Die Wahl des AfD-Kandidaten Robert Sesselmann zum Landrat von Sonneberg in Thüringen wirft ein Schlaglicht auf die wachsende faschistische Gefahr in Deutschland. 90 Jahre nach der Machtergreifung Hitlers übernimmt der Vertreter einer Partei, die das Dritte Reich verharmlost und aus offenen Faschisten besteht, erstmals seit 1945 exekutive Regierungsverantwortung.
Was ist passiert? In der Stichwahl am Sonntag setzte sich Sesselmann mit 52,8 Prozent der Stimmen gegen den CDU-Kandidaten Robert Köppel durch, der auch von der SPD, den Grünen und der Linkspartei unterstützt wurde und 47,2 Prozent der Stimmen erhielt. Die Wahlbeteiligung lag bei 59,6 Prozent.
Das Szenario könnte sich bei weiteren Landrats- und Bürgermeisterwahlen in den kommenden Wochen und Monaten wiederholen. Auf Landesebene sind die Rechtsextremen in Ostdeutschland (ohne Berlin) mit 32 Prozent mittlerweile die stärkste und in Gesamtdeutschland mit rund 20 Prozent die zweitstärkste Kraft. Offensichtlich aufgepeitscht durch den Wahlerfolg brachte sich der thüringische Faschistenführer Björn Höcke bereits als möglicher Kanzlerkandidat seiner Partei ins Spiel.
Die etablierten Parteien reagierten in ihren ersten Stellungnahmen mit einer Mischung aus Warnungen, gegenseitigen Schuldzuweisungen und Verwischen der eigenen Spuren. Thüringens Innenminister und SPD-Vorsitzende Georg Maier bezeichnete das Ergebnis als „Dammbruch“ und „Alarmsignal für alle demokratischen Kräfte“. Die Grünen-Vorsitzende nannte das Ergebnis „bestürzend“ und ebenfalls „eine Warnung an alle demokratischen Kräfte“.
Während der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) den Erfolg Sesselmanns als „demokratische Wahl“ verharmloste, schrieb der Linken-Parteivorsitzende Martin Schirdewan auf Twitter: „Die Verunsicherung wächst & die extreme Rechte kocht darauf ihre braune Suppe“, doch die Ampel habe „keinen Mut, sich mit Reichen anzulegen“, und gebe „dem Kulturkampf nach“. Vor allem CDU/CSU und FDP würden der AfD „den roten Teppich“ ausrollen, „in dem sie ihre Sprüche & Politik übernehmen“.
Schirdewan verrät damit mehr über den rechten Charakter seiner eigenen Partei und die Rolle, die sie selbst beim Aufstieg der AfD spielt, als ihm lieb sein dürfte. Zunächst hat Die Linke in der Stichwahl wie alle anderen Parteien den rechten CDU-Kandidaten Köppel unterstützt und damit – um bei den Worten des Linkspartei-Chefs zu bleiben – der AfD „den roten Teppich“ mit ausgerollt und ihre rechtsextreme Hetze und Politik befeuert.
Darüber hinaus wird gerade in Thüringen sichtbar, dass vor allem auch die Linkspartei die Interessen der „Reichen“ durchsetzt und damit die Verzweiflung und Frustration schafft, die die Rechtsextremen ausschlachten. Seitdem ihre Vorläuferin SED/PDS vor 32 Jahren den Kapitalismus in Ostdeutschland wieder eingeführt hat, war die Linkspartei immer wieder an rechten kapitalistischen Regierungen beteiligt. Aktuell führt sie in Thüringen eine Minderheitsregierung mit SPD und Grünen, die ihre sozialen Angriffe mit Unterstützung der CDU beschließt und durchsetzt.
Das Ergebnis ist eine soziale Katastrophe. Thüringen gehört zu den ärmsten Bundesländern. Laut einer Bertelsmann-Studie sind fast jedes vierte Kind und jeder dritte junge Erwachsene von Armut bedroht. 2021 waren das 76.770 Kinder (23,7 Prozent) und 42.853 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren (34,1 Prozent).
Der Landkreis Sonneberg ist davon besonders betroffen. Laut Daten, die Zeit Online „exklusiv von der Bundesagentur für Arbeit erhalten und ausgewertet hat“, liegt Sonneberg im bundesweiten Gehälterranking auf Rang 621 aller 636 mittelgroßen Städte. Die aktuellen Löhne von Menschen, die in Sonneberg wohnen und sozialversicherungspflichtig angestellt in Vollzeit arbeiten, liegen 795 Euro unter dem deutschen Durchschnittsgehalt. Dabei hat sich der Abstand zwischen Spitzen- und Geringverdienenden in den letzten zwei Jahrzehnten immer weiter vergrößert.
Anders als in den 1930er Jahren sind die Wahlerfolge der AfD nicht das Ergebnis einer faschistischen Massenbewegung. Laut dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend sind nur ein knappes Drittel der potenziellen AfD-Wähler von der Partei „überzeugt“, 67 Prozent der Befragten stimmen für die AfD, „weil sie von den anderen Parteien enttäuscht“ sind. Es spricht Bände über den rechten Charakter der etablierten Parteien, dass die bis auf die Knochen militaristische AfD sogar Antikriegsstimmen erhält, weil sie den Nato-Krieg gegen Russland kritisiert.
Die Tatsache, dass die AfD die Wahl in Sonneberg vor allem auf der Grundlage von Proteststimmen gewann, ändert nichts an der Dramatik der Situation. Neben den Unterschieden zu den 1930er Jahren – als die herrschende Klasse Hitler an die Macht brachte, um den Weltkrieg vorzubereiten und die Arbeiterbewegung brutal zu unterdrücken – existieren auch gefährliche Parallelen.
„Hatte sich 1933 die Verschwörung der herrschenden Eliten auf eine bestehende faschistische Bewegung gestützt, ist es heute umgekehrt. Das Anwachsen der AfD ist das Ergebnis einer solchen Verschwörung. Man kann es nicht verstehen, ohne die Rolle der Regierung, des Staatsapparats, der Parteien, der Medien und der Ideologen an den Universitäten zu untersuchen, die ihr den Weg bereiten“, schreibt Christoph Vandreier, der Vorsitzende der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), in seinem 2018 erschienenen Buch „Warum sind sie wieder da?“.
Das Buch, das auch international viel Beachtung fand, zeigt detailliert auf, wie alle etablierten Parteien, von der CDU/CSU bis zur Linkspartei, in den letzten Jahren systematisch die sozialen, ideologischen und politischen Bedingungen für den Aufstieg der AfD geschaffen, die rechtsextreme Partei ins politische System integriert und selbst weite Teile ihres Programms übernommen haben.
Und es erklärt, dass die Wiederbelebung des deutschen Militarismus und Faschismus letztlich die gleichen objektiven Ursachen hat wie im letzten Jahrhundert. „Der globale Kapitalismus hat keines der Probleme gelöst, die in den 1930er Jahren in die Katastrophe führten. Alle sozialen, ökonomischen und geopolitischen Widersprüche brechen mit Macht wieder auf“, schreibt Vandreier.
Mit der Bildung der ersten Landesregierung mit Beteiligung der NSDAP spielte Thüringen bereits 1930 beim Aufstieg der Nazis eine zentrale Rolle. Heute ist das Bundesland erneut ein Zentrum der rechten Verschwörung im Staatsapparat. Hier nur einige der wichtigsten Fakten.
Am 5. Februar 2020 wählten CDU und FDP mit den Stimmen der rechtsextremen AfD Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten. Infolge einer internationalen Welle der Empörung sah sich Kemmerich zwar gezwungen zurückzutreten, und Ramelow wurde wiedergewählt. Aber die gezielte Stärkung der AfD ging auch unter der rot-rot-grünen Minderheitsregierung weiter.
Nur wenige Tage nach seiner Wiederwahl übte Ramelow dann selbst den Schulterschluss mit den Rechtsextremen. Er verhalf dem AfD-Kandidaten Michael Kaufmann mit seiner Stimme zum Amt eines Vizepräsidenten des thüringischen Landtags und prahlte öffentlich damit. Er habe sich „sehr grundsätzlich entschieden, auch mit meiner Stimme den Weg frei zu machen für die parlamentarische Teilhabe, die jeder Fraktion zugebilligt werden muss“, schrieb er auf Twitter.
Seitdem kooperieren Linkspartei, SPD, Grüne, CDU und FDP auf Engste mit den Faschisten, was schon ein Blick auf die Parlamentsausschüsse zeigt. So wird der Ausschuss für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft vom AfD-Mann Dieter Laudenbach geleitet (sein Stellvertreter ist Kemmerich). Weitere Ausschüsse unter Führung der AfD sind die Ausschüsse für Migration, Justiz und Verbraucherschutz und für Umwelt, Energie und Naturschutz. Die jeweiligen Stellvertreter rekrutieren sich aus SPD und Grünen. In der von der Linkspartei geführten Strafvollzugskommission (ein Unterausschuss des Petitionsausschusses) stellt ihrerseits die AfD den Stellvertreter.
Die Stichwahl in Sonneberg, die Sesselmann zum Landrat machte, war selbst Bestandteil dieser rechten Verschwörung. Der CDU-Kandidat Köppel, der von Linkspartei, SPD, Grünen und FDP unterstützt wurde, unterschied sich inhaltlich kaum vom Vertreter der AfD. Bezeichnenderweise wurde Köppel auch vom rechtsextremen ehemaligen Chef des Verfassungsschutzes Hans Georg-Maaßen unterstützt, der bei den letzten Bundestagswahlen CDU-Kandidat für die thüringischen Kreisverbände Schmalkalden-Meiningen, Hildburghausen, Suhl und Sonneberg (!) war.
Maaßen steht wie kaum ein Zweiter für die rechtsextremen Machenschaften im Staatsapparat. Als Chef des Inlandsgeheimdiensts von 2012 bis 2018 spielte er eine Schlüsselrolle dabei, rechtsextreme Terrornetzwerke in Polizei, Militär und Geheimdiensten zu schützen und gegen Linke vorzugehen. Unter anderem ist er direkt dafür verantwortlich, dass die SGP als „linksextremistische Partei“ und „Beobachtungsobjekt“ in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen wurde, weil sie gegen „vermeintlichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus“ agitiert und für eine „demokratische, egalitäre und sozialistische Gesellschaft“ streitet.
Die Wahl der AfD wird die Kooperation der etablieren Parteien mit der extremen Rechten weiter beschleunigen. Bezeichnend ist die Reaktion des SPD-Oberbürgermeister der benachbarten Kreisstadt Coburg, Dominik Sauerteig. Er sei „der Meinung“, dass es ihm „nicht zusteht, die mehrheitliche Entscheidung des Souveräns, nämlich der Bürger des Landkreises Sonneberg, negativ zu kommentieren oder gar die Wähler zu schelten“, schrieb er auf Facebook. Bei den gemeinsamen Fragestellungen der Stadt Coburg und dem Landkreis Sonneberg werde er „in Verantwortung für die Bürger der Region Herrn Sesselmann ganz konkret in die Pflicht nehmen“.
Arbeiter und Jugendliche, die vom Aufstieg der AfD und der feigen und unterwürfigen Paktiererei der herrschenden Klasse mit den Faschisten abgestoßen sind, müssen aus den Erfahrungen der letzten Jahre die notwendigen politischen Schlussfolgerungen ziehen. Die einzige Partei, die konsequent gegen das Anwachsen der extremen Rechten und die Rückkehr von Faschismus und Militarismus in Deutschland und international kämpft, ist die Sozialistische Gleichheitspartei.
Der Aufbau der SGP und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als neue revolutionäre Massenpartei der internationalen Arbeiterklasse ist das Gebot der Stunde. Die wichtigste Lehre aus der Geschichte ist: Der Kampf gegen Faschismus und Krieg erfordert den Kampf gegen ihre Ursache, den Kapitalismus, und gegen alle Parteien, die dieses bankrotte System verteidigen. Er erfordert die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.