Der Europäischen Union ist jedes Mittel recht, um Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten. Am vergangenen Sonntag unterzeichneten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, die rechtsextreme italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der tunesische Präsident Kais Saied in Tunis eine Absichtserklärung, die dem Land Finanzhilfen in Höhe von 900 Millionen Euro dafür verspricht, dass es Flüchtlinge mit allen Mitteln an der Überfahrt nach Europa hindert.
Was das bedeutet, zeigte die gleichzeitige brutale Vertreibung von Flüchtlingen aus der tunesischen Hafenstadt Sfax in die Wüste. Das Zusammentreffen der beiden Ereignisse offenbart in aller Drastik das wahre Gesicht der EU: eine hässliche Fratze, die rassistische und menschenverachtende Gräueltaten autokratischer Regime gegen Flüchtlinge duldet, anstachelt, finanziert und organisiert.
Im Zentrum der Absichtserklärung steht die Migrationsabwehr und Bekämpfung von Flüchtlingen. Insgesamt 105 Millionen Euro sind alleine für die Aufrüstung der tunesischen Grenzschutzpolizei und die Abschiebung von Flüchtlingen vorgesehen.
Die EU wolle eine Partnerschaft zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität, erklärte von der Leyen anschließend. „Außerdem werden wir unsere Koordinierung bei Such- und Rettungseinsätzen verstärken. Und wir haben vereinbart, dass wir beim Grenzschutz, bei Rückführungen und bei der Bekämpfung der Grundursachen unter voller Achtung des internationalen Rechts zusammenarbeiten werden.“
Diese Worte sind eine Verhöhnung der Flüchtlinge, die in Tunesien auf Geheiß der EU willkürlicher Verfolgung, Misshandlung und tödlichen Risiken ausgesetzt werden. Noch während von der Leyen, Rutte und Meloni die Hand des autoritär herrschenden Saied schüttelten, hatten die tunesischen Sicherheitsbehörden bereits begonnen, das Abkommen in die Tat umzusetzen.
Seit Tagen werden Migranten aus Ländern der Subsahara, aber auch aus Bangladesch, Sri Lanka oder Syrien, mit Bussen aus Sfax hinaustransportiert. Vorausgegangen war ein Streit zwischen einheimischen Jugendlichen und Migranten, bei dem ein 41-jähriger Tunesier ums Leben kam. Seither werden Flüchtlinge systematisch verfolgt, aus ihren Wohnungen vertrieben, gejagt, geschlagen und schließlich abtransportiert.
Die libysche Grenzschutzpolizei hat nahe dem Grenzübergang Ras Jadir rund 700 Flüchtlinge aufgegriffen. Die waren ohne Wasser und Nahrung der sengenden Sonne ausgesetzt worden und völlig entkräftet. Die libyschen Grenzpolizisten versorgten die Flüchtlinge zwar mit Wasser und Nahrung, schickten sie aber anschließend wieder zurück auf die tunesische Seite der Grenze.
Gegenüber der taz erklärte ein Offizier der Grenzpolizei, „Tunesien will seine sozialen Probleme auf dem Rücken der Migranten und Nachbarländer lösen. Das ist ein gefährlicher Präzedenzfall.“ Auf diese Weise werden Flüchtlinge zu Opfern der EU, die autokratische Regime dafür bezahlt, als Türsteher Europas zu fungieren.
Mindestens 80 weitere Flüchtlinge wurden von libyschen Grenzschützern weiter südlich nahe der Stadt Al-Assah aufgegriffen und versorgt. Zwei aus Nigeria stammende Männer berichteten, von den tunesischen Sicherheitskräften mit Eisenstangen geschlagen und gewaltsam über die Grenze nach Libyen getrieben worden zu sein.
Nach Informationen des britischen Guardian sind rund 165 Flüchtlinge im Westen Tunesiens nahe der Grenze zu Algerien gerettet worden. Allerdings fehlt von 250 Flüchtlingen, die nahe Tozeur in der Wüste ausgesetzt wurden, noch jede Spur. Die Flüchtlingshilfsorganisation Alarm Phone, die mit der Gruppe während des Transports aus Sfax in die Wüste in Kontakt stand, befürchtet, dass ihre Mobiltelefone zerstört worden sind und sie ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt wurden. Hilfsorganisationen berichten, sie hätten mehrere Leichen in der Wüste entdeckt.
„Menschen mitten in der Wüste abzuladen, ohne Zugang zu Straßen, Unterkünften, Schatten, Nahrung oder Wasser, ist eine Form staatlich autorisierter Gewalt, die im Widerspruch zu grundlegenden Menschenrechten steht“, sagte Monica Marks, Assistenzprofessorin für Nahostpolitik an der New York University, gegenüber der ARD-Tagesschau.
Der tunesische Staatspräsident Kais Saied rechtfertigte die Misshandlung und die Deportation der Flüchtlinge in die Wüste in einem auf Facebook veröffentlichten Statement zynisch damit, dass „die Migranten eine humane Behandlung (...) im Einklang mit den Werten Tunesiens“ erfahren und die tunesischen Sicherheitskräfte sie schützen.
Mit ähnlichen Worten verteidigte die Innenkommissarin der Europäischen Union, Ylva Johannson, das Abkommen zwischen der EU und Tunesien. Es sei sehr wichtig, erklärte sie, „dass unser Hauptziel immer darin besteht, Leben zu retten, Menschen von diesen Reisen abzuhalten, die allzu oft mit dem Tod enden, das ist eine Priorität.“
Tatsächlich sieht die Vereinbarung das genaue Gegenteil vor. Migration ist eine von fünf Säulen, die das Abkommen umfasst. Dabei geht es wörtlich um die „Bekämpfung der irregulären Migration“, den Ausbau der „operativen Partnerschaft gegen Menschenschmuggel und Menschenhandel“, eine „Verbesserung der Koordinierung von Such- und Rettungsaktionen auf See“, eine „wirksame Grenzverwaltung“ und die „Entwicklung eines Systems zur Identifizierung und Rückführung irregulärer Migrant*innen“ aus Tunesien in deren Herkunftsländer.
Die Europäische Union nutzt dabei schamlos aus, dass Tunesien wirtschaftlich vor dem Kollaps steht und dringend auf Finanzhilfen angewiesen ist. Diese werden aber nur dann gewährt, wenn das Land sich zum Wachhund Europas degradieren lässt und Flüchtlinge daran hindert, das Mittelmeer zu erreichen, Boote abfängt und zurückbringt und die Deportation der aufgehaltenen Flüchtlinge organisiert.
Die EU macht auch keinen Hehl daraus, dass der schmutzige Deal zur Flüchtlingsabwehr auf Erpressung beruht. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson erklärte frei heraus, es sei „klar, dass Tunesien unter Druck steht. Meiner Meinung nach ist dies ein Grund, die Zusammenarbeit zu verstärken und zu vertiefen und die Unterstützung für Tunesien zu erhöhen.“
Von den 900 Millionen Euro, die die EU Tunesien zahlen will, sind 105 Millionen Euro für „Grenzmanagement“ vorgesehen. Ylva Johansson behauptete, dieses Geld werde hauptsächlich über internationale Organisationen, die vor Ort arbeiten und Flüchtlingen helfen, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM), fließen. Sie behauptete, die EU sei „nicht an der Rückführung von Drittstaatsangehörigen in ihr Herkunftsland beteiligt“. Sie finanziere lediglich „über die IOM die freiwillige Rückkehr und Wiedereingliederung von Drittstaatsangehörigen“.
Doch das ist ein erbärmlicher Versuch, sich selbst reinzuwaschen. Die IOM ist zwar formal eine Organisation der UN, wird aber, finanziert von der EU und auf deren Geheiß, die Abschiebung von Flüchtlingen organisieren. Bis heute hat die IOM auch noch kein Wort über die Vertreibungen von Flüchtlingen in die Wüste Sahara verloren.
Dem unterzeichneten Abkommen ist zudem zu entnehmen, dass die EU keineswegs nur die IOM finanziert, sondern in erster Linie Patrouillenboote, Jeeps, Wärmebildkameras, Radargeräte und Drohnen zur Verfügung stellen und den tunesischen Grenzschutz damit massiv aufrüsten wird.
Die Konsequenzen dieser verbrecherischen Flüchtlingspolitik zeigen die Vertreibungen in Tunesien in aller Schärfe. Lauren Seibert von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte: „Durch die Finanzierung von Sicherheitskräften, die bei der Migrationskontrolle Übergriffe begehen, ist die EU mitverantwortlich für das Leid von Migranten, Flüchtlingen und Asylbewerbern in Tunesien.“
Die hohlen Worte über Menschenrechte und demokratische Werten, die die europäische und deutsche Außenpolitik angeblich leiten, sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt werden. Am Montag erklärte die Bundesregierung „volle Unterstützung“ für das Abkommen. Man verbinde damit die Hoffnung, gemeinsam mit Tunesien irreguläre Migration zurückzudrängen, sagte Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann. Aus der Bundestagsfraktion der Grünen kam zwar leise Kritik am Abkommen, aber die grüne Außenministerin Annalena Baerbock erklärte ebenfalls ihre Zustimmung zu dem schmutzigen Deal.
Die Bundesregierung drängt sogar auf ein weitergehendes Abkommen, da in der jetzigen Erklärung die Einrichtung von Internierungslagern für Flüchtlinge ebenso ausgeklammert ist wie die Rücknahme von nicht aus Tunesien stammenden Flüchtlingen aus der EU. Während es dort heißt, Tunesien sei kein Land, das „der Ansiedlung von Migranten mit irregulärem Status zustimmt“, benannte der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Joachim Stamp, europäische „Asylverfahren in Nordafrika“ als vorrangiges politische Ziel.
Das Abkommen zwischen der EU und Tunesien soll darüber hinaus als Blaupause für weitere Deals mit den autokratischen Regimen in Ägypten und Marokko dienen. Mit beiden Ländern gibt es zwar bereits Abkommen, aber die Flüchtlingsabwehr in diesen Ländern und insbesondere die Flüchtlingsdeportation soll weiter verschärft werden. Der mit äußerster Brutalität regierende ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat dabei bereits im letzten Jahr 80 Millionen Euro von der EU für die Aufrüstung der Migrationsabwehr erhalten, mit der er Flüchtlinge aus dem Sudan von Europa fernhält und verhindert, dass Flüchtlingsboote von Ägypten aus ablegen.
Welche Folgen diese Abkommen haben, lässt sich im Niger und in Algerien beobachten. Im Jahr 2015 hat das bettelarme Niger im Gegenzug für europäische Entwicklungshilfe die Unterbringung und den Transport von Flüchtlingen unter Strafe gestellt. Deutschland stattete die nigrische Armee mit einer Milliarde Euro aus EU-Geldern mit Fahrzeugen und Radargeräten aus. Frontex schickte Verbindungsbeamte nach Niger.
Seither weichen die Schmuggler und mit ihnen notgedrungen die Flüchtlinge auf gefährlichere Routen abseits der Hauptstraßen aus, mit der Folge, dass die Zahl der auf der Flucht ums Leben gekommenen Flüchtlinge enorm angestiegen ist. Schon vor vier Jahren klagte Albert Chaibou, Journalist aus Niger und Gründer einer Migranten-Notruf-Hotline: „Unser Land ist im Dienst Europas zum Friedhof verkommen.“
Aufgegriffene Flüchtlinge werden in Camps gesteckt, die von der IOM betreut, aber von der EU finanziert werden. Dort gibt es weder genug Wasser noch Nahrung, die IOM interessiert sich nur dafür, die verzweifelten Menschen in ihre Herkunftsländer abzuschieben, wie es jetzt auch in Tunesien vorgesehen ist. „Wir werden wie Vieh behandelt“, rief ein Flüchtling verzweifelt Journalisten der Nachrichtenagentur AFP jüngst zu.
Viele der in Niger gestrandeten Flüchtlinge sind wiederum aus Algerien vertrieben und in der Grenzregion zum Niger in der Sahara ausgesetzt worden. Die Zahl der auf der Flucht in der Sahara verdursteten und verhungerten Flüchtlinge ist zwar unbekannt, doch Hilfsorganisationen befürchten, dass sie die Anzahl der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen übersteigt. Danach wären in Nordafrika seit 2016 weit mehr als 20.000 Flüchtlinge ums Leben gekommen, nur weil sie vor Krieg, Bürgerkrieg und wirtschaftlicher Not geflohen sind und von einem menschenwürdigen Leben in Europa träumten.
Mit den erpresserischen, schmutzigen Deals, die sie mit den autokratischen Regimen Nordafrikas schließt, beteiligt sich die EU an staatlich organisierter Verfolgung und Vertreibung von Flüchtlingen und an der Tötung Tausender Menschen.