Vor dem Hintergrund zunehmender Drohgebärden der NATO gegen Russland und China ist im türkischen Staatsapparat ein Konflikt über das Montreux-Abkommen ausgebrochen. Dieser völkerrechtliche Vertrag aus dem Jahr 1936 regelt die Durchfahrt zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer. Ex-Offiziere der Marine haben sich öffentlich gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan Vorhaben gewandt, den Vertrag im Zusammenhang mit dem geplanten Istanbul-Kanal außer Kraft zu setzen. Da mit dem Montreux-Abkommen auch die Durchfahrt von Kriegsschiffen ins Schwarze Meer begrenzt wird, könnte die NATO dann nach Belieben Kriegsschiffe aus dem Mittelmeer entsenden, um Russlands Küste zu bedrohen.
Der Istanbul-Kanal würde das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden. Große Tanker und Handelsschiffe müssten dann nicht mehr den engen Bosporus durchqueren. Im Jahr 2018 äußerte die in Hongkong erscheinende South China Morning Post die Befürchtung, dass das Projekt „ein Wettrüsten im Schwarzen Meer auslösen“ könnte, und fügte hinzu: „China schaut genau hin.“ Damals hatte der türkische Premierminister Binali Yıldırım erklärt, dass der Istanbul-Kanal nicht unter das Montreux-Abkommen fallen würde.
Das Thema hat seit Bidens Amtsantritt als US-Präsident an Brisanz gewonnen. Denn mittlerweile hat die Ukraine angekündigt, mit Unterstützung der NATO auf der Krim einzumarschieren und Russlands Schwarzmeer-Marinestützpunkt Sewastopol erobern. In den türkischen Medien wurde darüber breit diskutiert, nachdem ein Reporter den Parlamentsvorsitzenden Mustafa Şentop gefragt hatte, ob Erdoğan „das Montreux-Abkommen auflösen könnte“. Şentop, der Erdoğans regierender Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) angehört, antwortete: „Technisch gesehen, ja.“
Am 3. April gaben dann 104 pensionierte türkische Admirale eine Erklärung ab, in der sie sich dagegen aussprachen, den Vertrag zur Disposition zu stellen: „Mit Besorgnis stellen wir fest, dass das Montreux-Abkommen im Zusammenhang mit dem Istanbul-Kanal und der Befugnis zur Annullierung internationaler Verträge zur Debatte gestellt wird.“
Nach Ansicht der Admirale, allesamt langjährige NATO-Funktionäre, liegt das Infragestellen des Abkommens nicht im nationalen Interesse der Türkei. Sie stellen fest, dass es „nicht nur die Durchfahrt durch die Meerenge regelt und der Türkei die volle Souveränität über Istanbul, Çanakkale, das Marmarameer und die Meerenge zurückgab, sondern auch ein großer diplomatischer Sieg“ für die Türkei war.
Zwei Tage nach dieser Erklärung ließ die türkische Regierung zehn der Admirale verhaften. Sie warf ihnen vor, einen Putsch vorzubereiten, und stellte einen Zusammenhang zu dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 her, der von der NATO unterstützt worden war. Parlamentspräsident Şentop erklärte: „Seine Gedanken zu äußern ist eine Sache, eine Erklärung herauszugeben, die einen Staatsstreich heraufbeschwört, eine andere.“ Verteidigungsminister Hulusi Akar erhob den Vorwurf, den Ex-Admiralen gehe es darum, „unserer Demokratie zu schaden, die Moral und Motivation des Personals der türkischen Streitkräfte negativ zu beeinflussen und unsere Feinde zu befriedigen“. Innenminister Süleyman Soylu drohte: „Sollen sie nicht versuchen, unsere Geduld auf die Probe zu stellen.“
Erdoğan zufolge konnte die Erklärung „nicht als Redefreiheit bezeichnet werden“. Er bekräftigte, dass er das Abkommen durchaus aufkündigen könnte. „Derzeit betreiben wir keine Versuche, aus dem Montreux-Abkommen auszusteigen, und haben nicht die Absicht dazu“, so der türkische Präsident. „Sollte sich jedoch in Zukunft ein solcher Bedarf ergeben, werden wir nicht zögern, jedes Abkommen zu überprüfen, um ein besseres für unser Land abzuschließen. Und wir werden die internationale Diskussion darüber eröffnen.“
Der russische Präsident Wladimir Putin meldete sich telefonisch bei Erdoğan, um sich gegen den Ausstieg aus dem Montreux-Abkommen auszusprechen. Die Pressestelle des Kremls veröffentlichte eine kurze Mitteilung, in der es hieß: „In Bezug auf die Pläne der Türkei zum Bau des Istanbul-Kanals betonte Russland die Wichtigkeit der Erhaltung des Montreux-Abkommens von 1936, um die Stabilität und Sicherheit der regionalen Regelungen für die Schwarzmeerengen zu gewährleisten.“
Zuvor betonte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa: „Jeder Versuch, das Abkommen zu revidieren, berührt die Interessen unseres Landes. Wir sehen dieses Abkommen als einen Schlüsselfaktor für die Stabilität und Sicherheit im Schwarzmeerraum, insbesondere im Hinblick auf den Kriegsschiffsverkehr.“ Der russische Botschafter in der Türkei, Alexej Jerchow, hatte erklärt, dass das etwaige Projekt eines Istanbul-Kanals das Montreux-Abkommen nicht außer Kraft setzen würde. Es würde für die Türkei verbindlich bleiben.
Am Mittwoch beschuldigte Erdoğan die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP), sie versuche, „diese Erklärung, in der Putschgedanken anklingen, zu beschönigen“. Einige der Admirale, so der Präsident, seien CHP-Mitglieder.
Die Erklärung führte Zerwürfnissen zwischen der CHP und ihren Verbündeten, einschließlich der rechtsextremen Guten Partei. CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu verurteilte die Reaktion der Regierung als „künstliche Agenda“, und die mit der CHP verbündete kurdisch-nationalistische Demokratische Volkspartei (HDP) charakterisierte Erdoğans Entscheidung, eine „Putschdrohung aus einer schriftlichen Erklärung zu erfinden“, als „politische List und Opportunismus“.
Der Vorsitzende der Guten Partei, Meral Akşener, bezeichnete die Erklärung als „Dummheit“, doch sein Stellvertreter aus İzmir, Aytun Çıray, bezog Stellung auf Seiten der pensionierten Admirale.
Insgesamt schließen sich sowohl die türkische Regierung als auch die bürgerlichen Oppositionsparteien der Kriegstreiberei der imperialistischen NATO-Mächte an – mitten in der Corona-Pandemie.
Aufgrund der mörderischen „Herdenimmunitäts“-Politik der Erdoğan-Regierung liegt die Zahl der Neuinfektionen derzeit bei rund 55.000 pro Tag. Die Zahl der Todesfälle ist auf über 250 täglich gestiegen. Beide Werte sind auf Rekordhöhen seit Beginn der Pandemie. In der Arbeiterklasse der Türkei, ebenso wie weltweit, wächst die Empörung gegen den sozialen Mord, den die herrschende Klasse betreibt. Die Streikaktivität nimmt zu.
Die Drohungen der türkischen Regierung, das Montreux-Abkommen zu verwerfen, fallen mit den verstärkten Kriegsvorbereitungen der NATO gegen Russland und China zusammen. Insbesondere die Spannungen zwischen Russland und der von der NATO unterstützten Regierung in der Ukraine an der Nordküste des Schwarzen Meeres haben extrem zugenommen. Sie sind mittlerweile so scharf wie nie, seit rechtsextreme Kräfte den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014 in einem von den USA und Deutschland unterstützten Putsch gestürzt haben.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die türkische Regierung hat umfangreiche Waffengeschäfte mit der Ukraine abgeschlossen und unterstützt die Ukraine-Politik der NATO. Dennoch sind ihre Beziehungen zu allen Seiten angespannt: zur NATO, zu Russland und zu China.
Ein wesentlicher Faktor, der die Beziehungen Ankaras zu Washington verschlechterte, waren die Beziehungen der USA zu kurdisch-nationalistischen Kräften im Krieg für einen Regimewechsel in Syrien, der nun schon seit zehn Jahren andauert. Als die Milizen des Islamischen Staates (ISIS) in Syrien erstarkten und in den Irak eindrangen, warben die imperialistischen Mächte kurdisch-nationalistische Verbände als Stellvertretertruppen an. Da es Erdoğan nicht schaffte, sich an diese abrupte Veränderung in der imperialistischen Kriegspolitik anzupassen, galt er seinen imperialistischen Verbündeten fortan nicht mehr als „strategischer Partner“, sondern als unzuverlässiger Kantonist.
Washington und Berlin versuchten einen Militärputsch gegen Erdoğan anzuzetteln, scheiterten jedoch. Das war im Jahr 2016, als der jetzige US-Präsident Biden noch Vizepräsident unter Barack Obama war. Das Scheitern des Putsches hat die Beziehungen Ankaras zur NATO weiter untergraben.
Trotz der Androhung von US-Sanktionen kaufte die Türkei S-400-Luftabwehrsysteme von Russland und unterzeichnete ein Abkommen über eine strategische Erdgaspipeline mit Moskau. In den Stellvertreterkriegen der NATO in Libyen und Syrien sowie im jüngsten Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gerieten die Türkei und Russland zugleich wiederholt an den Rand eines direkten kriegerischen Konflikts. Es gelang es ihnen jedoch stets, einen solchen Zusammenstoß abzuwenden. Er würde die Gefahr eines globalen Kriegs zwischen der NATO und Russland mit sich bringen.
Erdoğan hat sich nach Bidens Amtsantritt um eine Verbesserung der Beziehungen zu Washington bemüht, doch die Konflikte zwischen Washington und Ankara bestehen fort. Die USA sprechen sich dagegen aus, dass die Türkei ein S-400-Luftabwehrsystem aus russischer Produktion kauft, und wünscht keine umfassenderen Beziehungen der Türkei zu Russland und China. Diese Woche verhängte das US-Außenministerium erneut Sanktionen gegen die türkische Behörde für militärische Anschaffungen und vier ihrer Beamten, nachdem Ankara sich geweigert hatte, die Pläne zum Kauf des S-400-Systems aufzugeben.
Überdies kritisierte Erdoğan die Äußerungen Bidens, in denen der US-Präsident den russischen Präsidenten Wladimir Putin einen „Mörder“ genannt hatte. Erdoğan bezeichnete diesen Begriff für Putin als „inakzeptabel“.
Unter diesen explosiven Umständen ist die Debatte über die Aufkündigung des Montreux-Abkommens eine Warnung an die Arbeiter in der ganzen Welt vor der sich rasch beschleunigenden Kriegsgefahr zwischen den Großmächten.