„Die vierte Welle der Coronapandemie baut sich vor unseren Augen mit voller Kraft auf. Die Inzidenz erreicht die höchsten Werte seit dem Beginn der Pandemie – Tendenz steigend. Schon jetzt sterben in unserem Land 700 Menschen pro Woche – Tendenz steigend. Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben,“ heißt es in einem Brandbrief, den 35 namhafte Professoren und Wissenschaftler an die Bundes- und Landesregierungen gerichtet haben.
Initiiert von der Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann und dem Kölner Internisten Michael Hallek wurde der Brief unter anderem von den bekannten Intensivmedizinern Christian Karagiannidis und Uwe Janssens unterzeichnet. Inzwischen haben sich ihm Dutzende weitere Wissenschaftler angeschlossen.
Die Wissenschaftler lassen keinen Zweifel daran, dass die Katastrophe hätte verhindert werden können und die Regierungen die Verantwortung für tausende Corona-Tote tragen. „Einmal mehr ist der Zeitpunkt für frühzeitiges Handeln allen Warnungen zum Trotz verstrichen,“ schreiben sie und äußern ihre „tiefe Enttäuschung“ über „den wiederholt nachlässigen Umgang mit dem Wohlergehen der Menschen, die auf den Schutz des Staates angewiesen sind“.
Es sei für sie „unverständlich, dass die Verantwortungsträger dieses Landes eine solche Situation zugelassen haben, obwohl wir inzwischen über wichtige und wirksame Instrumente verfügen, um dem Sars-CoV-2-Virus Einhalt zu gebieten“. Obschon Wissenschaftler „eine Vielzahl von entsprechenden Handlungsempfehlungen“ deutlich kommuniziert hätten, seien diese „leider nur zögerlich, unvollständig oder nicht nachhaltig umgesetzt“ und „für die Pandemiebekämpfung zentrale und dringend notwendige Infrastrukturen wie z. B. die Kontaktrückverfolgung oder die Test- und Impfzentren“ wieder zurückgebaut worden.
Auch in der vierten Welle gelinge „das Pandemiemanagement nicht so, wie man es angesichts des Wohlstandes und der technologischen und administrativen Möglichkeiten Deutschlands erwarten sollte“. Stattdessen verlagere die Politik die Verantwortung „ins Private, das heißt in den Ermessensspielraum jedes einzelnen Menschen“.
Wissenschaftler sind keine Politiker. Ihr Brief geht nicht auf die Frage ein, weshalb die etablierten Parteien alle Erkenntnisse und Warnungen der Wissenschaft in den Wind geschlagen und stattdessen 5 Millionen Infizierte und 100.000 Coronatote in Kauf genommen haben, deren Zahl sich in diesem Winter zu verdoppeln droht. Stattdessen appellieren sie an dieselben Politiker, deren Verantwortungslosigkeit sie in scharfen Worten geißeln, „ihrer Verantwortung umfassend gerecht zu werden“ und ihre „Entscheidungen viel stärker als bisher an wissenschaftlichen Erkenntnissen“ auszurichten.
Das wird nicht geschehen. Die systematische Missachtung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ist weder ein Irrtum noch ein Missverständnis. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die die Gesundheit und das Leben von Menschen systematisch den Profitinteressen des Kapitals unterordnet.
Das Prinzip „Profite vor Leben“ bestimmte von Anfang an die Coronapolitik der Regierungen. Nicht nur in Deutschland. Mit ganz wenigen Ausnahmen – insbesondere China und Anfangs auch Neuseeland, Singapur und Australien, wo die Zahl der Infizierten und Toten sehr niedrig blieb – haben alle Regierungen diesen mörderischen Kurs verfolgt.
Lockdowns wurden erst verhängt, wenn die Intensivstationen überquollen und die Empörung außer Kontrolle zu geraten drohte. Kaum beruhigte sich die Lage etwas, wurden sie trotz eindringlicher Warnung der Wissenschaft wieder aufgehoben. In Deutschland gab es für Betriebe – einem der wichtigsten Infektionsherde – überhaupt nie einen Lockdown. Die Schulen mussten nach dem ersten Lockdown trotz fehlender Schutzmaßnahmen offenbleiben, damit die Eltern dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung standen. Die Jugend wurde – und wird – gezielt durchseucht, obwohl die gesundheitlichen Folgen verheerend sind.
Das führte – zusammen mit den milliardenschweren Coronahilfen der Bundesregierung – zu einer bespiellosen Bereicherungsorgie. Viele Betriebe schreiben trotz Umsatzeinbußen Rekordprofite, der DAX klettert nach zwei Jahren Pandemie von Höchststand zu Höchststand und das Vermögen der 100 reichsten Deutschen ist um 19 Prozent auf 722 Milliarden Euro gestiegen. Die Arbeiterklasse trägt die Kosten in Form von Tod, Durchseuchung, Sozialabbau, Reallohnsenkung und Jobverlust.
Die Folge dieser Politik ist eine vierte Welle der Pandemie, die alle bisherigen in den Schatten stellt. Die Sieben-Tage-Inzidenz – der Durchschnitt der täglichen Infektionen pro 100.000 Einwohner –, die im Sommer zeitweise im einstelligen Bereich lag, hat mit 303 einen neuen Rekord erreicht und steigt weiter steil nach oben. 16 Landkreise weisen inzwischen eine Inzidenz über 900 auf. Spitzenreiter ist Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit 1303. Das bedeutet, dass sich dort innerhalb einer Woche 1,3 Prozent der Bevölkerung anstecken.
Ähnlich hoch liegt die Inzidenz mit 264 in Europa. Hier ist Slowenien mit 1058 Spitzenreiter, gefolgt von Kroatien mit 918 und Österreich mit 851.
Auch die Zahl der Todesfälle steigt wieder exponentiell an. In der vergangenen Woche starben in Deutschland 1159 Menschen an einer Coronainfektion, zehn Mal so viele wie im Sommer. Die Intensivstationen sind im Osten und Süden des Landes bereits wieder überfüllt.
Trotzdem verschärfen SPD, Grüne und FDP bereits die „Profite vor Leben“-Politik der Großen Koalition, bevor sie überhaupt eine neue Regierung gebildet haben. Am Donnerstag wollen sie mit ihrer Mehrheit im Bundestag trotz eindringlicher Warnung von Ärzten und Wissenschaftlern die Epidemischen Notlage nationaler Tragweite auslaufen lassen. Damit wird die Eindämmung der Pandemie den Bundesländern überlassen, denen gleichzeitig die Möglichkeit für einschneidende Maßnahmen wie Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen und Impfpflichten genommen wird.
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, nannte diese Entscheidung angesichts von Inzidenzen um die 300 „absurd“. „Der Winter wird kalt. Es liegt an uns, dass er nicht auch noch bitter und tödlich wird,“ sagte er der Rheinischen Post. Wer sage, „keine Impfpflicht und nie wieder Lockdown“, habe die Epidemiologie des Virus nicht verstanden.
Besonders verheerend ist die Lage an den Schulen. In einigen Landkreisen liegt die Inzidenz unter Kindern und Jugendlichen mittlerweile über 900. Bisher ist nur etwa die Hälfte der über Zwölfjährigen und niemand der unter Zwölfjährigen geimpft. Sieben von elf Millionen Schülern haben keinen Schutz. Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, warnt deshalb vor einem „Kontrollverlust über das Pandemiegeschehen“ an Deutschlands Schulen in diesem Winter.
Trotzdem beharren alle Politiker, angeführt von Britta Ernst (SPD), der Vorsitzenden der Kulturministerkonferenz und Ehepartnerin des designierten Bundeskanzlers Olaf Scholz, darauf, dass „die Schulen weiter offenbleiben“. Dabei fehlen in den meisten Schulen auch im zweiten Jahr der Pandemie die elementarsten Sicherheitsmaßnahmen.
„Ich kann einfach nicht verstehen, warum man mit den Schulen wieder unvorbereitet in den Herbst und Winter geht,“ sagt die Virologin Isabella Eckerle, die den Brief der Wissenschaftler mitunterzeichnet hat, im Spiegel-Interview. „Es gab so viele Warnungen. Und es gibt inzwischen viele Empfehlungen für Schutzmaßnahmen an Schulen, deren Wirkung in validen Studien nachgewiesen wurde. Dazu hätte man den Sommer intensiv nutzen müssen.“ Es tue „richtig weh, dabei zuzuschauen, wie wir gerade wieder in eine Situation schlittern, die kurz davor ist, außer Kontrolle zu geraten“.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und die Vierte Internationale (IKVI), deren deutsche Sektion sie ist, haben von Anfang an darauf beharrt, dass der Kampf gegen die Pandemie nicht nur an der medizinischen, sondern auch und vor allem an der politischen und sozialen Front geführt werden muss.
Das Virus kann besiegt und eliminiert werden. Das erfordert eine Politik, die sich strikt an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert und alle verfügbaren Mittel – Impfungen, Masken, Lockdowns, Schul- und Fabrikschließungen, Unterstützung für die betroffenen Kinder und Familien, usw. – gleichzeitig zum Einsatz bringt.
Eine solche Politik stößt auf den erbitterten Widerstand der globalen Kapitalistenklasse und ihrer Handlanger in den etablierten Parteien, die jede Maßnahme ablehnen, die ihre Profite und ihren Reichtum gefährden. Aus diesem Grund kann die Pandemie nur durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse bekämpft werden. Ihre Überwindung erfordert ein sozialistisches Programm, das die Bedürfnisse der Gesellschaft – insbesondere die Gesundheit und das Leben von Kindern – über die Profitinteressen des Kapitals stellt.
Die SGP und ihre internationalen Schwesterorganisationen haben ein Netzwerk der Aktionskomitees für sichere Bildung aufgebaut, um den globalen Kampf gegen die Pandemie zu führen und zu koordinieren. Die World Socialist Web Site hat außerdem zwei Webinars mit führenden internationalen Experten organisiert, um ein Bündnis zwischen Wissenschaftlern und der Arbeiterklasse zu schmieden. Das letzte vom 24. Oktober wurde von mehr als 10.000 Menschen aus über 100 Ländern gesehen.
Schließt euch diesem globalen Kampf an, der notwendig ist, um die Pandemie zu beenden und weltweit Millionen Menschenleben zu retten.