Israel führt als erstes Land den zweiten landesweiten Lockdown ein

Am Sonntag beschloss die israelische Regierungskoalition aus Likud und Blau-Weiß einen vollständigen landesweiten Lockdown, der am Freitagmorgen, kurz vor dem jüdischen Neujahrstag Rosch ha-Schana, beginnt. Israel ist damit weltweit die erste Regierung, die einen zweiten landesweiten Lockdown verhängt.

Anfang März hatte die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu strenge Einschränkungen eingeführt, doch als die Infektionsraten Ende April zu sinken begannen, kündigte Netanjahu im Interesse der Unternehmensprofite die stufenweise Wiedereröffnung der Schulen, Betriebe, Restaurants, Bars, Clubs, Schwimmbäder und Hotels an. Dabei führte er keine Maßnahmen zur Kontrolle oder Abwehr einer zweiten Welle ein, obwohl das Expertenteam unter Führung von Professor Eli Waxman (Weizman Institute of Science) dies klar empfohlen hatte.

Waxmans Team schlug der Regierung vor, ihre Entscheidung zum Wiederhochfahren der Wirtschaft erneut zu überdenken, wenn die tägliche Zahl der Infektionen auf über 200 steigen würde. Diese Empfehlung hat die Regierung ignoriert.

Nur wenige Tage, nachdem die Regierung die Beschränkungen für Schulklassen und Schulklassengrößen aufgehoben hatte, breitete sich das Virus rasch wieder aus. Im Juli trat Israels Direktorin für öffentliche Gesundheit, Siegal Sadetzki, zurück und erklärte, die unzureichenden Sicherheitsmaßnahmen in Schulen und bei Großveranstaltungen wie Hochzeiten hätten zu einem „beträchtlichen Teil“ zu den Infektionen der zweiten Welle beigetragen.

Sieben Monate nach Beginn der Krise ist es in Israel noch immer schwierig, sich testen zu lassen oder schnelle Ergebnisse zu erhalten. Das Gesundheitsministerium behauptet seit Monaten, ein System zur Kontaktverfolgung aufzubauen. Gleichzeitig hat es die Verantwortung dafür an an das Militär abgeschoben. Dieses hat sich jetzt mit der Bitte um Unterstützung an Privatunternehmen gewandt und erklärt, es sei frühestens im November einsatzbereit.

Mit der Entscheidung vom Sonntag reagiert die Regierung auf einen extrem starken Anstieg der Infektionsrate. Israel hat mittlerweile mit 157.000 bestätigten Fällen bei neun Millionen Einwohnern die weltweit höchste Pro-Kopf-Zahl an neuen Covid-19-Fällen: Jeden Tag werden 3.000 bis 4.000 neue Fälle gemeldet. Dazu kommen 1.136 Tote. Die große Mehrheit dieser Infektionen erfolgte ab Mai, als Netanjahu erklärte, der Lockdown sei vorbei und die Menschen sollten „ausgehen und sich amüsieren“.

Im Westjordanland gab es 35.663 Infektionen und 214 Todesopfer, 8.550 Fälle davon in Ost-Jerusalem. Am stärksten betroffen ist das Gouvernement Hebron. Die Palästinenserbehörde hat in stark betroffenen Gebieten Lockdowns und ein Verbot von öffentlichen Versammlungen wie Hochzeiten und Abschlussfeiern verhängt. Im Gazastreifen gibt es 1.631 Fälle und elf Todesopfer. Seitdem am 24. August die ersten neuen Übertragungsfälle verzeichnet wurden, haben die Behörden auch dort einen strengen Lockdown verhängt.

Tel Aviv im Juli: Demonstration auf dem Yitzhak Rabin Platz (AP Photo/Ariel Schalit)

Die erste Phase des israelischen Lockdowns soll mindestens drei Wochen dauern. In dieser Zeit dürfen sich Menschen nicht mehr als 500 Meter von ihren Wohnungen entfernen. Schulen und nicht-systemrelevante Betriebe, Unternehmen und Organisationen werden geschlossen. Restaurants dürfen nur Lebensmittel zum Mitnehmen oder Lieferservice anbieten. Versammlungen sind auf zehn Menschen in Gebäuden und 20 Menschen im Freien beschränkt, sodass traditionelle Familienzusammenkünfte und religiöse Feiern während der jüdischen Feiertage stark eingeschränkt werden.

Diese Vorschriften basieren auf einem neuen Coronavirus-Gesetz, welches das Kabinett zu Einschränkungen ermächtigt, beispielsweise der Begrenzung der Teilnehmerzahl von Demonstrationen und der Distanz zwischen Demonstrationsteilnehmern. Diese Auflagen werden die wöchentlichen Proteste gegen Netanjahu deutlich einschränken. Die Polizei bereitet sich darauf vor, die Lockdown-Politik durchzusetzen, obwohl mehrere Gruppen in den sozialen Medien angekündigt haben, sich nicht an die Einschränkungen zu halten. Die Pläne der Polizei erlauben die gewaltsame Auflösung von Versammlungen und notfalls das Betreten von Synagogen mit einer großen Zahl von Streifenbeamten, Bereitschaftspolizisten und Grenzschützern.

Innerhalb der Regierungskoalition herrschen zurzeit starke Spannungen um den Etat der Regierung. Aus diesem Grund war die Kabinettssitzung am Sonntag die erste seit einem Monat. Die Entscheidung über den Etat wurde auf Ende November vertagt.

Der Kabinettsausschuss zum Coronavirus hat einen landesweiten Lockdown empfohlen, und Berichten zufolge wird dies auch von Netanjahu, dem Gesundheitsminister Yuli Edelstein und dem Coronavirus-Koordinator Professor Ronni Gamzu unterstützt. Diese Empfehlung geht zu einem Großteil auf die Warnungen der seit Jahrzehnten unterfinanzierten Krankenhäuser zurück, die von der steigenden Zahl an Patienten sehr bald überwältigt werden. Am Montag kündigte das Krankenhaus West-Galiläa in Naharija als landesweit erstes an, es könne keine weiteren Corona-Patienten mehr aufnehmen.

Als die Zahl der bestätigten Fälle vor zehn Tagen weiter anstieg, befahl die Regierung Netanjahu ab letzten Donnerstag eine einwöchige nächtliche Ausgangssperre und Schulschließungen in 40 „roten“ Zonen mit den höchsten Infektionsraten. Dies stellte jedoch eine Kapitulation vor den religiösen, ultraorthodoxen Parteien dar, von denen Netanjahu abhängig ist. Gamzus Pläne wurden damit praktisch neutralisiert.

Gamzu hatte für die 40 am stärksten betroffenen Städte einen vollständigen Lockdown gefordert, einschließlich aller nicht-systemrelevanten Betriebe und Schulen. Die betroffenen Städte werden überwiegend von religiösen Arabern, Beduinen und Drusen bewohnt. Die Bürgermeister von vier der betroffenen Städte hatten Netanjahu gewarnt, sie würden im Falle des kompletten Lockdowns nicht mit den Behörden kooperieren. Darauf gab das Gesundheitsministerium bekannt, dass die 3.000 chasidischen Pilger, die nach dem Rosch ha-Schana aus dem ukrainischen Uman zurückkehrten, nicht in Hotels in Quarantäne gehen müssten, sondern zu Hause bleiben dürften.

Da Netanjahu eine jahrelange Haftstrafe wegen Betrugs, Bestechung und Veruntreuung in drei Fällen droht, wird er alles tun, um seine Anhängerschaft nicht zu verlieren und sich an der Macht zu halten. Er manövriert seit langem, um einer Verurteilung zu entgehen. Zu diesem Zweck ist er sogar bereit, einen offenen Konflikt mit der Justiz zu provozieren, der er vorwirft, ihn durch einen „linken Putsch“ stürzen zu wollen.

Während die Zahl der Infektionen immer weiter anstieg, drängten etwa 120 Ärzte und Wissenschaftler die Regierung in einem offenen Brief, keinen allgemeinen Lockdown einzuführen, sondern das „schwedische Modell“ der Herdenimmunität zu übernehmen. Einige von ihnen wurden sogar eingeladen, vor dem Coronavirus-Komitee der Knesset auszusagen. Eine weitere Gruppe von 150 Ärzten trat ihnen mit Nachdruck entgegen, weil dies Infektionen im großen Stil begünstigen würde. Allerdings diente der offene Brief den Zielen der Regierung, die wissenschaftlichen Empfehlungen zu diskreditieren und die Akzeptanz von Lockdowns in Frage zu stellen.

Die ultraorthodoxen Gemeinden, Unternehmen und der Gewerkschaftsbund Histadrut reagierten auf die Ankündigung eines zweiten landesweiten Lockdowns mit wütendem Protest.

In diesem Jahr drohen etwa 85.500 Betriebsschließungen, im Vergleich zu 40.000 in einem normalen Jahr. Mindestens 21 Prozent der Erwerbsbevölkerung sind arbeitslos, und diese Zahl wird sich noch weiter erhöhen. Da Unternehmensverbände behaupten, der Lockdown werde sie zwei Milliarden Dollar kosten, und damit drohen, ihn zu ignorieren, wies Netanjahu seinen Finanzminister an, ein neues Rettungspaket für die Wirtschaft zu schnüren. Das Rekord-Haushaltsdefizit, das fast schon beim Dreifachen des Vorjahres liegt, steigt damit noch weiter an.

Bau- und Wohnungsminister Yaakov Litzman, der Vorsitzende der Partei Vereinigtes Torah-Judentum und ein Verbündeter Netanjahus, war am Sonntag aus Protest gegen den zu erwartenden Lockdown zurückgetreten. Er erklärte, der Lockdown hindere „Hunderttausende Juden aller Konfessionen daran, in Synagogen zu beten“.

Selbst das Timing des Lockdowns ist auf Netanjahu abgestimmt. Der Aufschub bis Freitag hat es ihm am gestrigen Dienstag ermöglicht, nach Washington zu fliegen, um ein Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain zu unterzeichnen. Damit kann Netanjahu sich als Staatsmann von Weltrang inszenieren.

Nicht nur die orthodoxen Gemeinden, die ihre religiösen Einrichtungen, Schulen und Seminare offenhalten wollen, sondern auch die arabischen Israelis mit ihren traditionell großen Hochzeitsfeiern werden für die Ausbreitung der Krankheit verantwortlich gemacht. Das ist jedoch keineswegs überraschend: Netanjahus Koalition beruht darauf, gegen Israels arabische Einwohner zu hetzen und alle Arten von Rückständigkeit in seiner eigenen rechtsextremen und religiösen Anhängerschaft zu kultivieren. Deshalb wurde es den ultraorthodoxen Rabbinern freigestellt, an ihren Schulen auf moderne wissenschaftsbasierte Lehrpläne zu verzichten.

Die religiöse Rückständigkeit, die bewusst geschürten Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, wie auch der Niedergang des Wirtschafts-, Gesellschafts- und Gesundheitssystems, all das ist der Preis, den die Arbeiterklasse für die Verrätereien ihrer alten Führungen bezahlt.

Um diese Probleme zu überwinden, gibt es nur einen Weg: Die israelische und palästinensische Arbeiterklasse muss sich mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern im ganzen Nahen Osten auf der Grundlage eines revolutionären und sozialistischen Programms zusammenschließen.

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