Die Geschichte um den angeblichen Giftanschlag auf den russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny, der von den imperialistischen Mächten unterstützt wird, entwickelt sich immer mehr zur Farce.
Dass Nawalny tatsächlich im August mit Nowitschok vergiftet wurde, ist bis heute nicht erwiesen. Dennoch veröffentlichten CNN und Spiegel letzte Woche ausführliche Artikel, in denen sie behaupten, die Mitglieder einer „Eliteeinheit“ des russischen Geheimdienstes FSB identifiziert zu haben, die Nawalny mit Nowitschok vergiftet haben sollen. Die beiden Medienhäuser arbeiteten in ihren Recherchen mit der oppositionsnahen russischen Zeitung The Insider und dem undurchsichtigen Recherchenetzwerk Bellingcat zusammen, das Beziehungen zu Nato-Denkfabriken unterhält.
Um die Männer zu identifizieren, habe man laut Bellingcat nur „etwas kreativ mit Google (oder Yandex) umgehen und ein paar hundert Euro in Kryptowährung an eine automatisierte Zahlungsplattform zahlen müssen, die sich nicht allzu sehr von Amazon oder Lexis Nexis unterscheidet, um Telefondaten mit Geolokationsdaten, Passagierlisten und Wohnsitzdaten zu erhalten“. Danach verglichen sie das Material mit Datenbanken, die ihnen in den letzten Jahren von anonymen Quellen „zugespielt“ wurden.
Letzten Donnerstag deutete der russische Präsident Wladimir Putin in einer Pressekonferenz an, Nawalny sei tatsächlich vom FSB beobachtet worden. Er dementierte aber jede Beteiligung des FSB an dem angeblichen Giftanschlag auf Nawalny und erklärte: „Hätten wir ihn töten wollen, dann hätten wir die Sache zu Ende gebracht.“ Die „Untersuchung“ von CNN und Spiegel bezeichnete er als das Werk „amerikanischer Geheimdienste“.
Am Montag veröffentlichten CNN und Spiegel einen weiteren Artikel mit dem Titel „Wie Nawalny seinen Attentäter hereinlegte – und zum Reden brachte“. Demnach hat Nawalny am 14. Dezember auf Grundlage der „Untersuchungen“ von Bellingcat, der Spiegel und CNN per Telefon ein Mitglied der Eliteeinheit des FSB, einen gewissen Konstantin Kudryazew, kontaktiert. Mittels einer „sehr einfachen Software“, die laut Nawalny bei „Telefonstreichen“ benutzt wird, um die echte Nummer zu verbergen, gab er vor, im Auftrag von Nikolai Patruschjew anzurufen, dem ehemaligen FSB-Chef und aktuellen Chef des russischen Sicherheitsrats, der sich direkt mit Präsident Putin abspricht. Auf seinem eigenen YouTube-Kanal veröffentlichte Nawalny eine Videoaufzeichnung des Anrufs.
Nawalny bat Kudryazew, ihm Einschätzungen über alle Mitglieder des Teams mitzuteilen und detailliert zu beschreiben, was er getan hat. Kudryazew erklärte, der Nervenkampfstoff sei zwei Tage vor Nawalnys berüchtigtem Flug nach Moskau in seiner „Unterhose“ platziert worden. (Tatsächlich konnte Kudryazew keine klare Antwort auf die Frage geben, wo das Gift platziert wurde; es hieß vage, es sei die „Hose“ oder „Unterhose“ gewesen. Offenbar entschieden sich Nawalny, CNN und der Spiegel im Interesse einer guten Story für die „Unterhose“.)
Nawalny fragte auch, ob es „noch irgendwelche Probleme“ mit Nowitschok-Spuren auf Nawalnys Kleidung geben wird. Darauf versicherte ihm Kudryazew: „Nein, wir waren mehrfach dort“, um sauberzumachen. CNN kam triumphierend zu dem Schluss, dass das Telefonat es ihnen ermöglicht habe, „das Bild des Giftanschlags des russischen Staates auf Nawalny zu vervollständigen“.
Wie es Nawalny selbst in einem Video zu den jüngsten „Enthüllungen“ formulierte, ist „diese ganze Giftanschlag-Geschichte besser als jeder Hollywood-Film“. Man könnte hinzufügen, dass die meisten Drehbuchschreiber in Hollywood mehr Rücksicht auf gesunden Menschenverstand und Logik nehmen würden als die Verantwortlichen für diese bizarre Parodie eines Spionagethrillers.
Wenn das Gift zwei Tage zuvor an seiner Kleidung angebracht wurde, warum ist er nicht eher erkrankt? Warum ist niemand erkrankt, der am Flughafen oder während des Flugs Kontakt mit ihm hatte, wenn seine Kleidung vergiftet war? Schließlich mussten nach dem angeblichen Nowitschok-Anschlag auf die Skripals in Großbritannien ganze Gebäude evakuiert werden. Und wie konnte der Nervenkampfstoff von seiner Unterhose an eine Wasserflasche kommen, an der plötzlich Wochen später in einem Labor der Bundeswehr Spuren von Nowitschok auftauchten? (Bequemerweise hat CNN die Wasserflasche, die im September plötzlich im Narrativ der Medien aus dem Nichts auftauchte, in seinen neueren Berichten nicht mehr erwähnt.)
Warum würde Kudryazew als Mitglied einer „Eliteeinheit des FSB“ mehr als eine Dreiviertelstunde lang mit einem Unbekannten an einem normalen Telefon über einen angeblich massiven operativen Fehlschlag des FSB vor fast vier Monaten reden, der sich seither zum Auslöser enormer politischer Spannungen zwischen Moskau und den führenden imperialistischen Mächten – u.a. Deutschland, den USA und Frankreich – entwickelt hat? Und wie kann ein Mann, der angeblich jahrelang Nawalny und seinen Blog verfolgt hat, seine Stimme am Telefon nicht erkennen?
Als wäre das noch nicht genug, deutete der Spiegel jetzt auch an, Nawalny habe im Jahr 2019 während eines anderen Flugs unter „ähnlichen Symptomen“ gelitten, die jedoch nur eine Viertelstunde andauerten. Im Sommer hatte das Magazin noch atemlos berichtet, Nawalnys Frau habe unter „Reisekrankheit“ gelitten, die zwar nicht einmal 24 Stunden angedauert hat, aber dennoch als möglicher Mordversuch an Nawalny ausgelegt wurde. Ferner wurde berichtet, Nawalny leide beim Joggen unter „Muskelkrämpfen“, was als Nachwirkung des Nervenkampfstoffs bezeichnet wurde.
Wenn man die Geschichte um Nawalny mit anderen aus der antirussischen Kampagne vergleicht, wirkt sie noch mehr wie eine Farce. Einerseits scheitern Russlands Mordanschläge auf Nawalny trotz enormer Ausgaben und Ressourcen, und FSB-Beamte haben scheinbar kein Problem damit, mit Fremden am Telefon über operative Geheimnisse zu plaudern. Andererseits wird der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren immer wieder weisgemacht, der gleiche russische Staat sei für massive Hackerangriffe verantwortlich, die die „Integrität“ der US-Präsidentschaftswahl 2016 gefährdet und fast ihr Cybersicherheitssystem zu Fall gebracht hätten.
Und während CNN, Spiegel und Bellingcat durch „kreatives Googeln“ und Software für „Telefonstreiche“ die Identität und den Modus Operandi der FSB-Mordkommandos aufdecken konnten, war der gesamte nationale Sicherheitsapparat des US-Imperialismus, mit all seinen Beziehungen zu deutschen und britischen Geheimdiensten und trotz jahrelanger fieberhafter Arbeit und Propaganda, nicht in der Lage, irgendeinen Beweis für diese massiven Hackerangriffe zu entdecken.
Als Reaktion auf die Medienberichte kündigte der russische Außenminister Sergei Lawrow am Dienstag in einem Treffen mit Vertretern von Deutschland, Frankreich und Schweden Sanktionen gegen Regierungsvertreter dieser Länder an, die nicht mehr nach Russland einreisen dürfen. Der FSB bezeichnete die von Nawalny veröffentlichte Aufzeichnung als „Schwindel“ und erklärte, die von Nawalny benutzte Telefonsoftware werde oft von amerikanischen Geheimdiensten benutzt.
Die fieberhaft zusammengebrauten Geschichten über den „Giftanschlag auf Nawalny“ müssen der Arbeiterklasse eine todernste Warnung sein. Die Kriegsvorbereitungen gegen Russland sind weit fortgeschritten. Keine Lüge ist zu groß und keine Geschichte zu absurd, um sie nicht für Kriegspropaganda zu nutzen.
Innerhalb weniger Stunden haben die bürgerlichen Medien und Regierungsvertreter die jüngste Geschichte um Nawalny kritiklos übernommen. In Deutschland erklärte Franziska Brantner, eine führende Grünen-Politikerin, diese Enthüllungen zeigten, „dass Russland Politik in verbrecherischer Manier macht. Das Appeasement der letzten Jahre hat nicht funktioniert.“ Brantner forderte einen sofortigen Baustopp der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2, die bereits von den USA sanktioniert wurde. Der Sprecher der Linkspartei, Matthias Höhn, schloss sich der Forderung nach einer härteren Haltung gegenüber Russland an und erklärte, der angebliche Einsatz von Nowitschok gegen Nawalny sei „völkerrechtswidrig“.
In den USA veröffentlichte die Washington Post, die Amazon-Chef Jeff Bezos gehört, letzte Woche einen Leitartikel über den Fall Nawalny mit dem Titel „Die USA dürfen Russlands dreisten Einsatz von Chemiewaffen nicht weiter ignorieren“. Darin rief die Zeitung die künftige Biden-Regierung dazu auf, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. Die objektive Logik der endlosen Provokationen und Kriegspropaganda des amerikanischen und des deutschen Imperialismus ist die Vorbereitung eines offenen Kriegs gegen das Land mit dem zweitgrößten Atomarsenal der Welt. Die WSWS schrieb dazu letzte Woche: „Die amerikanische Arbeiterklasse muss die Flut antirussischer Propaganda als Warnung verstehen. Sie setzte unmittelbar nach der Abstimmung im Wahlmännerkollegium ein, die Biden als gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten bestätigt hat, und nur knapp einen Monat vor dessen Amtseinführung. Selbst wenn es den Demokraten gelingt, am 20. Januar 2021 eine friedliche Machtübernahme zu vollziehen, wird ihre Politik weiterhin von Kriegshetze und verschärften Angriffen auf die demokratischen und sozialen Rechte der amerikanischen Arbeiterklasse geprägt sein.“