Der mutmaßliche Mörder des CDU-Politikers Walter Lübcke, Stephan Ernst, hat am Mittwoch in einer neuen Aussage seinen Bekannten Markus H. der Tat beschuldigt. Dieser soll den Kasseler Regierungspräsidenten „versehentlich“ erschossen haben. Beide sitzen in Untersuchungshaft, Ernst wegen des dringenden Mordverdachts, H. wegen Beihilfe zum Mord.
Der Kasseler Regierungspräsident Lübcke war am 2. Juni letzten Jahres auf der Terrasse seines Hauses erschossen worden. Er war zuvor von Rechtsextremisten bedroht worden, weil er 2015 bei einer Bürgerversammlung im Kasseler Vorort Lohfelden gegen Flüchtlingshetze aufgetreten war.
Stephan Ernst und Markus H. waren beide auf dieser Versammlung, H. hatte daraufhin ein Video von Lübcke ins Netz gestellt, das zur Grundlage der rechtsextremen Hetze gegen den Politiker wurde. Die beiden kennen sich seit langem aus der Kasseler Neonazi-Szene.
Der vielfach vorbestrafte Ernst wurde zwei Wochen nach dem Mord festgenommen, weil am Tatort eine DNA-Spur von ihm gefunden worden war. Wenig später gestand Ernst die Tat und führte die Polizei auch zur Tatwaffe, die mit weiteren Waffen in einem Erddepot versteckt war.
Ernst erklärte damals, er sei allein mit einer Waffe zu Lübckes Haus gefahren. Von einem weiteren Beteiligten war keine Rede. Kurz darauf zog Ernst sein Geständnis ohne weitere Erklärung überraschend wieder zurück. Nun sagt sein aktueller Anwalt Frank Hannig, dies sei auf sein Anraten hin geschehen, weil er schon „sehr zeitig“ erfahren habe, dass das Geständnis falsch gewesen sei.
Bislang waren die Ermittler davon ausgegangen, dass Ernst den Mord allein begangen habe und von Markus H. in seinen Mordplänen bestärkt worden sei, dieser aber nicht am Tatort war. Zumindest seien dort keine DNA- oder sonstigen Spuren von ihm gefunden worden.
Ende November kündigte Hannig dann eine neue Aussage seines Mandanten an, die „nun endlich die Wahrheit über die Tatnacht ans Tageslicht bringen“ werde. Am vergangenen Mittwoch wurde Ernst dann mehrere Stunden im Kasseler Polizeipräsidium befragt.
Anwalt Hannig gab die Aussage danach auf einer Pressekonferenz wieder. Demnach sei Stephan Ernst in der Tatnacht zusammen mit Markus H. zum Wohnhaus von Lübcke gefahren, um diesem „eine Abreibung“ zu verpassen. Sie hätten den Politiker auf der Terrasse angetroffen, dort sei es zum Streit gekommen. Als Lübcke schließlich Hilfe rufen wollte, habe sich der Schuss gelöst.
Dieser sei von Markus H. abgegeben worden, so Hannig, dem Ernst die Tatwaffe schon auf der Fahrt zum Haus Lübckes übergeben habe. Der Schuss und damit die Tötung seien „ein Versehen“ gewesen. „Mein Mandant glaubt, dass dies nicht absichtlich geschehen ist“, so Hannig.
Anwalt Hannig kündigte weitere Aussagen seines Mandanten an. Ernst, der von der Bundesanwaltschaft auch verdächtigt wird, aus Fremdenhass im Januar 2016 einen Iraker in Lohfelden niedergestochen und schwer verletzt zu haben, wolle mit der Polizei „weiter zusammenarbeiten“.
Ernsts neue Version der Ermordung Lübckes wirft unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt viele Fragen auf. Denn auf die Nachfrage, warum Ernst die Tat anfangs gestanden habe, sagte Hannig, dies habe der frühere Anwalt Dirk Waldschmidt seinem Mandanten geraten. Ernst habe die Beteiligung von Markus H. verschweigen sollen, dafür sei ihm der Schutz seiner Familie und finanzielle Unterstützung versprochen worden. Waldschmidt bestreitet diese Darstellung.
Frank Hannig, Ernsts jetziger Anwalt, sitzt für die Freien Wähler im Dresdener Stadtrat und ist im Pegida-Umfeld aktiv. Sein Vorgänger Dirk Waldschmidt ist NPD-Mitglied und einer der bekanntesten Anwälte der rechten Szene.
Trifft Hannigs Behauptung zu, stellt sich die Frage, warum Markus H. gedeckt werden sollte. Und vor wem sollte Ernsts Familie geschützt werden? Wer bedrohte ihn und wer versprach ihm Geld? Markus H., die Kasseler Neonazi-Szene, die NPD oder der Verfassungsschutz, der sowohl innerhalb der NPD als auch in der Kasseler Neonazi-Szene eng vernetzt ist?
Dass Ernst eine Bedrohung aus diesem Netzwerk fürchtete, ist nicht abwegig. Im Laufe der Ermittlungen und des Prozesses gegen den Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) waren mehrere Zeugen unter merkwürdigen Umständen verstorben, insbesondere im Zusammenhang mit dem völlig ungeklärten zehnten NSU-Mord an der Polizistin Michèle Kieswetter 2007 in Heilbronn.
Hat die vermeintliche Bedrohung von Ernst womöglich etwas mit dem Mord an Halit Yozgat zu tun, der im April 2006 als neuntes Opfer des NSU in seinem Kasseler Internetcafé erschossen wurde. Es ist inzwischen bekannt, dass die Kasseler Neonazi-Szene Verbindungen zum NSU hatte. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die zusammen mit Beate Zschäpe den Kern des NSU bildeten, sollen kurz vor dem Mord an der Geburtstagsparty eines führenden Neonazis in Kassel teilgenommen haben, auf der vermutlich auch Ernst anwesend war.
Diese gewalttätige Neonazi-Szene war wiederum von Dutzenden V-Leuten des Verfassungsschutzes und der Polizei durchsetzt. So war Stephan Ernst mit Benjamin Gärtner (Deckname „Gemüse“) befreundet, der unter der Führung von Andreas Temme als V-Mann für den Verfassungsschutz arbeitete. Der Verfassungsschutz-Beamte Temme saß im Internet-Café von Yozgat, als dieser ermordet wurde, und wechselte später ins Regierungspräsidium von Walter Lübcke.
Temme war dienstlich auch mit Ernst befasst. Die direkten Verbindungen zwischen den beiden waren so eng, dass Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) im Oktober ungefragt dementierte, dass Ernst jemals als Informant des Verfassungsschutzes gearbeitet habe.
Ernst und Markus H. waren 2009 nach einem gewalttätigen Neonazi-Überfall auf eine DGB-Demonstration in Dortmund beide verhaftet worden. Das Amtsgericht Dortmund verurteilte Ernst ein Jahr später zu sieben Monaten Haft. Trotz Vorstrafe – er hatte wegen eines Bombenanschlags auf eine Asylunterkunft eine sechsjährige Jugendstrafe verbüßt – wurde die neue Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Vermutung liegt nahe, dass er dafür eine Gegenleistung erbringen musste. H. wurde im Gegensatz zu Ernst nicht verurteilt. Genoss er Schutz aus dem Staatsapparat?
Markus H. galt gemeinhin als Waffennarr und nahm Ernst zu Schießübungen mit. Er besaß ganz legal mehrere Waffen. Die Frankfurter Rundschau berichtet, er habe zwischenzeitlich sogar ein Gewerbe angemeldet und über das Internet mit Waffenzubehör gehandelt.
Die Stadt Kassel hatte Markus H. zwar lange Zeit eine Waffenbesitzkarte verweigert, weil der Verfassungsschutz auf rechtsextreme Aktionen von ihm hingewiesen hatte. Die Erkenntnisse zu rechtsextremen Umtrieben dürfen laut Waffengesetz jedoch nicht älter als fünf Jahre sein. 2015 klagte H. dann seine Waffenbesitzkarte vor dem Kasseler Verwaltungsgericht ein. Der hessische Verfassungsschutz hatte der Behörde auf Anfrage mitgeteilt, dass „keine weiteren Erkenntnisse“ über H. vorliegen, die „gegen seine Zuverlässigkeit im Sinne des Paragraphen 5 des Waffengesetzes sprechen“, wie es im Urteil des Verwaltungsgerichtes heißt.
Das ist nachweislich genauso falsch wie die Behauptung des Verfassungsschutzes, Ernst sei vor dem Lübcke-Mord zehn Jahre lang vom Radar der Sicherheitsbehörden verschwunden. Vielmehr weiß man inzwischen, dass sich Ernst und Markus H. in einem engen Netzwerk aus Neonazis, Terroristen, Verfassungsschutzbeamten und V-Leuten bewegten. Der Verfassungsschutz hat die beiden genauso wie den NSU und seine Unterstützer in Kassel jahrelang auf dem Radar gehabt, dies aber verschwiegen.