Am 30. September und 1. Oktober fand in Berlin zum zweiten Mal der Kongress „Socialism in Our Time“ des Jacobin-Magazins statt, an dem rund 200 Aktivisten aus dem Umfeld von Linkspartei und Gewerkschaften sowie einige Studierende teilnahmen. Als Referenten waren Vertreter verschiedener politischer Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und Gewerkschaften sowie EU-Parlamentarier und diverse bürgerliche Politiker eingeladen. Der Eintrittspreis für die zweitägige Konferenz betrug 50 Euro.
Mit linker Politik – geschweige denn „Sozialismus“ – hatte der Kongress nichts zu tun. Inmitten weltweit aufbrechender Klassenkämpfe und immer brutalerer Kriege wiesen die Referenten jeden Kampf für Sozialismus explizit von sich. Stattdessen versuchten sie, ein kleinbürgerliches Milieu zu mobilisieren, um die politischen Stützen des Kapitalismus zu verteidigen. Prominente Referenten riefen zur Stärkung von Linkspartei, Grünen und Europäischer Union (EU) auf und warben für die Unterstützung des Nato-Stellvertreterkriegs in der Ukraine.
Bei mehreren Referenten – darunter Dieter Klein, Cornelia Hildebrandt und Heinz Bierbaum – handelte es sich um Führungsfiguren der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die mit der Linkspartei verbunden ist und seit vielen Jahren eine wichtige Rolle in der Kriegs- und Geopolitik des deutschen Imperialismus spielt. So arbeitete die Stiftung im Stellvertreterkrieg gegen Syrien eng mit bürgerlichen Kräften zusammen, die eine Nato-Militärintervention zum Sturz des Assad-Regimes forderten oder die mörderische Freie Syrische Armee (FSA) unterstützten. Nachdem General Abdel Fattah al-Sisi im Juli 2013 in Ägypten die Macht an sich riss, veröffentlichte die Stiftung ein Strategiepapier, das für ein politisches Arrangement mit der ägyptischen Militärdiktatur plädierte.
Das Jacobin-Magazin wurde im Jahr 2010 in den USA gegründet und unterstützt dort die Democratic Socialists of America (DSA), eine Fraktion der Demokratischen Partei. DSA-Mitglieder haben im US-Kongress Kriegsetats des Pentagons in Rekordhöhe unterstützt, milliardenschwere Waffenlieferungen an das israelische und ukrainische Regime freigegeben und ein Gesetz verabschiedet, das US-Eisenbahnarbeiter ihres Streikrechts beraubt. Auf dem diesjährigen DSA-Kongress beschloss die Organisation mit überwältigender Mehrheit, innerhalb der Demokraten zu verbleiben und rechtes Abstimmungsverhalten von DSA-Abgeordneten nicht zu kritisieren.
Waffenlieferungen für den Sieg: „Alles, was notwendig ist!“
Der jüngste Kongress fügt sich nahtlos in diese reaktionäre Bilanz ein. Allein drei Panel waren dem Krieg in der Ukraine gewidmet, in denen sich die Referenten in Kriegspropaganda überboten. Referenten des Netzwerks „Right to Resist“ teilten auf dem Panel „Ein gerechter Frieden für die Ukraine“ sogar ein Flugblatt an alle Teilnehmer aus, das Rufe nach einem „Friedensabkommen“ zwischen beiden Ländern verurteilt und offen für westliche Waffenlieferungen an das von Faschisten durchsetzte ukrainische Militär eintritt.
Auf die Frage der WSWS, welche Waffenlieferungen das Podium konkret fordere, antwortete Referent Stas Sergienko, man fordere „alles, was notwendig ist“, um den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Es gebe für Linke „keine andere Option“, da es darum gehe, die Existenz des ukrainischen Nationalstaats sicherzustellen. Die ukrainische Bevölkerung, behauptete Sergienko faktenwidrig, stehe trotz aller Entbehrungen geschlossen hinter der Kriegsführung des Selenskyj-Regimes. Wer persönlich nicht bereit sei, Waffenlieferungen zu finanzieren, solle wenigstens ukrainische Exil-Organisationen und ihre Forderungen nach Waffenlieferungen unterstützen.
Eine zweite Sprecherin von „Right to Resist“ reagierte erbost auf die Nachfrage der WSWS und klagte, dass „viele Linke“ Waffenlieferungen nicht unterstützen würden. Sie rief die deutschen Gewerkschaften auf, nach französischem Vorbild „Lieferkorridore“ einzurichten, um die ukrainische Seite zu unterstützen. Die Gewerkschaftsapparate sollten dabei auch als Waffenschieber fungieren und Opposition unter Arbeitern unterdrücken. „Es kann nicht sein, dass Waffenlieferungen wie im letzten Jahr blockiert werden“, tobte sie, „das muss man Linken wirklich ausreden!“
Im Mai 2022 hatten Streiks von griechischen Arbeitern den Transport von Nato-Panzern an das ukrainische Militär vorübergehend aufgehalten.
Anti-Marxismus im Dienste imperialistischer Politik
Diese nationalistischen und arbeiterfeindlichen Standpunkte – die sich in nichts von der Nato-Propaganda unterscheiden – wurden auf einem zweiten Panel mit dem Titel „Class, Nationalism and Imperialism in the Russia-Ukraine War“ ideologisch gerechtfertigt. Der Referent Wolodymyr Ischtschenko stellte dort die geopolitische Realität auf den Kopf, indem er Russland als imperialistisch charakterisierte und den ukrainischen Nationalismus als bloßes Opfer äußerer Mächte darstellte.
Tatsächlich handelt das ukrainische Regime als willfähriges Werkzeug der Nato-Mächte. Die rückständige russische Wirtschaft ist zugleich überwiegend von Rohstoffexporten abhängig und zu keinem nennenswerten Kapitalexport imstande. Doch Ischtschenko erklärte kurzerhand, dass es sich bei Russland um eine dem Marxismus bislang unbekannte Form einer imperialistischen Macht handele, die „nicht aufgrund wirtschaftlicher Expansion Krieg führt, sondern auf der Grundlage von wirtschaftlicher Kontraktion“.
Auf die Frage der WSWS, wie Arbeiter in Russland, der Ukraine, Europa und Amerika dem Krieg ein Ende setzen könnten, antwortete Ischtschenko, dass Arbeiter in diesem Krieg ebenso wie in allen anderen Konflikten „nicht viel“ ausrichten könnten. Auch „die neoliberale Radikalkur, die die europäischen Kapitalisten in der Ukraine anstreben“, würden die ukrainischen Arbeiterinnen und Arbeiter kaum abwenden können.
Ischtschenko ist Herausgeber des Magazins Spilne (Commons), das in der Ukraine laut eigenen Angaben „dem weitverbreiteten Stereotyp ‚links = pro-russisch‘“ entgegentreten will. Die Herausgabe des Magazins wird nicht nur von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern auch von der Heinrich-Böll-Stiftung finanziell unterstützt, die beim Aufbau rechter pro-westlicher Kräfte in der Ukraine seit Jahren eine Schlüsselrolle spielt und den rechten Putsch unterstützte, der 2014 den gewählten ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch stürzte. Ischtschenkos Spilne-Journal firmiert auch unter den Erstunterzeichnern des Aufrufs „Right to Resist“.
Das anschließende Panel mit dem Titel „Putin’s Home Front“ widmete sich, gestützt auf diese „Analyse“, der inneren Krise des Putin-Regimes. Die Referenten (Sasha Talaver, Alexander Tushkin) beschworen ebenfalls einen „russischen Imperialismus“ und wiesen jedes Eingreifen der Arbeiterklasse zurück. Stattdessen erörterten sie die widerstreitenden Tendenzen des russischen Nationalismus und die verheerenden demografischen Folgen des Krieges für die russische Gesellschaft. Das Panel glich damit eher einer Graduate School der RAND-Corporation als einer Veranstaltung von „Sozialisten“.
Werbung für Linkspartei, Grüne und den Kapitalismus
Diese Politik, die einen Atomkrieg auszulösen droht, wird von der herrschenden Klasse in Deutschland und Europa mit den schärfsten Angriffen auf die Arbeiterklasse seit Jahrzehnten durchgesetzt. Gegen die Rekordinflation, die Sozialkürzungen, Lohnsenkungen und Massenentlassungen wächst auf dem ganzen Kontinent der Widerstand. Hinzu kommt der Kampf gegen die anhaltende und sich vertiefende Covid-19-Pandemie – doch nichts davon wurde auf dem Jacobin-Kongress thematisiert.
Stattdessen boten die Organisatoren einer illustren Bande von bürgerlichen Politikern – darunter Julia Salazar von den DSA in New York und Zarah Sultana von der britischen Labour Party – eine Plattform, um ihre bankrotten Manöver als „Sozialismus“ zu verkaufen. Auf dem Panel „What’s Left of the European Project?“ forderte der belgische EU-Abgeordnete Marc Botenga (Partij van de Arbeid) eine Europäische Union, die ihre geopolitischen Ziele unabhängig von den Vereinigten Staaten festlegen solle. Andere Panel befassten sich mit „Hyperpolitik“ und „Degrowth“ oder warben für eine „sozialistische Industriepolitik“, die sich „zwischen China und Bidenomics“ positionieren müsse.
Am deutlichsten wurde die Stoßrichtung des Kongresses in einem gemeinsamen Auftritt von Janine Wissler (Bundesvorsitzende der Linkspartei) und Sarah-Lee Heinrich (Bundessprecherin der Grünen Jugend) unter dem Titel „Wie weiter für die deutsche Linke?“ Während die Grünen eine treibende Kraft hinter der Kriegs- und Bereicherungspolitik der Ampel-Regierung sind, steht die Linkspartei inmitten aufbrechender Klassenkämpfe vor dem Kollaps. Um die beiden verhassten Parteien zu verteidigen, loteten Wissler und Heinrich gemeinsam mit Jacobin-Herausgeber Loren Balhorn die Möglichkeit einer noch engeren Zusammenarbeit aus.
Wissler beklagte eine mangelnde „Mobilisierungsfähigkeit“ von Gewerkschaften und Linkspartei, die sich negativ auf das „linke Milieu“ auswirke. Heinrich erwiderte, dass in ihrem Umfeld – Fridays For Future, Black Lives Matter – große „Mobilisierungen“ stattgefunden hätten. Diese „Hashtag-Bewegungen“, so Wissler, seien jedoch noch nicht in „nachhaltige“ Organisationskanäle überführt worden. Damit meinte sie Partei- und Gewerkschaftskanäle, die mehr Erfahrung darin haben, Massenbewegungen zu unterdrücken. Anschließend lobte Wissler die sogenannten „Entlastungspakete“ der Bundesregierung und verteidigte die rechte Bilanz der Ramelow-Regierung in Thüringen.
Die Frage, wie „Socialism in Our Time“ erkämpft werden kann, wurde zwar nirgends behandelt – dafür lieferte der Kongress aber Anschauungsmaterial für die Frage, wie die sozialistischen Eigentumsverhältnisse in der stalinistischen DDR abgewickelt und liquidiert werden konnten. Dazu diente ein Auftritt von Christa Luft, der letzten Wirtschaftsministerin der DDR, die mit der Gründung der berüchtigten Treuhand-Anstalt eine zentrale Rolle spielte, die Restauration des Kapitalismus und den Kahlschlag der „Wende“ einzuleiten.
Luft verbreitete die Lüge, dass ihre Regierung eine „Privatisierungsorgie“ nicht gewollte habe und wie „alle Menschen im Osten“ von westlichen Spekulanten und Glücksrittern über den Tisch gezogen worden sei. Grund für die Abwicklung der DDR-Betriebe sei nicht die üble Politik von Stalinisten wie Luft gewesen, sondern dass sich die Arbeiter unzureichend mit dem Staatseigentum identifiziert hätten! Anschließend erzählte sie dann dem Publikum eine Anekdote darüber, wie sie selbst streikende Ost-Berliner-Müllarbeiter zur Wendezeit persönlich heruntergehandelt und zurück an die Arbeit gebracht hatte, nachdem diese den gleichen Lohn wie ihre Kollegen im Westen gefordert hatten.
Jeder, der sich für Sozialismus interessiert, kann von diesem antisozialistischen und militaristischen Kongress gehobener Kleinbürger nur abgestoßen sein. Sozialisten kämpfen weltweit für die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Eliten. Im Krieg treten sie nicht für Waffenlieferungen an rechte Regime, sondern für die Niederlage der eigenen herrschenden Klasse ein. Die Bedingungen für die globale Abschaffung des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus liegen vor. Wer dafür kämpfen möchte, sollte noch heute mit der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) Kontakt aufnehmen.