Nach Ostern und Ferienende breitet sich die dritte Pandemiewelle ungehindert aus. Europa hat die dramatische Marke von einer Million Corona-Toten erreicht. Verantwortlich für diese ungeheuren Opfer an Leben und Gesundheit sind die Europäische Union und die nationalen und regionalen Regierungen, die ihre Pandemie-Maßnahmen nach den Interessen der Wirtschaftsverbände und Konzerne richten. Das gilt auch für das rot-rot-grün regierte Berlin.
Hier stoßen das Offenhalten der Schulen und Notbetreuungen in den Kitas auf den wachsenden Widerstand von Lehrkräften, Erziehern, Eltern, Kindern und Jugendlichen. Während die Betroffenen gegen die Politik von Bildungssenatorin Andrea Scheeres (SPD) rebellieren, bleiben andere, ebenfalls folgenschwere Entscheidungen weitgehend unbemerkt.
Die Vorstandschefin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Eva Kreienkamp, ist entschlossen, die Vordertüren in den Berliner Bussen schnellstmöglich wieder zu öffnen. Hinter der Behauptung eines angeblich „sicheren Nahverkehrs“ stecken handfeste Wirtschaftsinteressen. Es geht darum, den Fahrkartenverkauf in den Bussen wieder zuzulassen.
Vergangenes Jahr erlitt die BVG infolge der Pandemie hohe Verluste, die durch den Senat mit 144 Millionen Euro ausgeglichen wurden. Dies dürfe sich nicht wiederholen, sind sich alle BVG-Aufsichtsratsmitglieder einig. Im Aufsichtsrat sitzen neben Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne), die den Vorsitz führt, auch die Mitglieder des Gesamtpersonalrats, Lothar Stephan und Janine Köhler, und der Verdi-Sekretär Jeremy Arndt.
Das Öffnen der Vordertüren, das bereits zum dritten Mal verschoben wurde, soll „noch im April“ erfolgen. Nun arbeitet die BVG mit Hochdruck an der Propaganda über einen angeblich Corona-sicheren Nahverkehr.
Angesprochen auf die Angst vor Ansteckung betonte BVG-Chefin Kreienkamp im Interview mit der Berliner Zeitung: „Inzwischen haben fast alle Busse im Fahrerbereich eine Schutzscheibe bekommen.“ Darüber hinaus beginne Mitte April ein Pilotprojekt, „bei dem wir im gesamten Busnetz die kontaktlose Zahlung testen“.
Der bargeldlose Ticketverkauf mache es möglich, in Corona-Zeiten „unnötige Kontakte“ zu vermeiden. Die dafür notwendigen Lesegeräte sind allerdings auf eine Art und Weise im Fahrerbereich angebracht, dass keine vollständige Abschirmung des Fahrers vor dem Fahrgast am Lesegerät möglich ist.
Um Sicherheit zu suggerieren, stützte sich Kreienkamp auf eine von der BVG in Auftrag gegebenen Studie der Technischen Universität Berlin und der Charité und behauptete: „Die Ergebnisse zeigen, dass sich Lüften sehr positiv auswirkt.“ Für diese „Erkenntnis“ wurde die Aerosolen-Ausbreitung in Bussen und Bahnen in Modellen gemessen.
Der BVG ignoriert dabei jedoch eine schon im August 2020 veröffentlichte holländische Studie an einem VDL-Eindecker-Bus, einem von der BVG stark genutzten Busmodell. Diese Studie warnt ausdrücklich vor der Öffnung der ersten Sitzreihe für Fahrgäste und kommt zum Schluss, dass auch der Einbau einer etwas größeren Glasscheibe die Ansteckungsgefahr nur minimal verringere. Bereits die Besetzung der ersten Sitzreihe hinter dem Fahrer erzeuge eine bis zu 65 Prozent höhere Übertragung von Luftpartikeln in Richtung Fahrer.
Obwohl die BVG-Leitung die erste Sitzreihe längst wieder freigegeben hat, halten Busfahrer diese mittels „Flatterband“ geschlossen. Dazu erklärte ein Busfahrer, Andy B.: „Wir kaufen unsere eigenen Mittel, eigene Flatterleine, um die erste Sitzreihe abzugrenzen, um das Gefühl des Abstands zu haben.“
Dies zeigt schon, dass Busfahrer eigene Initiativen ergreifen, um sich besser vor Ansteckung zu schützen. Gleichzeitig duldet die Geschäftsführung die Absperrungen in Eigenregie, offenbar aus Angst vor der Frustration und Wut, die sich unter dem Fahrpersonal ausbreitet.
Wie gewohnt steht die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi als verlängerter Arm des Vorstands auf Seiten der Betriebsleitung. Wenn sie Kritik an den fehlenden Schutzmaßnahmen übt, dient es stets der Verhinderung größerer Auseinandersetzungen.
Schon zu Beginn der Pandemie schrieb die Gewerkschaft auf mehreren Homepages, die Ansteckungsgefahr mit Covid-19 gehöre „zum normalen Lebensrisiko“. Daher verwundert es auch nicht, dass ihre Forderungen zu den Tarifverhandlungen für bessere Arbeitsbedingungen, die 2020 begannen und von Verdi auf Ende Mai 2021 verschoben wurden, kein Wort zum Schutz vor dem Corona-Virus enthalten.
In einem Offenen Brief vom 31. März 2021 haben Verdi-Personalräte, darunter Lothar Stephan und Jeremy Arndt, der BVG beim Umgang mit der Ansteckungsgefahr „viel Augenmaß und Sorgfalt“ bescheinigt. Die Gewerkschaftsfürsten behaupten: „Auch wenn wir uns im Detail an der einen oder anderen Stelle noch mehr Engagement und eine noch nachhaltigere Durchsetzung gewünscht hätten, so muss man insgesamt ein positives Bild zeichnen.“
Ganz anders sehen das viele Kollegen im Fahrdienst. Seit Ausbruch der Pandemie haben sich schon mindestens 340 Mitarbeiter mit dem Virus infiziert. Zwei BVG-Fahrer, der Tramfahrer Sven B. und ein Busfahrer vom Betriebshof Cicero-Straße, sind an Corona gestorben.
Täglich riskieren die Fahrer ihre Gesundheit und ihr Leben. In den sozialen Medien machen sie deutlich, dass der Schutz vor Ansteckung „in unserer Hand“ liegt und von der Geschäftsführung „abgepresst“ werden müsse, so wie die Absperrung der ersten Sitzreihe. Von Verdi lassen sie sich keinen Sand in die Augen streuen.
Dazu Andy B.: „Wir sind diejenigen, die sich nicht an unverantwortliche Dienstanweisungen halten, sondern an die Familie denken und an den Selbstschutz im Bus. Wir sind nicht mehr in der Gewerkschaft Mitglied, weil wir gemerkt haben, dass sie nicht mehr uns Arbeiter vertritt.“
Weder die Schicht- und Fahrpläne noch die Sicherheitsmaßnahmen für das Fahrpersonal und die Fahrgäste werden der dramatischen Verschärfung der Pandemie auch nur annährend gerecht. In den Betriebs- und Verwaltungsräumen der BVG wurde erst dann eine Maskenpflicht eingeführt, als immer mehr Mitarbeiter in Quarantäne versetzt wurden. Eine 2020 von der Geschäftsführung geplante Einschränkung des Busangebots wurde aufgrund von Protesten wieder zurückgenommen. Eine professionelle und tägliche Desinfektion aller Fahrzeuge mit Spezialreinigern, wie sie unter Pandemiebedingungen zwingend notwendig wäre, gibt es nicht.
Die Vordertür wurde für Fahrgäste erst verschlossen, als der Druck aus der Belegschaft zu groß wurde. Eine Plastikfolie, die verspätet und ebenfalls nur auf Druck des Fahrpersonals angebracht wurde und die Busfahrer trotz großer Mängel vom Fahrgastbereich relativ gut abschirmte, wurde von der Geschäftsführung wieder beseitigt.
Mit ihrem Offenen Brief vom 31. März reagieren die Verdi-Personalräte voller Sorge auf die Wut und Eigeninitiative der Busfahrer. Über das geplante Öffnen der Vordertüren schreiben sie: „Wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf aufmerksam machen, dass hier fahrlässig mit der Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen gespielt wird.“
Die Erfahrung zeigt, dass „alle verfügbaren Mittel“ bei Verdi nicht über zahnlose Appelle hinausgehen, und „darauf aufmerksam machen“ heißt keineswegs „handeln“. Schon ein Blick ins benachbarte Bundesland Brandenburg zeigt, dass die Ansage nicht ernst gemeint ist. Im „Speckgürtel“ rund um Berlin – wie in den meisten Bundesländern – wurde der Vordereinstieg schon seit Mitte 2020 (!) wieder zugelassen, ohne dass Verdi einen Finger dagegen krumm gemacht hätte.
Zu den Gefahren des geplanten Vordereinstiegs hat sich auch die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) schon mit Schreiben vom 9. März 2021 warnend geäußert, indem es heißt: „[D]ie eingebauten Scheiben [bieten] keinen ausreichenden Schutz.“
Die BVG bleibt davon völlig ungerührt. In einer Mitteilung an die Busfahrer vom 31. März 2021 schreibt sie in reißerischer Manier: „Schon gehört? Die Technische Universität Berlin und die Charité bestätigen: Die Luft in unseren Fahrzeugen mit Fahrgästen ist sicher!“ Und weiter: „Die neue Trennscheibe am Fahrerarbeitsplatz bietet euch zusätzlich effektiven Schutz.“ Die Aerosole hätten infolge der Maskenpflicht für Fahrgäste „keine Chance, sich frei im Bus zu verteilen“.
Für die Vorstandschefin stellen die 340 Mitarbeiter, die sich bereits mit dem Virus infiziert haben, keinen Grund zur Sorge dar. Ungerührt stellte sie fest: „Das ist vergleichbar mit der Ansteckungsquote in ganz Deutschland.“
Aktuell sind allein im Land Berlin 3128 Personen wegen Corona verstorben. Fast 10.000 sind infiziert. Die 7-Tage-Inzidenz lag am Dienstag bei 127,6 und steigt weiter. 775 Corona-Patienten liegen im Krankenhaus, die Hälfte davon auf der Intensivstation. Die Berliner Charité verweist auf die zunehmende Auslastung der Intensivstationen insbesondere mit Covid-Patienten im Alter zwischen 30 und 60 Jahren. Sie hat wieder auf „Notbetrieb“ umgestellt.
Mit der Pflicht zum Tragen von FFP-2-Masken auch in Bussen und Bahnen seit 1. April 2021 versucht der Berliner Senat halbherzig, der Ausbreitung des Virus entgegenzutreten. Wie Scheeres Verschärfung der Maskenpflicht in den Schulen Mitte März, dient auch diese Maßnahme ausschließlich der Verhinderung echter Schutzmaßnahmen.
Von der FFP2-Maskenpflicht ausgenommen sind Arbeiter und Angestellte an ihrem Arbeitsplatz, eine Entscheidung, die natürlich nicht auf der Annahme beruhen kann, dass man sich am Arbeitsplatz weniger anstecken würde. Dahinter stehen ausschließlich wirtschaftliche Erwägungen. Das Arbeitsschutzgesetz empfiehlt für das Tragen von FFP2-Masken eine begrenzte Tragedauer von maximal 75 Minuten mit anschließender Erholungspause von 30 Minuten. Die Einhaltung dieser Empfehlung hätte massiven Einfluss auf Pausenzeiten und Dienstpläne.
Die BVG verpflichtet das Fahrpersonal nicht zum Tragen der FFP2-Masken, sondern empfiehlt nur das Tragen derselben – im Wesentlichen zum Schutz vor kritischen Fahrgästen! Und obwohl viele BVG-Mitarbeiter verpflichtende Tests fordern, gibt es nach mehr als einem Jahr noch immer kein Testkonzept. Die BVG verzichtet ausdrücklich auf verpflichtende Tests für ihre Mitarbeiter und begründet dies damit, dass dank des geplanten bargeldlosen Fahrkartenkaufs ja kein direkter Kundenkontakt bestehe.
Die BVG-Busfahrer können sich zwar an vier Berliner Teststationen testen lassen, aber nur in ihrer Freizeit, ohne Zeitausgleich. Intern sind Corona-Testzentren längst angekündigt, die sich angeblich in irgendwelchen „finalen Abstimmungen“ befinden. Mit anderen Worten: Von den Busfahrern wird verlangt, dass sie ohne Testpflicht und ohne verpflichtenden FFP2-Maskenschutz, dafür aber mit „häufigem Lüften“ und „Spuckscheiben“, sich selbst und die ihnen anvertrauten Fahrgäste durch die dritte Pandemiewelle fahren.
Gegen diesen Durchseuchungswahnsinn können Busfahrer sich nur wehren, wenn sie sich mit ihren Kollegen in Aktionskomitees organisieren und ihren Schutz unabhängig von den Gewerkschaften selbst in die Hand nehmen.