In der Tarifrunde für 2,3 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst finden zurzeit Warnstreiks in Kitas und Krankenhäusern, Rathäusern, Ämtern, Sparkassen und Müllbetrieben etc. statt. Am gestrigen Dienstag wurde in mehreren Bundesländern gleichzeitig auch der öffentliche Nahverkehr bestreikt.
Die Streikenden gehören durchwegs den „systemrelevanten“ Beschäftigten an, die im Frühjahr als „Corona-Helden“ gepriesen und beklatscht wurden. Zu Recht erwarten sie neben einem besseren Arbeitsschutz vor der Corona-Pandemie auch bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen. „Vom Applaus allein kann ich meine Miete nicht bezahlen“, wie eine Krankenschwester sagte. Die große Bevölkerungsmehrheit sieht das genauso. Eine aktuelle Forsa-Blitzumfrage zeigt, dass fast zwei Drittel der Befragten (63 %) Verständnis für die Warnstreiks haben.
Von Seiten der öffentlichen Arbeitgeber werden die Streikenden übel beschimpft. Niklas Benrath, neuer Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), rückt sie faktisch in die Nähe von Terroristen. Er bezeichnete die Warnstreiks am Freitag als einen „Anschlag auf die Allgemeinheit“ und sagte, es sei „unverantwortlich, gerade in dieser krisengeplagten Zeit ... das gesamte Land nunmehr mit einer Streikwelle zu überziehen“.
Der Konflikt ist indes von einem tiefen Widerspruch geprägt. Die Warnstreiks finden unter der Regie derselben Gewerkschaften statt, welche die Back-to-Work-Politik der Regierenden unterstützen und seit Jahr und Tag eine Schlüsselrolle beim Sozialabbau spielen. Die Gewerkschaftsfunktionäre, die auch in allen Aufsichtsgremien sitzen, haben sich mit den Politikern längt in Hinterzimmer-Gesprächen über angeblich notwendige Opfer abgestimmt.
Auf beiden Seiten des Verhandlungstischs sitzen Gewerkschafts- und SPD-Mitglieder. Der Lüneburger OB Ulrich Mädge, der als VKA-Präsident die Forderung nach 4,8 % Lohnerhöhungen als „völlig überzogen“ zurückweist, ist seit vielen Jahren Verdi-Mitglied. Er ist, wie auch Verdi-Chef Frank Werneke, Mitglied derselben SPD, die unter Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 den umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik vollzog.
Nach den Milliarden-hohen Corona-Hilfspaketen an die Banken und Konzernen sind die öffentlichen Kassen leer. Was die städtischen, staatlichen und privaten Arbeitgeber mit Hilfe von Verdi wirklich planen, um die Löcher in ihren Haushalten auf Kosten der Arbeiter zu stopfen, das hat letzte Woche ein Facebook-Beitrag unter dem Hashtag #TVN2020 deutlich gemacht.
Demnach haben die Nahverkehrsgesellschaften von Mittelbaden-Nordschwarzwald in der zweiten Verhandlungsrunde statt eines Angebots eine zwei DIN A4-Seiten lange „Horrorliste“ mit Verschlechterungen vorgelegt. Sie verlangen u.a. eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden, die Abschaffung von Heiligabend und Silvester als freie Tage, die Reduzierung des Weihnachtsgelds auf 70 Prozent, die Abschaffung des Urlaubsgelds und die künftige Zulässigkeit betriebsbedingter Kündigungen.
Das dreiste Auftreten der Arbeitgeberseite ist kein Zufall. Sie fühlt sich durch die jüngsten Loyalitätsbeweise von Verdi ermutigt. In den letzten Tagen hat die Dienstleistungsgewerkschaft bereits den Tarifkampf bei der Deutschen Post übel ausverkauft. Dasselbe tat die Gewerkschaft EVG bei der Bahn. In beiden Fällen haben sie den Arbeitern Lohnverzicht und lange Laufzeiten aufs Auge gedrückt, um Streiks in den kommenden Jahren zu unterbinden.
Im Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) hat Verdi auf den steigenden Unmut reagiert, der in letzter Zeit in größeren Streikbewegungen in Berlin, im Saarland, in Hessen und anderswo zum Ausdruck kam. Unter dem Slogan TVN2020 (Tarifvertrag Nahverkehr 20209) hat sie das gleichzeitige Auslaufen der Manteltarifverträge Ende Juni 2020 zum Anlass für die Forderung nach einem national einheitlichen Manteltarifvertrag genommen. Er soll für bundesweit 87.000 Fahrerinnen und Fahrer in 130 Verkehrsunternehmen gelten. Damit, so Verdi, solle „die Ungleichbehandlung in den Bundesländern“ beendet werden.
Die Gewerkschaft verknüpft die Forderung nach einem nationalen Manteltarif mit weiteren Forderungen: 30 Urlaubstage, Angleichung der Arbeitszeit auf 36,5 Stunden bei vollem Lohnausgleich, ein Mitgliedervorteil von 500 Euro für Verdi-Mitglieder. Durch solche Anreize, so die Gewerkschaft, solle sowohl der Beruf des Fahrers im Interesse einer klimafreundlichen „Verkehrswende“ als auch die Verdi-Mitgliedschaft wieder attraktiver werden.
Unterstützt wird Verdi von verschiedenen pseudolinken Gruppen, wie der SAV. Sie bejubeln gemeinsame Auftritte von Verdi-Funktionären mit Fridays-for-Future-Aktivisten am letzten Freitag als Schritt zu einem „gut finanzierten, ausgebauten ÖPNV mit guten Löhnen und Arbeitsbedingungen“.
In Wirklichkeit hat Verdi nicht die geringste Absicht, für gute Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Sie ist selbst für die miserablen Bedingungen im ÖPNV verantwortlich. Sie sind die direkte Folge der Deregulierungs- und Privatisierungsorgie seit den 1990er Jahren, die von Verdi und ihren Vorgängerorganisationen aktiv unterstützt wurde.
Sie haben die Beschäftigten von Bund und Kommunen gegen die der Länder, die von öffentlichen gegen die von privaten Unternehmen ausgespielt und hunderte Haustarifverträge unterzeichnet. Die Belegschaften wurden gespalten, die alten Löhne gekürzt und die Einstiegslöhne massiv abgesenkt. Seither sind im öffentlichen Personennahverkehr mehr als 15.000 Stellen abgebaut worden, hunderte Bus- und Bahnbetriebe wurden privatisiert.
Verdi hat nicht die leiseste Absicht, einen Arbeitskampf zu riskieren, der seinen Namen verdient. Obwohl die ÖPNV-Verhandlungen mit denen des übrigen öffentlichen Diensts zusammenfallen und die Warnstreiks sogar zeitgleich mit denjenigen in den Kitas und Kliniken stattfinden, führt Verdi die Verhandlungen für beide fein säuberlich getrennt.
Letzte Woche haben die öffentlichen Arbeitgeber die Forderung nach einem bundesweit einheitlichen Manteltarif für den ÖPNV rundheraus abgelehnt. Verdi wird dies akzeptieren und sucht nach einer Formel, um den bereits geplanten Ausverkauf schönzureden. Am 22. Oktober findet die dritte Verhandlungsrunde statt. Inzwischen wird im Nahverkehr auf Länderebene weiterverhandelt.
Von einem gemeinsamen, bundesweiten Arbeitskampf ist die Gewerkschaft also meilenweit entfernt. Vielmehr zielen ihre Manöver gerade darauf ab, einen wirklichen Arbeitskampf und eine soziale Rebellion zu verhindern. Wie die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) seit langem betont, können Arbeiter ihre Interessen nur dann wahrnehmen und wirkungsvoll verteidigen, wenn sie auch den Kampf gegen die Gewerkschaft aufnehmen. Sie müssen sich zu unabhängigen Aktionskomitees zusammenschließen und mit Arbeitskollegen in ganz Europa verbinden, um einen europaweiten Generalstreik vorzubereiten.
Wie wenig Verdi das Leben und die Gesundheit der Arbeiter achtet, zeigt ihr Umgang mit der Corona-Pandemie. Obwohl die Covid-19-Fallzahlen seit Wochen rapide steigen, hat sie keine Forderungen für einen besseren Schutz vor Corona aufgestellt. Wie die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Altenheimen, die Erzieherinnen in den Kitas und die Lehrer und Sozialarbeiter in den Schulen ist auch das Fahrpersonal in überfüllten Bussen und Straßenbahnen dem Virus täglich ausgesetzt.
Tatsächlich ist sich Verdi mit den Regierenden einig, dass es keinen weiteren Shutdown geben darf. Sie hat sich die todbringende „Durchseuchungs“- und „Herdenimmunität“-Strategie zu Eigen gemacht. Auf zahlreichen Websites von Verdi und des DGB werden die Mitglieder unter der Überschrift „Coronavirus: Was Beschäftigte wissen müssen“ belehrt: „Es gehört zum allgemeinen Lebensrisiko, sei es bei der Arbeit oder in der Freizeit, sich zu verletzen oder sich mit einer Krankheit anzustecken. Das gilt auch für Beschäftigte mit einer Vorerkrankung, die sie zwar nicht arbeitsunfähig macht, aber mit der sie einem höheren Risiko ausgesetzt sind, einen schwereren Krankheitsverlauf durch eine Coronavirus-Infektion zu entwickeln.“
Ein betroffener Kollege berichtete der WSWS, in München hätten Gewerkschaftsvertreter inoffiziell verbreitet, dass die streikenden Kollegen während des Streiks zuhause bleiben sollten – um in der Öffentlichkeit ein Corona-gerechtes Bild abzugeben. In einer internen Mitteilung seien sie angewiesen worden, während des Warnstreiks daheim zu bleiben, „denn man wird auf uns schauen. Die Presse wird da sein und auch der AG [Arbeitgeber] wird schauen, ob wir uns an die Coronaregeln halten.“
Diese Anweisung wirke umso zynischer, als die Gewerkschaft sich bisher nicht für die Corona-Regeln interessiert habe. „Nicht wegen Corona – nur wegen der Presse und den Arbeitgebern sollen wir zuhause bleiben. Unser Leben ist denen egal“, so der Kommentar des Kollegen.
Über den Umgang der Verdi-Personalräte im Berliner BVG mit Corona schreibt ein Busfahrer in einem weiteren Kommentar: „Sie haben keine Interesse, uns zu vertreten, sondern nur ihre eigenen (...) Das ist nur eine Show, um Mitglieder zu gewinnen. Und unsere Personalräte haben schon längst das Sagen verloren. Sie kämpfen nur für sich: damit sie nicht auf die Fahrbahn müssen.“