Trotz der größten Protestbewegung in der Geschichte Israels:

Netanjahus Koalition setzt ihr Putschgesetz gegen die Justiz durch

Am Montag, kurz vor der Sommerpause der Knesset, setzte die israelische Regierung das erste der Gesetze durch, die darauf abzielen, die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zu beschneiden. Die Regierungskoalition besteht aus Ministerpräsident Benjamin Netanjahus rechter Likud und mehreren ultrareligiösen und faschistischen Parteien, deren Basis die Siedler im Westjordanland sind.

Der Gesetzentwurf wurde mit 64 zu 0 Stimmen angenommen. Die Opposition hatte die Abstimmung aus Protest boykottiert und war unter „Schande“-Rufen aus der Knesset gestürmt. Die verschiedenen Oppositionsparteien sind zusammen mit 56 Abgeordneten vertreten, und so beruht Netanjahus Griff nach der absoluten Macht nur auf einer knappen Mehrheit.

Das Gesetz, das die Kontrolle der Justiz über die Regierung beendet, wurde als Teil des Grundgesetzes erlassen, d.h. als Teil der Gesetze, die am ehesten Verfassungsrang haben. Es entzieht dem Obersten Gericht die Befugnis, Entscheidungen gewählter Regierungsvertreter als „unangemessen“ zu kippen, und ermöglicht es der Knesset, die Entscheidungen des Gerichts durch eine einfache Mehrheit aufzuheben.

Demonstranten blockieren ein Autobahnkreuz in Tel Aviv, 24. Juli 2023 [AP Photo/ Oded Balilty]

Netanjahu hat nun die Möglichkeit, seinen wichtigen Verbündeten, den Vorsitzenden der Schas-Partei, Arje Deri, erneut zum Gesundheits- und Innenminister zu ernennen. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof Deris Ernennung aufgrund seiner mehrfachen Verurteilung wegen Betrugs, Bestechung und Steuerhinterziehung als „unangemessen“ abgelehnt. Deri hatte auch im Rahmen eines Vergleichs in einem Strafverfahren versprochen, nicht mehr für öffentliche Ämter zu kandidieren.

Noch wichtiger ist jedoch, dass das Gesetz es Netanjahu ermöglichen wird, weitere diktatorische Maßnahmen umzusetzen, weil er weiß, dass das Oberste Gericht nicht in der Lage sein wird, sie aufzuheben. Das Oberste Gericht war bisher die einzige staatliche Institution, die das israelische Einkammerparlament zur Rechenschaft ziehen konnte. Es ist auch die einzige Institution, die nicht von Netanjahus rechter Kabale kontrolliert wird.

Netanjahu steht derzeit wegen Korruption vor Gericht und könnte für Jahre hinter Gitter gebracht werden. Das neue Gesetz wird auch juristische Schritte erleichtern, die es ihm ermöglichen werden, einer Verurteilung zu entgehen oder das Verfahren einstellen zu lassen.

Netanjahus faschistische Koalitionspartner prahlen offen mit ihrer Macht, zu tun, was immer sie wollen. Sie haben schon seit langem gegen das Oberste Gericht gewettert, weil es gelegentlich die Siedler-Außenposten einschränkt, die sogar nach israelischem Recht illegal sind. Der nationale Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir, Parteichef der faschistischen Jüdischen Stärke und Führer der Siedler, erklärte nach der Verabschiedung des Gesetzes vor der Presse, die Verabschiedung des Gesetzes sei „erst der Anfang ... Wir müssen im Rahmen der Justizreform noch viele weitere Gesetze verabschieden.“

Netanjahu hat angedroht, sich über das Völkerrecht hinwegzusetzen und das Westjordanland zu annektieren, das Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 gegen seine arabischen Nachbarstaaten unrechtmäßig besetzt hält. Diese Landnahme soll den beiden Zielen seiner Regierung dienen: sowohl einen jüdisch-chauvinistischen Staat in Israel und den besetzten Palästinensergebieten zu errichten, als auch die Macht der religiösen Autoritäten über den Alltag zu stärken.

Rechtsextreme Minister haben Gesetze gefordert, die arabischen Parteien die Teilnahme an Wahlen verbieten und Israels palästinensische Staatsbürger zusammen mit homosexuellen und nichtreligiösen Menschen diskriminieren. Sie wollen eine Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten durchsetzen. Ihr nächster Schritt sind Gesetze, die der Regierung mehr Befugnisse bei der Ernennung von Richtern einräumen.

Vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Abschaffung der „Unangemessenheits-Klausel“ am Montag erlebte Israel am Samstag und Sonntag die größten Demonstrationen seiner Geschichte. Diese enorme Protestbewegung wurde von Netanjahu als „Gefahr für das demokratische System Israels“ bezeichnet.

Zehntausende beteiligten sich bei sengender Hitze an einem fünftägigen Protestmarsch von Tel Aviv nach Jerusalem, um am Samstag vor der Knesset zu demonstrieren. Am Samstagabend nahmen in Tel Aviv mehr als 100.000 Menschen an dem Protest teil, der bereits seit 29 Wochen andauert. Ähnlich viele Menschen beteiligten sich an Kundgebungen im ganzen Land. Israels Ärzte traten aus Protest in einen zweistündigen Streik. Zehntausende von Demonstrierenden legten Straßenkreuzungen und Infrastruktur lahm. Die Befürchtung wuchs, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit rechtsextremen Regierungsanhängern kommen könnte.

Mehr als 10.000 Reservisten der Armee haben angekündigt, den Dienst zu verweigern, falls der Justizputsch erfolgreich sei. Zu ihnen zählen Hunderte von Luftwaffenpiloten, Experten für Cyberkriegsführung und Kommandanten von Eliteeinheiten, von denen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) abhängig sind. Die Soldaten erklärten, sie seien nicht bereit, ihr Leben für eine Regierung zu riskieren, die nicht mehr demokratisch ist. Netanjahu hat sie angegriffen und behauptet, sie überschritten angesichts der äußeren Bedrohungen und der Notwendigkeit einer Reservearmee eine „rote Linie“. Vertreter des Sicherheits- und Verteidigungsapparats haben die Regierung schriftlich gewarnt, dass dies erhebliche Auswirkungen auf die Luftwaffe und ihre Einsatzbereitschaft haben könnte.

Der beispiellose Widerstand gegen die Bestrebungen der Netanjahu-Regierung, sich von bürgerlich-demokratischen Normen zu verabschieden, wird auch von der weit verbreiteten wirtschaftlichen Notlage befeuert, die durch die rasant steigenden Lebenshaltungs- und Wohnkosten hervorgerufen wird. Eine weitere Triebkraft ist die zunehmende Sorge um den Verfall der öffentlichen Dienstleistungen wie Bildungs- und Gesundheitswesen und des öffentlichen Verkehrs, sowie vor dem zunehmenden Einfluss ultra-orthodoxer Gruppen im Alltagsleben. Ebenso wichtig sind die tiefen Ängste, dass der Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine zu einem weitaus größeren Flächenbrand eskalieren wird, während die Regierung gleichzeitig den Krieg gegen die Palästinenser, den Iran und dessen Verbündete in der Region schürt.

Es wird erwartet, dass der Oberste Gerichtshof das Gesetz überprüft und für ungültig erklärt, was zu einer verfassungsrechtlichen Machtprobe mit der Regierung und einer allgemeinen politischen Krise führen wird. Kommentatoren befürchten, dass diese Krise zu einem Bürgerkrieg eskalieren könnte.

Die zivilgesellschaftliche Gruppe „Movement for Quality Government“ argumentiert, das Gesetz sei verfassungswidrig, da es „die Grundlagen der israelischen parlamentarischen Demokratie und das Wesen des Regimes grundlegend ändert, während es de facto die Judikative abschafft und das empfindliche Gefüge der Gewaltenteilung und das System der gegenseitigen Kontrolle im Staat Israel ernsthaft beschädigt“. Sie hat den Obersten Gerichtshof aufgefordert, das Gesetz abzulehnen, und erklärt: „Die Regierung der Zerstörung hat ihre bösartige Hand gegen den Staat Israel erhoben. Jetzt muss das Oberste Gericht einschreiten und dieses Gesetz verhindern.“

Die Massenproteste gegen den Gesetzesentwurf gehen weiter. Am Montag haben Demonstrierende die Straßen blockiert, woraufhin die Polizei Wasserwerfer einsetzte und mindestens 20 Menschen verhaftete. Der israelische Ärztebund organisierte am Dienstag einen 24-stündigen Streik in den Krankenhäusern.

Die selbst ernannten Oppositionsführer, darunter ehemalige Minister, Generäle und Funktionäre des Sicherheits- und Geheimdienstapparats, von denen viele unter Netanjahu gedient haben, wollen die Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Regierung fortsetzen. Sie haben keine grundlegenden politischen Differenzen mit der Regierung, befürchten jedoch, dass Netanjahu zu weit geht, wenn er eine persönliche Diktatur errichtet, die sich auf faschistische und ultrareligiöse Gruppen stützt. Dies könnte das Land politisch und gesellschaftlich destabilisieren. Israel ist eines der ungleichsten Länder der Welt: eine Handvoll superreicher Familien haben enorme Vermögen angehäuft, während die meisten jüdischen und arabischen Arbeiter ums Überleben kämpfen.

Protestführer wie der ehemalige Ministerpräsident Jair Lapid und Verteidigungsminister Benny Gantz stehen – genau wie die rechtsextreme Regierung – fest zu dem zionistischen Staat und der Unterdrückung der Palästinenser. Sie ertränken die Massenproteste in einem Meer israelischer Flaggen und weigern sich, an die palästinensischen Staatsbürger Israels zu appellieren, geschweige denn an die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Diese leiden seit langem unter der brutalen Unterdrückung des israelischen Militärs und der dreisten Selbstjustiz und Gewalt der Siedler. Das Oberste Gericht und die „Führer“ der Protestbewegung haben, als sie noch im Amt waren, diese Unterdrückung bekräftigt.

Diese Oppositionsführer haben versucht, mit Netanjahu zu „verhandeln“ – erfolglos, wie sich herausstellte –, nachdem er Ende März angesichts des größten Widerstands der Bevölkerung in der Geschichte Israels zugestimmt hatte, „eine Pause“ bei dem Gesetzesvorhaben einzulegen. Damals kam es zu massiven Straßenprotesten und einem vollständigen Ausstand großer Teile der israelischen Arbeiterklasse.

Lapid und Gantz fügten sich und gaben Netanjahu ihre volle Unterstützung, als er die „Pause“ für eine Reihe von kriminellen Provokationen gegen die Palästinenser im Westjordanland nutzte, das Israel seit 56 Jahren rechtswidrig besetzt hält. Sie unterstützten auch seine Militäroperationen gegen den Iran, Syrien und den Libanon, welche die Spannungen nach außen lenken und ein Gefühl nationaler Einheit schaffen sollten.

Jetzt hat Lapid angekündigt, vor dem Obersten Gerichtshof eine Petition gegen das neue Gesetz einzureichen, das er als Machtmissbrauch bezeichnet. Gleichzeitig rief er die Reservisten auf, zu warten, ehe sie aus dem Militärdienst ausscheiden: „Treten Sie nicht aus, solange wir nicht wissen, wie der Oberste Gerichtshof entscheiden wird.“

Die Arbeiterklasse hat die Macht, Netanjahus rechtsextreme Koalition durch einen Generalstreik zu stürzen, und hätte dabei die Unterstützung der Mehrheit der israelischen Bevölkerung. Doch der korporatistische Gewerkschaftsverband Histadrut, der seit seiner Gründung fest hinter dem zionistischen Projekt steht, hat sich als großes Hindernis dabei erwiesen. Er weigert sich, seine Mitglieder gegen die Regierung zu mobilisieren, und drängt hektisch auf eine Art „Vermittlung“ oder Kompromiss. Das einzige Mal während der wöchentlichen Massenproteste in den letzten sieben Monaten, dass Histadrut-Chef Arnon Bar-David zu einem Generalstreik aufrief, war als Reaktion auf die Entlassung von Netanjahus Verteidigungsminister Yoav Gallant. Dieser hatte Netanjahu aufgefordert, den Plan zur Entmachtung der Justiz aufzugeben, weil der politische Konflikt darüber die IDF spaltet.

Jetzt gerät Bar-David unter immer stärkeren Druck, zu einem Streik aufzurufen. Er bereitet eine symbolische Arbeitsniederlegung vor, damit die Mitglieder von Histadrut Dampf ablassen können. Er erklärte: „Von diesem Moment an wird jede einseitige Fortsetzung der Reform schwerwiegende Konsequenzen haben, bis hin zu einem umfassenden Streik“ der Gewerkschaften im ganzen Land. Doch diesem treuen Diener der israelischen Bourgeoisie darf kein Vertrauen geschenkt werden.

Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit, aus dem Würgegriff der reaktionären zionistischen Protestführung auszubrechen. Notwendig ist der Kampf für die Vereinigung der arabischen und jüdischen Arbeiter, auch mit den Arbeitern im Rest der Welt. Gemeinsam müssen Arbeitsplätze, Lebensstandard und demokratische Rechte, auch die der palästinensischen Bevölkerung, verteidigt werden. Dies ist nur möglich auf der Grundlage und der Perspektive des internationalen Sozialismus.

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