen schrittweise und kaum merklich gewesen sein, dennoch hatten sie einen ungeheuren kumulativen Effekt. Menschen, die ihren Interessen nachgehen, sind sich in den seltensten Fällen über die letztendlichen Folgen ihres Handelns bewusst. Der gewerbliche Kapitalismus des 18. Jahrhunderts bestimmte den Wohlstand Europas durch Sklaverei und monopolistische Strukturen. Das wiederum schuf die Grundlage für die Entwicklung des industriellen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Dieser kehrte die Macht des gewerblichen Kapitalismus, der Sklaverei und all ihrer Errungenschaften um, und zerstörte sie schlussendlich. Die Geschichte dieser Epoche ist, sofern diese wirtschaftlichen Veränderungen nicht verstanden werden, bedeutungslos.
Der Sieg der Amerikanischen Revolution und die Gründung der Vereinigten Staaten konnten das Problem der Sklaverei jedoch nicht lösen. Die ökonomischen und politischen Bedingungen für ihre Abschaffung waren noch nicht genügend ausgereift. Allerdings verstärkten sich durch die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der USA die Gegensätze zwischen zwei zunehmend inkompatiblen ökonomischen Systemen: das gleichzeitige Aufkommen der Industrie im Norden und das unablässige Wachstum der Baumwollplantagen im Süden des Landes (als Konsequenz auf die Erfindung der Baumwollentkörnungsmaschine). Während das eine System auf Lohnarbeit beruhte, basierte das andere auf Sklaverei.
In den siebzig Jahren von der Annahme der Verfassung und der Wahl George Washingtons im Jahr 1789 bis zur Amtseinführung von Abraham Lincoln und dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 schleppten sich die Vereinigten Staaten von Krise zu Krise. Keiner der vorübergehenden Kompromisse (z. B. der Missouri-Kompromiss von 1820 oder das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854) führte zu einem Ausgleich zwischen Sklaven- und freien Staaten, geschweige denn zu einer Einigung in dieser Streitfrage.
Man sollte sich den zeitlichen Rahmen vergegenwärtigen: Lincoln bezog sich in seiner Gettysburg-Rede 1863 auf die zurückliegenden 87 Jahre, also auf eine Zeitspanne, die für uns von 2019 aus gesehen bis zur Wahl Franklin Delano Roosevelt zum US-Präsidenten 1932 zurückreichen würde. Die sozio-ökonomischen Entwicklungen, mit denen die Grundlagen für die endgültige Abschaffung der Sklaverei als Wirtschaftssystem geschaffen wurden, vollzogen sich in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit.
Die Gründung der Vereinigten Staaten löste eine Krise aus, die in den Bürgerkrieg, d. h. in die zweite Amerikanische Revolution mündete. Darin opferten Hunderttausende weiße Amerikaner ihr Leben, um die Sklaverei endgültig zu beseitigen. Dies war durchaus kein zufälliges oder gar unbeabsichtigtes Ergebnis des Bürgerkrieges. Der Krieg endete mit einer der weltgeschichtlich größten Zwangsenteignungen von Privateigentum. Bis zur Russischen Revolution 1917, in der erstmals in der Weltgeschichte die Arbeiterklasse unter der Führung der Bolschewiki der herrschenden Klasse die Staatsmacht entriss, sollte es keine Enteignung ähnlichen Ausmaßes mehr geben.
Im Gegensatz zu den befreiten Sklaven in den 1860er Jahren sieht die Initiatorin des „Projekt 1619“, Nikole Hannah-Jones, in Lincoln nicht den „großen Befreier“. Für sie ist er ein gewöhnlicher Rassist, der angeblich die „schwarze Bevölkerung als Hindernis für die nationale Einheit“ empfand. Die Autorin setzt sich mit dieser Einschätzung nicht nur über Lincolns eigene Aussagen hinweg, beispielsweise in seiner Gettysburg-Rede oder seiner berühmten zweite Amtsantrittsrede. Sie ignoriert auch die Werke zahlreicher Historiker wie Eric Foner, James McPherson, Allen Guelzo, David Donald, Ronald C. White, Stephen Oates, Richard Carwardine und vielen anderen. Sie alle haben nachgewiesen, dass Lincoln sich als Führer der Revolution voll und ganz der Abschaffung der Sklaverei verschrieben hatte.
Ein ehrliches Bild von Präsident Lincoln würde der Behauptung von Hannah-Jones widersprechen, dass „Afro-Amerikaner (…) sich allein zur Wehr gesetzt [haben], um Amerika in eine Demokratie zu verwandeln“. Ebenso würde sich ihre Argumentation in Luft auflösen, wenn die New York Times in ihrer Serie auch nur ein einziges Mal die rund 2,2 Millionen Soldaten der Unionsstaaten erwähnt hätte, von denen 365.000 für das Ende der Sklaverei in den Tod gingen.
Außerdem blendet die Autorin aus, dass in der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei Weiße und Schwarze gemeinsam kämpften. Namen wie William Lloyd Garrison, Wendell Phillips, Elijah Lovejoy, John Brown, Thaddeus Stevens und Harriet Beecher Stowe bleiben, wie viele weitere, in ihrem Essay unerwähnt. Lediglich einige Zitate ausgewählter Abolitionisten, welche die Verfassung kritisierten, werden angeführt. Nikole Hannah-Jones wagt es hingegen nicht, zu erwähnen, dass Jeffersons Unabhängigkeitserklärung – in den Worten des Historikers David Brion Davis – der „Maßstab, um nicht zu sagen die Heilige Schrift“ der Abolitionisten war.
Die Behauptung von Hannah-Jones und den anderen Projekt-1619-Unterstützern, dass die Sklaverei die „Ursünde“ der Vereinigten Staaten sei, sowie deren Diskreditierung der Amerikanischen Revolution und des Bürgerkriegs als raffinierte Verschwörungen zur Aufrechterhaltung des Rassismus, sind für die Geschichtsschreibung ohne Wert. Nichts hätte sich jemals geändert. Die Sklaverei wurde nur ersetzt durch die Jim-Crow-Gesetze (welche die Rassentrennung in den Südstaaten zementierten) und diese wiederum bereiteten den Weg zum immerwährenden Zustand des Rassismus, der dem „weißen Amerikaner“ vom Schicksal zugedacht war. All das wird auf das Jahr 1619 zurückgeführt, das die „Wurzel endemischen Rassismus ist, von der wir diese Nation bis heute nicht befreien konnten“. [5] (Hervorhebung hinzugefügt)
Es geht hier nicht um ein simples „Umdeuten“ der Geschichte, sondern um einen Angriff und eine Fälschung, die mehr als ein halbes Jahrhundert wissenschaftlicher Forschung mit Füßen tritt. Es gibt nicht die leisesten Anzeichen, dass Nikole Hannah-Jones oder einer ihrer Co-Autoren jemals von den Werken zur Sklaverei von Williams, Davis oder Peter Kolchin gehört, geschweige denn diese gelesen haben. Gleiches gilt für die Bücher zur Amerikanischen Revolution von Bernard Bailyn und Gordon Wood, oder James McPhersons Arbeit über die politischen Einstellungen der Soldaten der Unionsarmee. Ebenfalls erwähnt seien an dieser Stelle die Werke zur Reconstruction [Phase der Wiedereingliederung der aus der Union ausgetretenen Südstaaten] von Eric Foner, zu den Jim-Crow-Gesetzen von C. Vann Woodward und zur Great Migration [Wanderungsbewegung von etwa 6 Millionen Afro-Amerikanern sowie Weißen aus den Südstaaten der USA in die Industriestädte des Nordens zwischen 1916 und 1970] von James N. Gregory oder Joe William Trotter.
Selbst aus dem Blickwinkel afro-amerikanischer Forschung lassen einem die riesigen Lücken in der rassistisch-moralisierenden Geschichtsschreibung der Times den Atem stocken. Statt einer präzisen Untersuchung der ökonomischen, politischen und sozialen Aspekte der amerikanischen Geschichte wird der weiße Rassismus beschworen.
Der historische Kontext, innerhalb dessen sich die afro-amerikanische Bevölkerung in der Zeit nach dem Bürgerkrieg entwickelte, wird ausgeblendet. Ebenso fehlt jede Bezugnahme auf die Verwandlung der Vereinigten Staaten in einen industriellen Koloss und die mächtigste Imperialmacht in der Zeit zwischen 1865 und 1917 – dem Jahr, in dem die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten.
Die Ausbeutung der Sklaven dient dem Projekt 1619 und dessen gutbetuchten Autoren als Zauberstab zur Erklärung der gesamten Geschichte; die Ausbeutung der Lohnarbeit hingegen übergehen sie mit ohrenbetäubendem Schweigen.
Der Leser des „Projekts 1619” erfährt nicht, dass der Kampf gegen die Sklavenarbeit dem Kampf gegen Lohnsklaverei den Weg geebnet hat, in dem unzählige Arbeiter ihr Leben ließen. Kein Wort über den großen Eisenbahnerstreik von 1877, der sich wie ein Lauffeuer entlang der Eisenbahnstrecken von Baltimore an der Ostküste bis nach St. Louis im Mittleren Westen der USA ausbreitete und nur durch Bundestruppen eingedämmt werden konnte. Auch die folgenden großen Kämpfe der amerikanischen Arbeiter finden keine Erwähnung: die Entstehung der Knights of Labour (dt. Ritter der Arbeit), eine wichtige Arbeiterorganisation im 19. Jahrhundert; das Massaker am Haymarket in Chicago, das den 1. Mai zum internationalen Kampftag der Arbeiterklasse werden ließ; der Homestead-Steel-Streik 1892; der Streik der Pullman-Arbeiter in der Eisenbahnwagenfertigung von 1894; die Gründung der American Federation of Labour (AFL), einer der ersten Facharbeitergewerkschaftsverbände in den USA; die Gründung der Sozialistischen Partei; die Gründung der Industrial Workers of the World, das Ludlow-Massaker (ein blutiger Angriff der Nationalgarde auf streikende Bergarbeiter in Ludlow im US-Bundesstaat Colorado 1914); der große Stahlstreik von 1919 sowie weitere, unzählige Arbeitskämpfe nach dem Ersten Weltkrieg und schlussendlich die Entstehung des Congress of Industrial Organizations (kurz CIO, ein US-amerikanischer Gewerkschaftsbund, der überwiegend ungelernte Industriearbeiter organisierte) sowie die massiven Kämpfe der Industriearbeiter in den 1930er Jahren.
Um es auf den Punkt zu bringen: Laut den Autoren gibt es keinen Klassenkampf und damit auch keine Geschichte der afro-amerikanischen Bevölkerung, die sie zu einem wichtigen Teil der Arbeiterklasse werden ließ. Indem das „Projekt 1619” den objektiven Verlauf der Geschichte durch ein mystisch-rassistisches Narrativ ersetzt, ignoriert es die tatsächliche soziale Entwicklung der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung in den letzten 150 Jahren.
An keiner Stelle erwähnen die Autoren die Great Migration zwischen 1916 und 1970, in der Millionen von sowohl Afro-Amerikanern als auch Weißen den Süden der USA verließen, um in den städtischen Gebieten, besonders im industrialisierten Norden, Arbeit zu finden. James P. Cannon, der Begründer des amerikanischen Trotzkismus, gab die revolutionären Implikationen dieses Prozesses für die amerikanischen Arbeiter in seiner einzigartigen Prosa wieder:
Der amerikanische Kapitalismus zwang hunderttausende Schwarze, den Süden zu verlassen. Er beutete ihre Unwissenheit, Armut, Ängste und Hilflosigkeit aus, und zwang sie in die Stahlfabriken, wo sie im Streik von 1919 zu Streikbrechern wurden. Doch innerhalb von nur einer Generation verwandelte der gleiche Kapitalismus diese unschuldigen und unwissenden Streikbrecher und ihre Söhne durch Misshandlung, Missbrauch und Ausnutzung in das militanteste und verlässlichste Kommando der siegreichen Kämpfe der Stahlarbeiter von 1946.
Es war derselbe Kapitalismus, der unzählige, voreingenommene Hinterwäldler aus dem Süden, viele davon Mitglieder und Sympathisanten des Ku-Klux-Klans, mit all ihrer Unwissenheit und Vorurteilen als Werkzeug gegen die Einheit der Arbeiter ausnutzte und sie in die Gummifabriken Detroits, Akrons und anderer Industriezentren steckte. Dort wurden sie geschunden, erniedrigt und ausgebeutet, bis sie eine Veränderung in sich wahrnahmen und zu neuen Männern wurden. Diese harte Schule lehrte die Arbeiter aus dem Süden, das Abzeichen des Ku-Klux-Klans gegen die Gewerkschafts-Anstecker der CIO zu tauschen, und das brennende Kreuz der Klans-Männer für ein Lagerfeuer zu nutzen, das die Streikposten am Fabrikeingang wärmt. [6]
Um das Jahr 1910 lebten nahezu 90 Prozent der Afro-Amerikaner in ehemaligen Sklavenstaaten, die allermeisten in abgelegenen ländlichen Gebieten. Mit den 1970er Jahre schließlich waren sie urbanisiert und Teil des Proletariats. Schwarze Arbeiter hatten die großen Industriestreiks in Städten wie Detroit, Pittsburgh und Chicago gemeinsam mit weißen Arbeitern ausgefochten. Es ist kein Zufall, dass die Bürgerrechtsbewegung im tiefen Süden der USA in Birmingham, im US-Bundesstaat Alabama aufflammte. Dort befand sich ein Zentrum der Stahlindustrie, wo kommunistische Arbeiter – egal welcher Hautfarbe – gemeinsam in Aktion traten.
Der Kampf der Lohnarbeit gegen das Kapital vereinigte Arbeiter aller Hautfarben. In der aufgeheizten Stimmung der Jim-Crow-Gesetze wurde die Bürgerrechtsbewegung mit dem Kommunismus und der Angst vor „Rassenvermischung“ gleichgesetzt. Oder anders ausgedrückt: Die bürgerliche Klasse fürchtete sich vor den Arbeitermassen, seien sie schwarz oder weiß, die sich auf Basis ihrer gemeinsamen Interessen vereinigen könnten.
Da das „Projekt 1619“ die Geschichte der Arbeiterklasse vollständig ignoriert, scheitert es in seinem Vorhaben, einen Beitrag zur Geschichtsschreibung zu leisten. Es beleuchtet nicht, wie die Demokratische Partei (entstanden aus einer Allianz von Industriellen aus den Nordstaaten und korrupten Funktionären) und die Sklavenhalter im Süden sowie anschließend die Jim-Crow-Befürworter Rassenhass schürten, um weiße und schwarze Arbeiter bewusst gegeneinander auszuspielen.
In den zahlreichen Artikel des „Projekt 1619“ taucht der Name Martin Luther King Jr. nur ein einziges Mal auf, und das lediglich in einer Bildunterschrift. Kings politische Zielsetzung steht in diametralem Gegensatz zum rassistischen Narrativ der New York Times. Er verurteilte weder die Amerikanische Revolution noch den Bürgerkrieg. Martin Luther King Jr. ging nicht davon aus, dass Rassismus eine immerwährende Charaktereigenschaft der Weißen wäre. Er sprach sich für den Zusammenschluss der Bevölkerung mit dem Ziel aus, die Idee der Rasse vollständig aufzuheben. Das FBI bezeichnete King deshalb als „Kommunisten“. Nach dem Start seines Projekts „Poor People’s Campaign“ (im Deutschen bekannt als der Marsch auf Washington im Jahr 1968), das Weiße und Schwarze vereinte, und seiner öffentlichen Stellungnahme gegen den Vietnamkrieg wurde er ermordet.
Martin Luther King Jr. unterstützte das Engagement weißer Bürgerrechtsaktivisten, die zum Teil in den Südstaaten ihr Leben verloren. Eine von ihnen war Viola Liuzzo aus Detroit, die Frau eines führenden Mitglieds der Teamster-Gewerkschaft. In seiner Ansprache nach dem Mord an drei Bürgerrechtsaktivisten, Michael Schwerner, James Chaney and Andrew Goodman (zwei davon waren weiß), brachte King seine tiefe Verachtung für Rassismus und Rassentrennung leidenschaftlich zum Ausdruck. Diese Tatsache passt ganz offensichtlich nicht in das Narrativ von Nikole Hannah-Jones.
Am bezeichnendsten ist jedoch, dass das „Projekt 1619” nichts zu jenem Ereignis sagt, das den größten Einfluss auf die sozialen Bedingungen der Afro-Amerikaner hatte – die Russische Revolution im Jahr 1917. Sie hat nicht nur breite Schichten der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung begeistert – darunter unzählige schwarze Intellektuelle, Literaten und Künstler wie W.E.B. Du Bois, Claude McKay, Langston Hughes, Ralph Ellison, Richard Wright, Paul Robeson und Lorraine Hansberry –, die Revolution untergrub auch die politischen Grundlagen der amerikanischen Rassentrennung.
Angesichts des schwarzen Nationalismus, der mit dem „Projekt 1619“ begründet werden soll, erscheint es zunächst überraschend, dass an keiner Stelle Malcom X oder die Black Panthers erwähnt werden. Der Grund liegt darin, dass Hannah-Jones im Gegensatz zu diesen schwarzen Nationalisten der 1960er Jahre keineswegs den amerikanischen Imperialismus anprangert. Sie brüstet sich vielmehr damit, dass „wir [sprich, die Afro-Amerikaner] von allen ethnischen Gruppen diejenige [sind], die mit der größten Wahrscheinlichkeit im US-Militär dient“. Und weiter: „Wir haben in jedem Krieg, den diese Nation geführt hat, gekämpft.“
Hannah-Jones trifft diese Feststellungen ohne den Hauch einer Kritik. Sie verurteilt keineswegs die Schaffung einer „Freiwilligenarmee“ aus Jugendlichen, die vorwiegend aus verarmten Minderheiten stammen. Nichts deutet darauf hin, dass Hannah-Jones den „Krieg gegen den Terror“ und die damit einhergehenden brutalen Interventionen im Irak, in Libyen, dem Jemen, Somalia und Syrien ablehnt, die mehr als 20 Millionen Menschen getötet oder heimatlos gemacht haben.
Schließlich wurden diese Kriege auch allesamt von der New York Times unterstützt. Die Leiterin des „Projekt 1619“ offenbart sich in dieser Hinsicht als erstaunlich „farbenblind“. Sie ist sich entweder nicht im Klaren darüber, oder es ist ihr schlicht egal, dass Millionen „Farbige“ in diesen Kriegen im Nahen Osten, Zentralasien und Afrika von der US-Kriegsmaschinerie abgeschlachtet oder zu Flüchtlingen gemacht wurden.
Die vergiftete Identitätspolitik, die dieser Gleichgültigkeit zugrunde liegt, entspricht nicht den Interessen der Arbeiterklasse, sei es in den USA oder anderswo. Die Arbeiterklasse kann nur überleben, wenn sie sich weltweit unabhängig von Herkunft und Hautfarbe zusammenschließt. Die Identitätspolitik dient lediglich den Interessen der privilegierten oberen amerikanischen Mittelschicht.
In einer aufschlussreichen Passage gegen Ende ihres Essays bemerkt Hannah-Jones, dass schwarze Amerikaner seit den 1960er Jahren bedeutende Fortschritte gemacht hätten, „nicht nur für uns, sondern für alle Amerikaner“. Hier bezieht sie sich allerdings nicht auf alle Menschen dunkler Hautfarbe, sondern auf eine kleine afro-amerikanische Elite. Diese ist der Nutznießer der sogenannten Minderheitenförderung, die ihre Blütezeit in den Jahren um die Regierungszeit Barack Obamas, des ersten schwarzen Präsidenten der USA, erlebte.
In einer Analyse aus dem Jahr 2017 wurden die extremen Vermögensunterschiede innerhalb ethnischer Gruppen aufgezeigt. Unter denjenigen, die sich als Afro-Amerikaner bezeichnen, kontrollieren die reichsten 10 Prozent ca. 75 Prozent des Gesamtvermögens. Während der Obama-Administration konnte das reichste 1 Prozent aller Afro-Amerikaner seinen Anteil am Gesamtvermögen dieser Gruppe von 19,4 Prozent auf 40,5 Prozent vergrößern. Gleichzeitig wird geschätzt, dass die untere Hälfte der afro-amerikanischen Haushalte über gar kein Vermögen verfügt oder verschuldet ist.
In der Zeit nach den Massenunruhen der 1960er und 1970er Jahre ist also eine kleine Schicht schwarzer Millionäre und Milliardäre entstanden, während die Lage der afro-amerikanischen Arbeiterklasse heute schlechter ist als noch vor 40 Jahren. In die Zeit seither fällt die Deindustrialisierung, bei der überall in den USA Automobil-, Stahl- und weitere Fabriken geschlossen wurden. Dies wiederum erklärt die verheerenden Zustände in Arbeiterstädten wie Detroit, Milwaukee oder Youngstown im US-Bundestaat Ohio.
Sämtliche sozialen Errungenschaften der Arbeiter aus dem 20. Jahrhundert wurden rückgängig gemacht. Dabei wurden enorme Vermögensanteile der unteren 90 Prozent der Bevölkerung an die obersten 10 Prozent umverteilt. Arbeiter aller ethnischen und nationalen Herkunft leiden zunehmend unter Armut, sinkender Lebenserwartung, Drogensucht oder anderen sozialen Missständen.
Es ist kein Zufall, dass die New York Times, das Sprachrohr der Demokratischen Partei und der privilegierten oberen Mittelschicht, in Zeiten des zunehmenden Klassenkampfes ein rassistisches Narrativ propagiert.
Zu Beginn des Jahres riefen die Arbeiter der Montagefabriken in Matamoros, Mexiko, ihre amerikanischen Kollegen – egal welcher Hautfarbe – dazu auf, sich ihrer illegalen Arbeitsniederlegung anzuschließen. Schwarze, weiße und hispanische Arbeiter bestreikten im gesamten Süden der USA den Telekommunikationsgiganten AT&T. Im US-Bundesstaat Tennessee verhinderten schwarze und weiße Nachbarn gemeinsam die Abschiebung einer Immigrantenfamilie aus der Arbeiterklasse. Derzeit kämpfen Arbeiter sämtlicher Ethnien gegen die globalen Giganten der Autoindustrie und die korrupten Gewerkschaften.
Gleichzeitig offenbaren Umfragen eine wachsende Zustimmung zum Sozialismus, d. h. der bewussten Einheit der Arbeiterklasse über sämtliche Grenzen und Spaltungsversuche hinweg. Angesichts dieser Entwicklungen fürchtet die amerikanische Elite – Demokraten wie Republikaner – eine soziale Revolution. Um dem entgegenzutreten, rückt die herrschende Klasse weltweit zusammen und propagiert eine sektiererische Politik in Form von Rasse, Religion, Nationalität, Ethnie oder Sprache.
Das „Projekt 1619“ ist Bestandteil der gezielten Bestrebungen, die Rassenpolitik in den Mittelpunkt der US-Wahlen im Jahr 2020 zu stellen. Die US-Demokraten versprechen sich einen Vorteil davon, den Schwerpunkt ihrer Wahlkampagne von der militaristischen Anti-Russland-Kampagne auf eine nicht weniger reaktionäre Rassenpolitik zu verlagern.
Dies machte der Chefredakteur der Times, Dean Baquet, in einer auf Video aufgezeichneten Mitarbeiterversammlung im August deutlich. Dort kündigte er eine Änderung der Stoßrichtung der Zeitung an: von der Beschäftigung mit der Frage, ob Trump bei seinem Wahlkampf mit Russland konspirierte und die Justiz behinderte, hin zu direkteren Angriffen auf die Persönlichkeit des Präsidenten. Demzufolge sind die Reporter angewiesen, „tiefgehender über das Land, Rasse und andere Trennlinien zu schreiben“.
Baquet wörtlich:
Rasse und das Verständnis von Rasse sollten ein Bestandteil dessen sein, wie wir die amerikanische Realität einfangen… Ein Grund, warum wir uns für das „Projekt 1619“ entschieden haben und dieses so ambitioniert und umfassend angegangen sind, besteht darin, das Denken unserer Leser etwas mehr in diese Richtung zu lenken. Im nächsten Jahr wird das Thema Rasse – und ich hoffe ehrlich gesagt, dass ihr das aus der heutigen Diskussion mitnehmt – nächstes Jahr wird das Thema Rasse einen Großteil unserer Berichterstattung über die amerikanische Realität ausmachen.
Dieser Fokus ist das Spiegelbild von Trumps rassistischer Politik und erinnert in verstörender Weise an das rassistische Gedankengut der Nazis. Welche zentrale Rolle der Rassengedanke in der Politik des Faschismus einnimmt, erklärte Trotzki präzise in seiner Analyse des deutschen Faschismus:
Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Ausfluss der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert. Das niedrige „ökonomische Denken“ ablehnend, steigt der Nationalsozialismus ein Stockwerk tiefer: Gegen den wirtschaftlichen Materialismus beruft er sich auf den zoologischen. [7]
Viele Wissenschaftler, Studenten und Arbeiter wissen, dass das „Projekt 1619“ ein Hohn auf wirkliche Geschichtsschreibung ist. Sie haben die Pflicht, sich gegen den koordinierten, von der New York Times angeführten Versuch zu stellen, eine reaktionäre und rassenbasierte Fälschung der amerikanischen und internationalen Geschichte zu etablieren.
Besonders die Arbeiterklasse muss jedem Spaltungsversuch entgegentreten. Je weiter der Klassenkampf voranschreitet, desto bösartiger und schädlicher werden diese Versuche werden. Die vorrangige Aufgabe unserer Epoche besteht darin, den Kampf der international geeinten Arbeiterklasse gegen sämtliche Formen von Rassismus, Nationalismus und der damit verwandten Identitätspolitik zu führen.
In den nächsten Wochen und Monaten wird die World Socialist Web Site von den Vorträgen berichten, welche die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) in den USA organisiert, um zu enthüllen, was der eigentliche Zweck des „Projekt 1619“ ist: das Vorantreiben einer reaktionären, gegen die Arbeiterklasse gerichteten Politik sowie die Verbreitung einer falschen Geschichtsauffassung.
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Anmerkungen:
[1] The Cambridge World History of Slavery, Band 3, AD 1420-AD1804, herausgegeben von David Eltis und Stanley L. Engerman, [Cambridge: 2011], S. 81
[2] Ebd., S. 47
[3] Paul E. Lovejoy, Transformations in Slavery (Cambridge: 2012), S. 1
[4] Ebd., Punkt 489
[5] The New York Times Magazine, 18. August 2019, S. 19.
[6] James P. Cannon, „The Coming American Revolution“, Rede auf dem 12. Nationalen Parteitag der Socialist Workers Party, 1946.
[7] Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 304.