Neue Ausbreitung von Covid-19 in Europa

EU-Gipfel diskutiert über Hilfsgelder für Banken, soziale Angriffe und Krieg

Der zweitägige Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU), der gestern in Brüssel begann, findet vor dem Hintergrund einer neuen Ausbreitung der Covid-19-Pandemie auf dem ganzen Kontinent statt. Die von Regierungen und Gewerkschaften seit dem Ende der Lockdowns im Mai eingeleitete Rückkehr an die Arbeit und Schulen führt zu einer neuen Ansteckungswelle, die die Gesundheitssysteme erneut zu überlasten droht.

In Spanien – wo die Zahl der Neuinfizierten am 16. Juli mit 1.361 Fällen das erste Mal seit Mai über 1.000 lag – baten die Stadtverwaltungen in Barcelona gestern die Bewohner des fünf Millionen Einwohner zählenden Ballungsgebietes in ihren Wohnungen zu bleiben. Die Region mit den meisten neuen Fällen (647) ist Katalonien. Die Sprecherin der Regionalregierung Meritxell Budó sagte, dies sei „die letzte Chance, um Maßnahmen zu vermeiden, die die gesamte Bevölkerung einschränken“.

In Deutschland gab es am Donnerstag 583 Neuinfektionen und in Österreich 157 – die höchste Zahl seit dem 10. April. In Belgien sind die Covid-19-Infektionen um 32 Prozent auf durchschnittlich 115 täglich angestiegen. Die Reproduktionsrate des Virus hat sowohl in Deutschland als auch in Belgien den Wert 1 überschritten, was darauf hindeutet, dass die Zahl der Neuerkrankungen wieder exponentiell zunimmt. „Angesichts dieser Daten“, so der belgische Virologe Marc Van Ranst, „müssen wir sagen, dass wir den Beginn einer zweiten Welle sehen“.

In Frankreich, wo es 184 aktive Cluster gibt, ist die Reproduktionsrate auf 2,62 in der Bretagne, 1,5 im Loire-Tal und 1,55 an der Riviera gestiegen. In einer Reihe von Regionen, darunter auch im Großraum Paris, liegt sie über 1.

Nichtsdestotrotz lag der Schwerpunkt des ersten physischen EU-Gipfeltreffens seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie nicht darauf, die neue Ansteckungswelle zu stoppen. Vielmehr stritten die versammelten Staats- und Regierungschefs darüber, wie man billionenschwere Rettungspakete für Banken und Großkonzerne schnürt und gleichzeitig Sparmaßnahmen und Massenentlassungen organisiert, die Millionen von Arbeitsplätzen in ganz Europa vernichten. Die europäische Bourgeoisie führt keinen Krieg gegen Covid-19, sondern gegen die Arbeiterklasse!

Während die Europäische Zentralbank (EZB) 1,25 Billionen Euro für die europäischen Banken gedruckt hat, bereitet die EU einen von Berlin und Paris vorgeschlagenes Rettungsplan in Höhe von 750 Milliarden Euro vor. Die EU-Staaten haben bereits zig Milliarden an Großunternehmen wie Siemens, Airbus, Renault und verschiedene nationale Fluggesellschaften – darunter die deutsche Lufthansa – vergeben. Mit Hilfe der Gewerkschaften organisieren die gleichen Unternehmen weitgehende Restrukturierungsmaßnahmen und Massenentlassungen.

In der EU gibt es nach wie vor erbitterte Meinungsverschiedenheiten darüber, wie garantiert werden kann, dass die Rettungspakete dazu dienen, drakonische Sparmaßnahmen wie in Griechenland nach dem Wall Street-Crash 2008 durchzusetzen und die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Regierung die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat, erklärte bei ihrer Ankunft in Brüssel, sie erwarte „sehr, sehr schwere Verhandlungen“. Die Unterschiede bei den Positionen der Mitgliedstaaten seien noch „sehr, sehr groß“ und es brauche „wirklich große Kompromissbereitschaft“. Sie könne deshalb „noch nicht voraussagen..., ob wir dieses Mal schon zu einem Ergebnis kommen.“

Am ersten Gipfeltag sprachen sich mehrere kleinere Länder gegen die deutsch-französische Initiative aus. Der ungarische Premierminister Viktor Orban drohte mit einem Veto gegen eine Bestimmung, die die Staaten verpflichtet, die „Grundwerte“ der EU zu respektieren, um Gelder aus dem Rettungsfonds zu erhalten. Der niederländische Premierminister Mark Rutte forderte ein Veto-Recht für alle Ausgaben von EU-Rettungsfonds.

Der italienische Premierminister Giuseppe Conte begrüßte den Vorschlag aus Berlin und Paris, der vorsieht, Sparmaßnahmen nicht wie in Griechenland durch EU-Gespräche zu verfügen, sondern in Verhandlungen hinter den Kulissen zwischen den großen EU-Mächten auszuarbeiten. „Wir erarbeiten… eine wirtschaftliche und soziale Antwort für alle unsere europäischen Bürger im gemeinsamen Interesse der Werte, die wir teilen“, erklärte Conte.

In Wirklichkeit reagiert die EU auf den größten wirtschaftlichen Abschwung des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren, indem sie ihre imperialistischen Interessen aggressiv durchsetzt. Diese Strategie, die die ganze Last der Krise auf die Arbeiterklasse abwälzt, stützt sich auf die enge Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, die versuchen, die wachsende soziale Opposition zu unterdrücken.

Gestern trafen die französischen Gewerkschaften mit dem neu ernannten Premierminister Jean Castex zusammen, um die Wirtschaftspolitik zu planen. Sie einigten sich darauf, bis Ende des Jahres zu warten, um größere Rentenkürzungen vorzunehmen, die sie bereits Anfang des Jahres mit Präsident Emmanuel Macron ausgehandelt haben. Gegenwärtig arbeitet Castex weitgehende Pläne für Unternehmensumstrukturierungen und Massenentlassungen in ganz Frankreich aus. Nichtsdestotrotz begrüßten die Gewerkschaftsfunktionäre aller Couleur Castex und seine reaktionären Pläne, als sie sein Büro verließen.

„Wir sind mitten im Strom, aber was getan wird, kann nicht rückgängig gemacht werden. Unzufriedenheit, Proteste, er muss sie in Betracht ziehen. Das ist eine gute Sache“, sagte Philippe Martinez von der CGT (Allgemeiner Gewerkschaftsbund). Das ist ein Betrug! In Wirklichkeit plant die EU massive Angriffe und stimmt sie in Gesprächen mit den Gewerkschaften zeitlich sorgfältig ab, um eine soziale Explosion zu vermeiden.

Was die EU zusammenhält, sind weniger gemeinsame Interessen, sondern der verzweifelte Versuch, der europäischen Arbeiterklasse im Inneren und ihren Großmachtrivalen nach Außen entgegenzutreten. Dazu zählen nicht nur traditionelle NATO-Gegner wie Russland, sondern zunehmend auch der NATO-„Verbündete“ USA.

Auf dem Gipfel wollen die EU-Mächte einen weiteren Schritt bei der Umwandlung der EU in ein Militärbündnis machen. Bei einem Vorab-Treffen in Warschau am Mittwoch plädierten die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und ihr polnischer Amtskollege Mariusz Blaszczak für höhere EU-Militärausgaben. Der aktuelle Kompromissvorschlag des EU-Ratspräsidenten Charles Michel sieht sieben Milliarden Euro für den EU-Verteidigungsfonds vor, der gemeinsame Rüstungsprojekte fördert. Weitere 1,5 Milliarden Euro sind für die Anpassung des europäischen Verkehrsnetzes an militärische Erfordernisse vorgesehen.

Dieser aggressiven Politik liegen die tiefste Wirtschaftskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wachsende interimperialistische Spannungen, insbesondere zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, zugrunde.

Am Mittwoch drohte US-Außenminister Mike Pompeo mit einer weiteren Verschärfung der Sanktionen gegen Unternehmen, die am Bau der Nord Stream 2-Pipeline zwischen Russland und Deutschland beteiligt sind. Die Sanktionen werden unter dem amerikanischen CAATSA-Gesetz (Countering America's Adversaries Through Sanctions Act) vorbereitet, das zuvor gegen den Iran, Nordkorea und Russland zur Anwendung kam. Sie richten sich gegen Unternehmen aus mindestens fünf europäischen Ländern. Aus Deutschland sind Wintershall und Uniper an der Finanzierung von Nordstream 2 beteiligt, hinzu kommen Royal Dutch Shell, ENGIE aus Frankreich und OMV aus Österreich.

Bundesaußenminister Heiko Maas hat die US-Pläne am Donnerstag ungewöhnlich scharf verurteilt. „Mit ihren Ankündigungen von Maßnahmen, die auch europäische Unternehmen mit Sanktionen bedrohen, missachtet die US-Regierung das Recht und die Souveränität Europas, selbst zu entscheiden wo und wie wir unsere Energie beziehen“, sagte in einer offiziellen Erklärung des deutschen Außenministeriums. „Die europäische Energiepolitik wird in Europa gemacht und nicht in Washington. Extraterritoriale Sanktionen lehnen wir klar ab.“

Ein weiteres Ereignis, das auf die extrem angespannten transatlantischen Beziehungen hinweist, ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Donnerstag. Es erklärt das zentrale Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA, den so genannten EU-US-Privacy Shield, für ungültig. Die offizielle Darstellung des Urteils als Verteidigung der demokratischen Rechte der europäischen Bürger ist reine Heuchelei. Die europäischen Geheimdienste spionieren die Bevölkerung genauso systematisch und umfassend aus wie die US-Dienste.

Das Urteil ist Teil des eskalierenden Handelskriegs und der wachsenden politischen Konfrontation zwischen Brüssel und Washington. Nachdem sie ihre Grenzen für amerikanische Bürger mit Verweis auf den katastrophalen Umgang der USA mit der Covid-19-Pandemie geschlossen hat, reagiert die EU mit weiteren Maßnahmen gegen ihren nominellen „Verbündeten“.

Es ist vor allem das Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft die europäische Außenpolitik unter der Führung Berlins zu militarisieren. In einem am Donnerstag veröffentlichten Interview mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit forderte Kramp-Karrenbauer eine massive Aufrüstung der EU, um die Interessen des deutschen Imperialismus international durchzusetzen – auch gegen Atommächte.

„Als Nato- und EU-Land in der Mitte des Geschehens brauchen wir den 360-Grad-Blick“, erklärte sie. „Wenn man sich anschaut, wer in der Reichweite der russischen Raketen in Europa liegt, dann sind das nur die mittel- und osteuropäischen Staaten und wir. Auch deshalb sehen uns viele dieser Staaten als einen wichtigen Partner zum Anlehnen, der ihre Interessen im Blick hat.“ Man werde „in unserer EU-Ratspräsidentschaft an einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse arbeiten. Denn wir müssen Abwehrsysteme entwickeln“. Etwa in der „Luftverteidigung“ gehe es „zunehmend auch um Drohnen, KI-gesteuerte Drohnenschwärme oder um Hyperschallwaffen.“

Welche Fraktionen der herrschenden Klasse auch immer in der Debatte über die „Rettungspolitik“ obsiegen werden, eines ist klar: die dramatischen Aufrüstungs- und Umstrukturierungspläne der EU sind mit massiven Angriffen auf die Arbeiterklasse verbunden.

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