Hans Magnus Enzensberger ist am 24. November 2022 gestorben. Er war ein Intellektueller und Schriftsteller, der aus dem Geistesleben und der literarischen Geschichte Deutschlands nach 1945 nicht wegzudenken ist. Er war von dieser nicht nur geprägt, er beeinflusste sie und setzte mit seinen Essays und Gedichten Wegmarken.
1929 geboren, war er in einer den Nazis zwar keinen Widerstand, aber Distanz entgegensetzenden Familie eines leitenden Fernmeldeingenieurs aufgewachsen. Nach dem militärischen Zusammenbruch des Dritten Reichs ist er abgestoßen von einer Gesellschaft, in der die alten Nazis in Politik, Justiz und Staatsverwaltung, an Universitäten und Schulen frech unter „demokratisch“ gewendeter Maske weitermachen, während die Millionen Todesopfer des Nationalsozialismus dem Vergessen anheimgegeben werden.
Gleich nach dem Abitur ergreift er die Gelegenheit, ins „gelobte Ausland“ auszubrechen. Er kann ein Jahr in Paris verbringen, taucht ein in die dort ausgetragenen Debatten berühmter Schriftsteller und Philosophen Europas. Doch das viel liberalere Kulturklima in Paris kann das große politische und geistige Elend nicht aus der Welt schaffen, das ganz Europa nach 1945 beherrscht: die hohe Kultur des Marxismus, die kaum mehr als 35 Jahre vorher durch die Russische Revolution 1917-1922 noch beflügelt worden war, ist durch den politischen Völkermord Stalins im Großen Terror an Hunderttausenden von Kommunisten, Sozialisten, fortschrittlich gesinnten Wissenschaftlern und Intellektuellen weitgehend vernichtet worden.
In Osteuropa wie in der Sowjetunion erwürgen die stalinistischen Bürokratien jede selbständige, revolutionäre Regung der Arbeiterklasse. Im Westen unterdrücken sie im Bunde mit den sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsbürokratien den Klassenkampf. Und so kann ein reaktionäres Gebräu von Irrationalismus, Mystizismus, Existenzialismus, katholischer und protestantischer Bigotterie das geistige Klima in Europa und insbesondere in Deutschland verseuchen.
Unter diesen Bedingungen wird der junge, sich explizit als Nonkonformist verstehende Schriftsteller Enzensberger von den Philosophen der Ende der 1940er Jahre entstehenden Frankfurter Schule, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno, angezogen. Diese verstecken ihre eigene Verzweiflung über die unverstandenen Tragödien der Klassenkämpfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre eigene Flucht in irrationalen Idealismus und Subjektivismus hinter pseudo-hegelianischen, pseudo-dialektischen und manchmal „marxistisch“ klingenden Phrasen, die sie als „Alternative“ zur Ideologie der herrschenden Klasse verkaufen.
Zurück in Deutschland trägt Enzensberger, stark beeinflusst von Adornos „Kulturkritik“ und Medientheorie, 1957 im Rundfunk eine ätzende, aber auf sachlicher, unwiderlegbarer Analyse beruhende Polemik gegen den Jargon des sogenannten „Nachrichtenmagazins“ Der Spiegel vor und wird damit mit einem Schlag bekannt.
Wie ein Blitz in schwüler Wetterlage schlägt der erste, ebenfalls 1957 veröffentlichte Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ ein. Er trifft das Lebensgefühl einer ganzen Generation, der damals 20-bis 30-Jährigen, die wie Enzensberger für die Gesellschaft, in die sie hineingeboren waren, nichts als Verachtung und Empörung übrighaben.
Aber auch in der Lyrik Enzensbergers schimmert die Haltung Adornos wie der anderen Vertreter der Frankfurter Schule gegenüber der Arbeiterklasse, gegenüber den „Massen“ durch: alles nehmen die Massen hin, lesen täglich die Bild-Zeitung, konsumieren nur im Rausch des beginnenden Wirtschaftswunders, „wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts“. „Ihr ändert die Welt nicht“, endet das titelgebende Gedicht des Bandes.
Frankfurter Schule nicht in einem für die meisten Menschen unverständlichen pseudo-intelligenten Kauderwelsch, könnte man sagen, sondern in geradezu luftigen, leicht zugänglichen, frechen, manchmal auch traurigen oder bösen Versen.
1963 erhält Enzensberger den wichtigsten Literaturpreis, den Büchner-Preis. Er ist jetzt international bekannt und anerkannt. Gemeinsam mit Heinrich Böll und Günter Grass wird er von einer gegenüber dem offiziellen Deutschland immer noch misstrauischen Weltöffentlichkeit als Vertreter eines anderen, eines besseren Deutschlands angesehen und gefeiert.
Beschwingt durch die wachsenden Klassenkämpfe in dem nach dem Wiederaufbau von ersten tiefen Krisen geschüttelten Europa, von der Bürgerrechtsbewegung in den USA und den nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien, Lateinamerika gründet er 1965 das Kursbuch. Mit dieser Zeitschrift gibt er den ideologischen Wortführern des in aller Welt sich radikalisierenden Kleinbürgertums eine Plattform für den Austausch ihrer Ideen. Schriftsteller mit Rang und Namen sind in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in diesem Vademecum des Protestes zu finden. Was sie alle vereint, ist die Feindschaft gegenüber dem Trotzkismus und das Nachbeten der antikommunistischen Jahrhundertlüge: „Stalinismus ist gleich Sozialismus!“ Oder, „kritisch“ betrachtet, er sei eben der „real existierende Sozialismus“.
Während der Studentenrevolte 1967/68, insbesondere während der Proteste gegen die Notstandsgesetze, die von der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Mai 1969 verabschiedet wurden, spielten Enzensberger und das Kursbuch eine maßgebliche Rolle.
Er rief zur Nachahmung der „französischen Zustände“, des Generalstreiks vom Mai/Juni 1968 in Frankreich auf. Doch schon ab Ende 1968 gibt er mit Essays und ironischen Bemerkungen im Kursbuch, mit Parodien über Träume und Visionen, die wie die Titanic versunken seien, das Signal zum Rückzug.
Die Essays „Das Ende der Konsequenz“ (1981) und „Zur Verteidigung der Normalität“ (1982) signalisieren: H.M. Enzensberger hat sich arrangiert mit dem Kapitalismus. „Alle revolutionären Visionen des 19. Jahrhunderts, der Marxismus ebenso wie der Anarchismus haben sich als gescheitert, als nicht realisierbar erwiesen,“ führt er später immer wieder in Interviews als Begründung dieser Abwendung von früher vertretenen Positionen an.
Und: „Nur Bäume brauchen einen Standpunkt! Menschen müssen beweglich sein, müssen stets ihren Standpunkt ändern!“ – diese zynische Floskel dient ihm als Begründung für seine Einrichtung in der „Normalität“ des spießbürgerlichen Opportunismus.
Zur selben Zeit gründen zahlreiche Maoisten, Spontis, Stalinisten in Deutschland die Grünen als rein bürgerliche Partei. In der Gründungssatzung wird vereinbart, dass ihre Mitglieder jeglicher Referenz auf Sozialismus oder Marxismus abschwören.
Enzensberger bleibt literarisch und verlegerisch sehr produktiv, politisch jedoch siecht er dahin – bis die Zerstörung der Sowjetunion und der DDR durch die dort herrschenden stalinistischen Bürokraten und die Restauration des Kapitalismus im Osten ihn wie alle kleinbürgerlichen Ex-Radikalen in neuen Schwung versetzen – weit nach rechts!
Die Grünen helfen wie die SPD und die Gewerkschaften der Bundesregierung unter Helmut Kohl, in Zusammenarbeit mit den gewendeten Stalinisten der SED (umgetauft in PDS, später „Die Linke“) in der ehemaligen DDR die verstaatlichten Eigentumsverhältnisse und die damit verbundenen sozialen Rechte der Arbeiter zu zerschlagen, Massenarbeitslosigkeit und Armut zu schaffen.
Enzensberger aber setzt für die herrschende Klasse ein wichtiges außenpolitisches Signal: mit einem Essay im Spiegel erklärt er im Februar 1991 seine uneingeschränkte Unterstützung für den grausamen Kolonialkrieg, den die USA mit Unterstützung der Nato-Verbündeten gegen den Irak führen, um die riesigen Ölquellen des Landes unter ihre Kontrolle zu bekommen. Und um ihre militärische Vormacht in der Welt – auch gegenüber dem soeben vereinten, zur europäischen Großmacht in Europa aufgestiegenen Deutschland zu demonstrieren.
Der irakische Staatspräsident Saddam Hussein sei eine Wiedergeburt Hitlers, lautet Enzensbergers Begründung, das unglaubliche Blutbad, das die Militärmaschinerie der USA in dem ehemaligen Kolonialland anrichtet, sei daher ein „Befreiungskrieg“. In Wirklichkeit ist es der Auftakt für 30 Jahre unaufhörlicher Kriege der USA und ihrer NATO-Verbündeten in ehemaligen Kolonialländern des Nahen Ostens, Zentralasiens, Afrikas zur Neuaufteilung der Welt nach der Restauration des Kapitalismus in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und China. [1]
Selbst nachdem die Ausmaße der Zerstörung und des Blutbads bekannt sind, das die USA im Irak angerichtet haben, hält Enzensberger an seiner Position fest. In der Sache habe er recht gehabt, nur die Wortwahl würde er heute ändern, sagt er dazu auch Jahre später in Interviews.
Zwar bleibt er in den folgenden drei Jahrzehnten literarisch weiterhin kreativ, schafft mit Kinder- und Jugendbüchern sogar weltweite Bestseller. Aber politisch, als demokratischer Rebell oder auch nur Mahner ist Enzensberger mit diesem Kniefall vor dem Imperialismus endgültig tot. Dieses verstörende und erschreckende Ende hat eine Bedeutung, die weit über Enzensberger als Schriftsteller und Individuum hinausgeht.
Denn wer wirklich eine Wiedergeburt sofort nach der Vereinigung Deutschlands erlebt, ist der deutsche Militarismus, der schon zwei Weltkriege ausgelöst hat. Die Ex-Radikalen der 1960er und 1970er Jahre, allen voran Enzensberger und die Grünen, sind dabei seine Taufpaten. „Verteidigung der Menschenrechte“, „Verteidigung der Demokratie“ sind die verlogenen Namen, die sie ihm geben, um seine wahren und uralten Ziele zu verschleiern: die Vorherrschaft der deutschen Konzerne und Banken in Europa und die Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten.
Es sind die Grünen unter Bundesaußenminister Joschka Fischer, die 1998 den ersten Bundeswehreinsatz in einem völkerrechtswidrigen Krieg seit 1945 durchsetzen, und das ausgerechnet auf dem von der Wehrmacht mit Massenmorden und Verwüstung überzogenen Balkan.
Und heute, wieder 25 Jahre später, sind die Grünen die wichtigste und rücksichtsloseste Kriegspartei, die Deutschland wieder in einen neuen, den Dritten Weltkrieg treibt, indem sie auf einen „Endsieg“ über Russland setzt, die Ukraine und vor allem die Bundeswehr gigantisch aufrüstet so wie Hitler die Wehrmacht in den 1930er Jahren.
Enzensberger hat also 1991 mit seinem Spiegel-Artikel zum Irak-Krieg ein weit vorausweisendes Wegzeichen gesetzt.
Anlässlich seines zweiten, seines physischen Todes veröffentlichen wir daher heute den Artikel, mit dem dieser Autor am 22. Februar 1991 in der Neuen Arbeiterpresse auf Enzensberger geantwortet hat, in leicht editierter Form und mit erklärenden Fußnoten für den heutigen Leser. Die Neue Arbeiterpresse war damals die Wochenzeitung des Bunds Sozialistischer Arbeiter, der Vorläuferorganisation der Sozialistischen Gleichheitspartei, der deutschen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.
* * *
Der Fall Hans Magnus Enzensberger
Wolfgang Weber, 22. Februar 1991
Am 4. Februar 1991 erschien im Spiegel (6/1991) ein aufsehenerregender Essay von Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel „Hitlers Wiedergänger“. Aufsehen erregte er freilich nicht durch die zentrale Aussage, mit der er auf der Titelseite des Magazins groß und auflagensteigernd angekündigt wurde, nämlich „Saddam = Hitler“. Mit dieser Behauptung haben nämlich der US-Präsident George W. Bush, der französische Staatspräsident François Mitterand, die britische Premierministerin Margaret Thatcher und Deutschlands Bundeskanzler Helmut Kohl schon monatelang vor Beginn des Bombenterrors gegen die irakische Bevölkerung versucht, diesen als „Befreiungskrieg“ darzustellen.
George W. Bush, dem Organisator, Geldgeber und Nutznießer zahlreicher Militärdiktaturen, rassistischer oder faschistischer Regimes wie in Südafrika, Chile, der Türkei, wird kaum ein denkender Mensch die Behauptung abnehmen, ein antifaschistischer Befreiungskämpfer zu sein; ebenso wenig Helmut Kohl, dem Vertreter derselben deutschen Banken und Konzerne, die den Hitler-Faschismus finanziert und davon profitiert haben.
Umso mehr Aufsehen erregte die Tatsache, dass jenes Traktat im Spiegel aus der Feder eines berühmten Schriftstellers stammt, der über Jahrzehnte hinweg als radikaler Kritiker des Kapitalismus im Allgemeinen und der kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland im Besonderen galt.
In den sechziger und siebziger Jahren spielte Enzensberger als Herausgeber des Kursbuchs, eines politisch-literarischen Magazins eine Schlüsselrolle in der Studentenbewegung. Er schrieb zahlreiche sprachlich meisterhafte, politisch beißende Gedichte und Essays, in denen er die von Alt-Nazis durchsetzte bürgerliche Gesellschaft Deutschlands und die koloniale Unterdrückung armer, rückständiger Länder durch die Imperialisten kritisierte.
Berühmt wurde seine szenische Dokumentation Das Verhör von Habana über die „Operation Schweinebucht“, die – fehlgeschlagene – Invasion der USA unter Präsident John F. Kennedy in Kuba im April 1961.[2]
Jetzt, 20 Jahre später, wirft Enzensberger seine Autorität des „radikalen Linken“ in die Waagschale – und tritt plötzlich als vehementer Befürworter eines brutalen Kolonialkrieges auf.
Seine Argumente dafür verdienen daher, genauer untersucht zu werden.
1. Der Charakter der Hitler-Diktatur
Enzensberger schreibt:
Die Parallele zu Hitler ist evident. Auch dem Führer ging es nicht darum, den einen oder anderen inneren oder äußeren Gegner zu besiegen.
Dies ist eine grobe Geschichtsfälschung!
Enzensberger, der sich in der Geschichte des Klassenkampfs[3] ebenso gut auskennt wie in der Geschichte der Literatur, weiß sehr genau, dass das Hitler-Regime im Auftrag der herrschenden Klasse als allererstes den inneren Feind niederschlagen musste: die Arbeiterklasse.
Die ersten Konzentrationslager wurden unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers mit Tausenden von Arbeitern, KPD- und SPD-Mitgliedern, Gewerkschaftsfunktionären und Widerstandskämpfern gefüllt. Unzählige von ihnen wurden umgebracht. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, politische Parteien der Arbeiterklasse wie SPD und KPD verboten, alle Rechte der Arbeiterklasse unterdrückt.
Von den deutschen Banken und Industriekonzernen waren Hitler und der Nationalsozialismus genau zu diesem Zweck finanziert und an die Macht gebracht worden. Nur so konnten sie hoffen, die brutalsten Ausbeutungsbedingungen gegen die Arbeiterklasse durchsetzen und einen neuen Krieg gegen ihre imperialistischen Rivalen zur Neuaufteilung der Kolonien, zur Zerstörung der Sowjetunion und zur Erschließung ihrer Rohstoffquellen und Absatzmärkte führen zu können. Die Ermordung von sechs Millionen Juden war Bestandteil dieser Klassendiktatur. Sie traf hauptsächlich die armen proletarischen und kleinbürgerlichen Schichten Osteuropas und Russlands, oder diente, sofern Bankiers und reiche Geschäftsleute betroffen waren, der Enteignung und Entfernung unliebsamer Konkurrenz.
Enzensberger leugnet diesen Klassencharakter des Hitlerregimes als offene Diktatur des Kapitals und verschleiert seine historische Rolle, indem er Hitler schlicht zu einem „Feind des Menschengeschlechts“ erklärt. Weshalb? Weil er nur so Hitler und Saddam Hussein gleichsetzen, beide gleichermaßen zu „Feinden des Menschengeschlechts“ erklären kann.
Nur so gelingt ihm das Kunststück, die faschistische Diktatur einer hochentwickelten Industriemacht, die nach der Weltherrschaft strebt, auf dieselbe Ebene wie ein bürgerliches Regime eines unterdrückten, ehemaligen Koloniallandes zu stellen, das den imperialistischen Mächten und ihren Bestrebungen nach uneingeschränkter kolonialer Unterdrückung in die Quere kommt.
Nur auf dieser Grundlage kann er behaupten, dass nicht der US-Präsident Bush und seine Verbündeten in Europa mit ihrer Abschlachtung von Hunderttausenden von irakischen Arbeitern, Bauern, Frauen und Kindern in der Tradition des Nazi-Faschismus stehen, sondern Saddam Hussein.
Natürlich muss Enzensberger dazu nicht nur die Geschichte, sondern auch die Tatsachen des gegenwärtigen Krieges auf den Kopf stellen. Laut Enzensberger sind nicht Bush, Mitterrand und Kohl mit dem „Ausradieren der Städte“ beschäftigt, sondern Saddam Hussein.
2. Legitimation für Völkervernichtung
Nachdem er Hitler als „Feind der Menschheit“ definiert hat, beschäftigt er sich mit den Ursachen seiner Diktatur. Laut Enzensberger sind nicht die Kapitalisten dafür verantwortlich und nicht ihre Handlanger in den sozialdemokratischen und stalinistischen Arbeiterbürokratien, welche die Arbeiterklasse politisch entwaffnet und 1933 völlig kampflos an den Faschismus ausgeliefert haben.
Die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer hatten im Mai-Aufruf von 1933 die Arbeiterklasse sogar offiziell zur „Zusammenarbeit mit dem neuen Staat“ und als Beweis für ihre Loyalität den Nazis gegenüber zum Marschieren unter dem Hakenkreuz am 1. Mai aufgerufen. Sie gaben damit eine Garantieerklärung ab, dass sie keinerlei Widerstand organisieren würden. Einen Tag später, am 2. Mai 1933 beantworteten dies die Nazis mit dem Sturm auf die Gewerkschaftshäuser und der Zerschlagung der Gewerkschaften.
Aber nein, nicht diese verräterischen Führer der Arbeiterklasse, sondern „das Volk“ und seine „Todessehnsucht“ sind laut Enzensberger dafür verantwortlich, dass die Kapitalisten ihre Pläne durchsetzen konnten:
In die Geschichte kann ein Hitler, ein Saddam nur dadurch treten, dass ganze Völker ihr Kommen herbeiwünschen. Ihre Macht wächst nicht aus den Gewehrläufen, sondern aus der grenzenlosen Liebe und Opferbereitschaft ihrer Anhänger. ... Was die Deutschen begeisterte, war nicht allein die Lizenz zum Töten, sondern mehr noch die Aussicht darauf, selbst getötet zu werden. Ebenso inbrünstig äußern heute Millionen von Arabern den Wunsch, für Saddam Hussein zu sterben.
Nicht die Gewehrläufe der SS und Gestapo, nicht der Terror des Volksgerichtshofes gegen jeden Widerstand, nicht Zigtausende von vollstreckten Todesurteilen, nicht Folterungen und Konzentrationslager haben also, so Enzensberger, den Hitler-Faschismus gestützt, sondern die „grenzenlose“ Opferbereitschaft und Todessehnsucht des Volkes.
Die Ursache dieser Todessehnsucht sieht Enzensberger in einem
… Gefühl einer lang andauernden kollektiven Kränkung, die das Selbstwertgefühl von Millionen bis auf den Grund zersetzt. Auch unter diesem Gesichtspunkt könnten sich die Deutschen, wenn sie ein besseres Gedächtnis hatten, in den Arabern wiedererkennen. … Die Parallele [von den Deutschen] zu den Völkern des Nahen Ostens liegt auf der Hand. Wenn ein Kollektiv keine Chance mehr sieht, seine – reale und imaginäre – Erniedrigung durch eigene Anstrengungen wettzumachen, bietet es seine ganze psychische Energie auf, um unermessliche Vorräte an Hass und Neid, Ressentiment und Rachsucht anzulegen. Es fühlt sich als Spielball und Opfer der Verhältnisse und leugnet jede eigene Mitverantwortung (!) für die Lage, in der es sich befindet. Die Suche nach dem Schuldigen kann beginnen. Dann ist die Stunde des Führers gekommen. Der Feind der Menschheit kann sich mit der gesammelten Todesenergie der Massen aufladen.
Denkt man diese Gedankengänge Enzensbergers konsequent zu Ende, lassen sie nur eine einzige Schlussfolgerung zu: Wenn der Faschismus seine historischen und sozialen Wurzeln nicht in der kapitalistischen Klassengesellschaft hat, sondern in den „anthropologischen Problemen“ eines von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Volkes, dann muss man, um eine faschistische Diktatur zu beseitigen, das gesamte Volk ausrotten!
Und wenn die Mobilisierung und Kampfbereitschaft von „Millionen von Arabern“ gegen koloniale Unterdrückung gleichzusetzen ist mit der faschistischen Nazi-Ideologie aufgehetzter Kleinbürgermassen, dann gilt es eben diese Millionen von Arabern auszulöschen.
Folgerichtig ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Vernichtungskrieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak zu unterstützen.
Diese Schlussfolgerung ist nicht hineininterpretiert, sondern Enzensberger selbst spricht sie aus:
Die Beseitigung Hitlers hat ungezählte Menschen das Leben gekostet. Der Preis für die Entfernung Saddam Husseins von der Erdoberfläche wird astronomisch sein...
Einen triftigen Grund, diese „chirurgische Operation“ dann nicht nur mit Hunderttausenden von Tonnen an Brand-, Benzin- und Splitterbomben, sondern auch mit Nuklearwaffen durchzuführen, kann es bei dieser Argumentation nicht mehr geben – und gibt es auch nicht bei Enzensberger. Im Gegenteil, er sieht bereits die nächsten Angriffsziele imperialistischer „Befreiungskriege“, nämlich die gesamte „arabische Welt“, den indischen Subkontinent und die Sowjetunion. Dort liegt seiner Meinung nach eine nukleare „Endlösung“ nahe.
Wörtlich heißt es bei ihm:
Es ist absehbar, dass in Zukunft andere Völker ihren und unseren Henkern zujubeln werden. Ewige Verlierer gibt es in allen Himmelsrichtungen. Unter ihnen nimmt das Gefühl der Demütigungen und die Neigung zum kollektiven Selbstmord mit jedem Jahr zu. Auf dem indischen Subkontinent und in der Sowjetunion liegt dafür das nukleare Arsenal bereit. Woran Hitler und Saddam gescheitert sind, am Endsieg, das heißt, an der Endlösung – ihrem nächsten Wiedergänger könnte sie gelingen.
Enzensberger formuliert damit in literarischer Form das Rezept, wie die Arbeiter- und Bauernmassen vernichtet werden können, die sich dort in noch viel gewaltigerer Anzahl als im Nahen Osten zu erheben drohen, um gegen ihre Unterdrücker und – im Falle der Sowjetunion – gegen deren Versuch zu kämpfen, mit Hilfe Gorbatschows wieder kapitalistische Ausbeutung einzuführen.
3. Der Feind im Inneren
Enzensberger macht nicht nur die nächsten äußeren Kriegsgegner, sondern auch den inneren Feind aus, mit dem es fertigzuwerden gilt: die deutsche Jugend, die wie das gesamte deutsche Volk latent faschistoid, d.h. von einer „Neigung zum kollektiven Selbstmord“ erfasst ist, von „Restbeständen des Faschismus, an die niemand erinnert werden möchte“.
Als Beweis dafür sieht er die Tatsache, dass „ein erheblicher Teil der deutschen Jugend sich eher mit den Palästinensern identifiziert als mit den Israelis“ und „ihren Protest lieber gegen George W. Bush als gegen Saddam Hussein richtet“, d.h. in der Tatsache, dass sich Jugendliche spontan eher mit den Opfern, den Palästinensern und arabischen Massen, als mit den Organisatoren imperialistischer und rassistischer Unterdrückung, den USA und dem Staat Israel solidarisieren.
Diese Position Enzensbergers zu Ende gedacht bedeutet nichts anderes, als dass ebenso wie der koloniale Vernichtungskrieg nach außen auch die polizeistaatliche Unterdrückung nach innen unterstützt werden muss, die gegen die Arbeiterklasse und Jugend gerichtet ist.
Der reaktionäre Charakter dieser Position Enzensbergers wird an der Tatsache deutlich, dass die Herrschenden in Deutschland bereits kräftig dabei sind, nicht nur ihren Militarismus nach außen wiederzubeleben, sondern auch ihre polizeilichen Unterdrückungsmaßnahmen zu verschärfen.
In Berlin und Bayern sind alle Angehörigen der arabischen Nation als „potentielle Terroristen“ ihrer demokratischen Rechte beraubt und unter direkte Polizeiaufsicht gestellt worden; in der IG Metall-Verwaltungsstelle Heidelberg findet eine Polizeirazzia im Stil der dreißiger Jahre statt, und zwar wegen eines Antikriegsaufrufs; Antikriegsdemonstranten werden verhaftet; die weitere Verschärfung der Polizeigesetze ist geplant und das Inkrafttreten der Notstandsgesetze im Falle eines offiziellen Kriegseintritts Deutschlands vorbereitet.
Nichts von alledem lässt Enzensberger einhalten oder auch nur zögern.
In den 60er Jahren hat er die koloniale Unterdrückung der Völker im Nahen Osten, in Lateinamerika, Asien und Afrika angeprangert und analysiert, die Revolutionen und Befreiungskämpfe in Algerien, Kuba und Vietnam unterstützt. In den 70er Jahren hat er noch gegen den Aufbau des Polizeistaats in Deutschland geschrieben. Derselbe Mann stellt nun plötzlich seine nicht unbeträchtlichen literarischen Talente uneingeschränkt in den Dienst der einst kritisierten Mächte und ihrer Kriegspropaganda.
Und dies auch noch in demselben Magazin, von dem er bereits 1957 in einem brillanten Essay „Die Sprache des „Spiegel“geschrieben hat, es besäße „die Macht und die Fähigkeit, nicht nur korrupte Minister zu stürzen, sondern auch die Meinung von Millionen zu korrumpieren!“[4]
4. Enzensberger – ein soziales Phänomen
Diese politische Kehrtwendung ist nicht aus dem Individuum Enzensberger zu erklären, sondern aus der sozialen Entwicklung bestimmter kleinbürgerlicher Schichten, deren ideologisches Sprachrohr Enzensberger stets gewesen ist. Die Position dieser gesellschaftlichen Schichten innerhalb der kapitalistischen Klassengesellschaft hat sich in den letzten Monaten grundlegend verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie systematisch als Puffer zwischen den beiden Hauptklassen, der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, aufgebaut worden. Sie wurden mit der Verwaltung der kapitalistischen Staatsgeschäfte, der Gestaltung der „bürgerlichen Bewusstseinsindustrie“ (Enzensberger), d.h. der Medien, des Ausbildungs- und Bildungswesens betraut und mit Hilfe stattlicher Privilegien an das kapitalistische System gebunden.
In den 60er und 70er Jahren reagierten diese Schichten auf die wachsenden nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, auf die Bürgerrechtsbewegung in den USA, den Vietnamkrieg und auf die Krise des Kapitalismus in den zentralen Industrieländern mit der sogenannten Studentenbewegung. Doch diese ging in ihren Perspektiven nie über einen, wenn auch manchmal mit radikalen Phrasen vorgetragenen, Protest hinaus.
Ihre Ideologen wie Enzensberger lehnten ausdrücklich die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse und damit die Perspektive einer proletarischen Revolution zum Sturz des Kapitalismus ab. Sie benutzten marxistische Phrasen, um den Marxismus zu entstellen. Sie wandten sich an die Arbeiterbewegung, nicht um sie mit einem revolutionären Programm zu mobilisieren, sondern lediglich um sie als Druckmittel für die Durchsetzung ihres eigenen, bürgerlichen Reformprogramms zu benutzen, für die Durchsetzung ihres eigenen Aufstiegs in Staat und Gesellschaft.
Politisch endeten sie alle damit, die Sozialdemokratie und den Stalinismus zu umarmen oder zumindest sich „kritisch-distanziert“ vor ihnen zu verbeugen. Von der fortdauernden Kontrolle dieser konterrevolutionären Bürokratien über die Arbeiterklasse versprachen sie sich eine stabile und beschauliche Zukunft im Kapitalismus. Viele von ihnen wurden DKP-Mitglieder, Maoisten, stiegen in der SPD- oder Gewerkschaftsbürokratie auf oder betätigten sich, wie die revisionistischen Organisationen, als deren linke Feigenblätter.
Während der achtziger Jahre, einer Periode, in der das einzige, was im Kapitalismus noch blühte, die hemmungslose Bereicherung der Kapitalisten durch Finanzspekulationen und Kreditschwindel war, gaben Teile dieser kleinbürgerlichen Schichten mehr und mehr ihre antikapitalistischen Phrasen auf und stürzten sich selbst in die Geschäfte — als Yuppies an der Börse, als Verleger oder gefragte Autoren in der „Bewusstseins-Industrie“ oder als Minister im kapitalistischen Staat wie Michel Rocard und Jean-Pierre Chevènement in Frankreich oder der ehemalige Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder und Joschka Fischervon den Grünen in Deutschland.[5-8]
In den letzten zwei Jahren nun ist die materielle Position dieser kleinbürgerlichen Schicht und damit ihre Funktion als Puffer zwischen den Klassen stark erschüttert worden. Der Beinahe-Zusammenbruch der Börsen,[9] die Verschärfung der Handelskriege zwischen den Großmächten und der drohende Staatsbankrott führender kapitalistischer Nationen untergraben ihre Möglichkeiten, sich zu bereichern.
Schließlich ist mit dem Kollaps der osteuropäischen stalinistischen Bürokratien und der Krise des Stalinismus in der Sowjetunion ein entscheidender politischer Pfeiler der gesamten imperialistischen Nachkriegsordnung gefallen. Je mehr sich die Klassenkonflikte durch den Anschluss der DDR und den Krieg am Golf auch in Deutschland zuspitzen, desto mehr geraten auch die sozialdemokratischen Bürokraten, die für die Kapitalisten Billiglohnarbeit und Massenarbeitslosigkeit organisieren, in Gefahr, die Kontrolle über die Arbeiterklasse zu verlieren.
Diese Veränderung in den Klassenbeziehungen hat Teile des privilegierten Kleinbürgertums nach rechts getrieben. Ihre Ideologen und literarischen Vertreter wie Enzensberger sehen keine andere Perspektive, als sich vollständig in die Arme der herrschenden Klasse zu werfen. Gerade in dem Moment, wo diese sich erneut zu Krieg und Diktatur rüstet, treten sie offen als Verteidiger der wankenden kapitalistischen Ordnung und als Herold imperialistischer Kriege auf.
Dass dies ein soziales Phänomen und kein individueller „Fall Enzensberger“ ist, zeigt schon die Tatsache, dass Enzensberger nicht alleinsteht. Zu ihm gesellen sich Wolf Biermann, der in Die Zeit, der Wochenzeitung für den „jebildeten“ Kleinbürger, am 1. Februar eine zweiseitige geifernde Hetztirade gegen die Friedensdemonstrationen gegen den Irakkrieg vom Stapel ließ und schrieb:
Damit wir uns richtig missverstehen: Ich bin für diesen Krieg am Golf! – natürlich geht es den Amerikanern auch ums Öl. Ich bin froh, dass es solche zuverlässig miesen Interessen gibt. Israel stünde sonst allein da.
Eine Woche später meldete sich in derselben Zeitung ein anderer Chefideologe der einstigen Studentenbewegung, Jürgen Habermas: [10]
Um es vorwegzusagen: Die Intervention als solche – Habermas ist Philosoph! – halte ich für gerechtfertigt! [11]
Ähnlich äußerten sich bereits die „Kritikerin der Sozialdemokratie“ Cora Stephan und andere Größen der ehemaligen Studentenbewegung, ganz zu schweigen von den Grünen-Politikern Joschka Fischer, Udo Knapp und Klaus Hartung, die offen zur Beteiligung Deutschlands am Waffengang aufrufen – und zwar alle unter dem heuchlerischen Vorwand der „Verteidigung Israels“.
5. Enzensberger und der Marxismus
Diesen ideologischen Führern des Kleinbürgertums ist allen ein Umstand gemeinsam, nämlich dass sie sämtliche auch noch so oberflächlichen oder formalen Beziehungen zur Arbeiterklasse aufgekündigt haben und den Bankrott des Stalinismus zum Ende des Marxismus erklären. Sie geben offen zu erkennen, dass sie, sofern sie den Stalinismus je kritisiert haben, dies stets von rechts, vom Standpunkt der bürgerlichen Demokratie und des Antikommunismus, und nicht von links, mit einer sozialistischen Perspektive getan haben.
Erst vor zwei Wochen hat Enzensberger in einem Fernsehinterview selbst betont, dass er während der Studentenbewegung zwar „Anleihen“ beim Marxismus gemacht habe, aber nie Marxist geworden sei. In der Tat hat er sich hier einen geistigen Brosamen bei Lenin geholt, um den Imperialismus zu „kritisieren“, dort ein Häppchen bei Trotzki, um den Stalinismus zu „entlarven“; auch von Hegel lieh er sich etwas, um den Gang der Geschichte „besser zu verstehen“.
Der Marxismus ist jedoch entgegen der eklektischen Auffassung Enzensbergers eine wissenschaftliche Weltanschauung. Er ist die Grundlage für eine korrekte historische, ökonomische und politische Analyse des Klassenkampfs und damit für eine Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Programm für die Abschaffung des Kapitalismus.
Diesen revolutionären Marxismus lehnte Enzensberger ausdrücklich ab; demgegenüber bewahrte er sich, wie er in dem Fernsehinterview erklärte, „stets einen zähen Restbestand an Unbehagen“.
Enzensberger stellte sich damit als besonders „kritischer“, „gegenüber allen Lehren und Ideologien unabhängiger Geist“ dar. Doch dies war in Wirklichkeit nur die Pose eines ganz und gar durchschnittlichen kleinbürgerlichen Demokraten und nationalistischen Spießers. Diese Spezies von Politikern und Ideologen hat er selbst einst, in den 60er Jahren, im Essay „Europäische Peripherie“ – mit Hilfe von geistigen Anleihen bei Marx und Engels – treffend beschreiben können:
Für die Revolution in Kuba, in Algerien und in Vietnam können sie ein gewisses, gouvernantenhaftes Wohlwollen aufbringen, aber nur solange die Revolutionäre den Rechtsstaat, die parlamentarische Demokratie, die Pressefreiheit, die soziale Marktwirtschaft und das Privateigentum nicht gefährden. Man kennt dieses Verhalten aus den Klassenkämpfen des neunzehnten Jahrhunderts und weiß, worauf es, wenn nicht „im Prinzip“, so doch in der Realität, hinausläuft: auf die Begünstigung der bestehenden Machtverhältnisse.[12]
Nun ist Enzensberger von seiner eigenen politischen Voraussage in einem Ausmaß eingeholt worden, das ihn wahrscheinlich vor 20 Jahren selbst erschreckt hätte; das fadenscheinige Gewand der „geistigen Unabhängigkeit“ abwerfend posiert er ungeniert als intellektuelle Prostituierte der eigenen Bourgeoisie und ihrer Kriegspropaganda.
Für die Arbeiterklasse enthält diese Mauserung Enzensbergers und all der anderen kleinbürgerlichen Radikalen eine wichtige Lehre: sie kann sich von der kapitalistischen Ausbeutung nur befreien, indem sie nicht nur die Kontrolle der sozialdemokratischen und stalinistischen Bürokraten abschüttelt, sondern sich auch von jeglichem Einfluss der kleinbürgerlich-radikalen Ideologen und ihrer Bevormundung befreit.
Dazu ist der Aufbau der trotzkistischen Weltpartei, des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und seiner deutschen Sektion, des Bunds Sozialistischer Arbeiter, notwendig. Sie ist die einzige politische Tendenz, die in der Geschichte den Marxismus und die Perspektiven der sozialistischen Revolution sowohl gegen die konterrevolutionären Bürokratien von Sozialdemokratie und Stalinismus als auch gegen deren Stützen im radikalen Kleinbürgertum verteidigt hat.
In dem Maße, wie sich die Arbeiterklasse durch den Aufbau der trotzkistischen Partei wieder den Perspektiven des Marxismus zuwendet und als unabhängige politische Kraft auf die Bühne des Klassenkampfs tritt, wird sie auch in der Lage sein, wie in früheren revolutionären Perioden die besten Vertreter der Intelligenz von den bankrotten, proimperialistischen Perspektiven des kleinbürgerlichen Radikalismus zu brechen und im Kampf für eine sozialistische Zukunft der Menschheit auf ihre Seite zu ziehen.
Siehe David North, 30 Jahre Krieg – Amerikas Griff nach der Weltmacht. Mehring Verlag, Essen 2020; darin Teil I: Der Erste Irakkrieg 1990-1991, S. 57 – 158.
Hans Magnus Enzensberger: Das Verhör von Habana. Frankfurt/M. 1970. Es handelt sich um eine szenische Montage anhand der Originaltonbandprotokolle des Verhörs von Fabrikbesitzern, Gutsbesitzern, Großhändlern, Söldnern und einem Kapuzinerpater, die wenige Tage zuvor, am 17. April 1961 an der „Operation Schweinebucht“ teilgenommen oder sie mit vorbereitet hatten. Organisiert und finanziert wurde diese Operation von 1.300 Söldnern von der CIA mit dem Ziel die Revolutionsregierung in Kuba unter Fidel Castro zu stürzen. Das Verhör wurde vor den Kameras und Mikrofonen des kubanischen Fernsehens und Radios durchgeführt. Es war „ein Selbstbildnis der Konterrevolution“ – so auch der Untertitel des Stückes –, das in den 1970er Jahren in sehr vielen Städten in der ganzen Welt aufgeführt wurde. Enzensberger hatte die Tonbandprotokolle 1968 in Havanna aufgestöbert, als er aus Protest gegen den Vietnamkrieg eine Gastdozentur in den USA abgebrochen hatte und für ein Jahr nach Kuba gegangen war.
1972 gab Enzensberger zusammen mit Rainer Nitsche und Klaus Roehler ein 3-bändiges Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland 1756 – 1971 heraus. Darin veröffentlichte er auch Passagen aus der Autobiographie von Karl Retzlaw, einem führenden Mitglied der trotzkistischen Opposition gegen den Stalinismus zur Revolution und Konterrevolution 1918/19 in Deutschland und zu den blutigen Kämpfen gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus am Ende der Weimarer Republik.
Die Sprache des Spiegel. Sendung des Süddeutschen Rundfunks. Teilabdruck in Der Spiegel (6. März 1957).
Michel Rocard, ein führender Politiker der Sozialistischen Partei, war von 1988 bis 1991 französischer Premierminister.
Jean-Pierre Chevènement, Vertreter des „linken Flügels“ der Sozialistischen Partei in Frankreich, unter Staatspräsident François Mitterand 1981-1991 Minister verschiedener Ressorts.
Gerhard Schröder war 1978-1980 Vorsitzender der Jugendorganisation der SPD und bezeichnete sich damals als „konsequenten Marxisten“. 1990-1998 Ministerpräsident des Bundeslandes Niedersachsen, 1998-2005 Bundeskanzler der Koalitionsregierung aus SPD und Grünen. Im Kabinett saßen etliche Führer und Anhänger der Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre, so z.B. Joschka Fischer (Außenminister) von den Grünen, oder die Ex-Maoistin Ulla Schmidt (Gesundheitsministerin) von der SPD.
Joschka Fischer war ab 1967 unter der Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) aktiv; in den 1970er Jahren in der militanten Gruppe Revolutionärer Kampf, die sich bei Protestdemonstrationen wie z.B. gegen die Hinrichtung politischer Gefangener durch die faschistische Franco-Diktatur Straßenkämpfe mit der Polizei lieferte. 1981 Mitgründer der Grünen und seitdem einer ihrer führenden Politiker.
Im Oktober 1987 fand ein weltweiter Börsenkrach statt, der die gesamte Finanzwelt an den Rand des Zusammenbruchs brachte.
Jürgen Habermas, wie Hans Magnus Enzensberger 1929 geboren, war 1953 bekannt geworden, weil er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den einflussreichen Philosophen und Nazi Martin Heidegger scharf attackierte. Dieser hatte eine Vorlesung Einführung in die Metaphysik, die er 1935 im Dritten Reich gehalten hatte, 1953 völlig unverändert drucken lassen, auch mit den Ausführungen über die „innere Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung. Habermas bezeichnete dies als Teil der „fortgesetzten Rehabilitation des Nationalsozialismus durch die Masse, allen voran die damals und heute Verantwortlichen“.
1956 als Forschungsassistent an das Frankfurter Institut für Sozialforschung gekommen, wurde er 1964 als Nachfolger von Max Horkheimer zum Professor für Philosophie und Soziologie berufen. Bekannt und beliebt bei vielen Studenten, weil er seit den 1950er Jahren für demokratische Reformen im Bildungswesen und an den Hochschulen eingetreten ist, hatte er in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre anfangs großen Einfluss auf die Debatten der Studentenrevolte, geriet jedoch bald mit deren wortradikalsten Vertretern wie Rudi Dutschke in Konflikt. 1986 stellte er sich zusammen mit Hans-Ulrich Wehler gegen die Versuche des Historikers Ernst Nolte, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu verniedlichen und zu rehabilitieren. Das war der Beginn des sog. Historikerstreits.
Hervorhebung hinzugefügt.
Hans Magnus Enzensberger, Europäische Peripherie; in: Kursbuch 2, Frankfurt am Main, 1965.