Wir veröffentlichen hier erneut einen Vortrag, den David North, Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und der Socialist Equality Party (US), im November 1993 an der Universität von Michigan im Rahmen der Feierlichkeiten des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der Workers League, dem Vorläufer der Socialist Equality Party (US), zum 70. Jahrestag der Linken Opposition hielt. Der Vortrag beleuchtet die politischen Ursprünge der im Oktober 1923 gegründeten Linken Opposition im Zusammenhang mit der objektiven Situation, mit der die Bolschewiki nach der Revolution von 1917 konfrontiert waren, und der verschiedenen politischen Tendenzen innerhalb der Bolschewistischen Partei.
Weshalb man sich mit der Linken Opposition befassen sollte
Heute Abend beginnen wir mit dem ersten von drei Vorträgen, die den Ursprüngen der Linken Opposition gewidmet sind. Die Linke Opposition wurde vor 70 Jahren von Leo Trotzki und anderen führenden Persönlichkeiten in der Kommunistischen Partei Russlands gegründet. Vielleicht sind einige von Ihnen in der Hoffnung zu diesem Vortrag gekommen, mehr über die Russische Revolution zu erfahren. Das ist sicherlich Grund genug, heute Abend hier zu sein; und ich hoffe, dass Sie diesen und die beiden folgenden Vorträge informativ finden werden. Trotzdem muss ich sagen, dass die Gründung der Linken Opposition nicht nur von historischem Interesse ist. Die Welt, in der wir leben, ist in weit größerem Maße, als sich die meisten von Ihnen vorstellen können, vom Ausgang des politischen Kampfes geprägt worden, der vor rund 70 Jahren in Sowjetrussland begann; und man kann die heutige politische Weltlage unmöglich begreifen, ohne die Fragen zu verstehen, mit denen sich die Linke Opposition befasste.
Ein Hinweis auf die Ereignisse im Gebiet der jetzt „ehemaligen UdSSR“ genügt, um diese Einschätzung über die Bedeutung der Linken Opposition für heute zu rechtfertigen. Im Herbst 1987 hielt ich hier an der Universität von Michigan vier Vorträge anlässlich des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution. Damals erläuterte ich den Standpunkt des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (dem die Workers League angehört), dass die Politik Gorbatschows zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zur Restauration des Kapitalismus führen werde.
Damals galt Gorbatschow, wie ich bemerken darf, als einer der Giganten unserer Zeit, als gefeierter Architekt eines spektakulären Reformprogramms für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Die Begriffe Perestroika und Glasnost waren weltweit in aller Munde, wenn auch nur sehr wenige – Gorbatschow nicht ausgeschlossen – genau wussten, was darunter zu verstehen war. Gorbatschows Popularität hatte ihren Gipfel erreicht, und zwar nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern auch, vielmehr ganz besonders, im Milieu der kleinbürgerlich-radikalen Linken.
Die Workers League und das Internationale Komitee vertraten den Standpunkt, dass Gorbatschow die einflussreichsten Teile der sowjetischen stalinistischen Bürokratie vertrat; dass er die zunehmende Opposition der Arbeiterklasse gegen das stalinistische Regime ablenken und gleichzeitig die Interessen der Bürokratie schützen wollte; dass seine Reformen im Wesentlichen einen prokapitalistischen Inhalt hatten und von daher den Höhepunkt des jahrzehntelangen stalinistischen Verrats an Programm, Idealen und Zielen der Oktoberrevolution darstellten.
Sämtliche Ereignisse der letzten sechs Jahre haben diese Einschätzung bestätigt. Kaum war Gorbatschow vom „Time-Magazin“ zum „Mann des Jahrzehnts“ gekürt worden, da musste er auch schon die politische Bühne verlassen. An die Stelle Gorbatschows trat Boris Jelzin, selbst ein stalinistischer Bürokrat, der an die 30 Jahre in der Kommunistischen Partei zugebracht hatte, und unter seiner Verantwortung wurde die Sowjetunion im Dezember 1991 aufgelöst.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist natürlich ein Ereignis von enormer Bedeutung. Aber es ist bemerkenswert, wie wenig es wirklich verstanden wird. Der Zusammenbruch wurde kaum vorhergesehen, jedenfalls nicht bei den imperialistischen Regierungen, die angeblich die unversöhnlichsten Feinde der Sowjetunion waren. Wenn überhaupt eine Erklärung für diesen spektakulären Kollaps angeboten wird, so lautet sie, dass der Fall der UdSSR das „Scheitern“ des Sozialismus im Allgemeinen und des Marxismus im Besonderen darstelle.
Aber diese Aussagen können schwerlich als wirkliche Erklärung gelten. Sie setzen einfach voraus, was erst noch zu beweisen ist. Und hier kommen wir zu dem grundlegenden Trugschluss, der jahrzehntelang als Prämisse jener politischen Propaganda diente, die an den Universitäten unter dem Namen „Sowjetologie“ betrieben wird. Der Ausgangspunkt der „Sowjetologie“ ist die plumpe Gleichsetzung des Stalinismus mit dem Marxismus. Auf dieser Grundlage wird die Politik der sowjetischen Regierungen über eine Periode von siebeneinhalb Jahrzehnten hinweg im Allgemeinen als ein nahtloses Ganzes dargestellt. Die Geschichte des Bolschewismus beginnt angeblich mit Lenin und endet mit jenen, die in den kapitalistischen Medien bis auf den heutigen Tag als „kommunistische Hardliner“ bezeichnet werden. Vor nicht allzu langer Zeit erschienen die Memoiren [des hochrangigen sowjetischen Beamten] Jegor Ligatschows unter dem – zweifellos von den amerikanischen Herausgebern empfohlenen – Titel „Der letzte Bolschewik“. Man braucht Herrn Ligatschows Buch nur kurz durchblättern, um sich zu überzeugen, dass diese alte bürokratische Wetterfahne mit dem Bolschewismus ungefähr so viel zu tun hat wie ein altgedienter Beamter des amerikanischen Finanzamts. Ironischerweise stimmt die Linie der „Sowjetologie“ des Kalten Krieges restlos mit jener der Stalinisten überein, die sich bis vor Kurzem noch als Verteidiger des Leninismus und der „marxistischen Orthodoxie“ ausgaben. Ja, Jelzin selbst hätte sich vor 1985 als unversöhnlicher Marxist bezeichnet. Es gibt, muss man sagen, zahlreiche Untersuchungen seriöser Wissenschaftler, die diese Ansicht nicht teilen, aber ihre Arbeit diente nicht als Grundlage für das, was man öffentliche Diskussion über den Charakter der UdSSR nannte.
Die Standpunkte, die von dem blindwütigen Antikommunismus des politischen Establishments abwichen, wurden der Öffentlichkeit zum größten Teil vorenthalten, und es ist sehr schwierig, sich mit einer richtigen, wissenschaftlichen Einschätzung der Sowjetunion und ihrer Führung Gehör zu verschaffen.
Ein Brief, der nicht veröffentlicht wurde
Ich werde Ihnen kurz ein Beispiel aus unserer eigenen Erfahrung nennen. Im Juli 1990 schrieb ich auf einen Artikel in der „New York Times“ hin den folgenden Leserbrief:
Vor Kurzem verurteilte Ihre Redaktion im Nachhinein die Berichte Walter Durantys, des sowjetischen Korrespondenten der „Times“ während der Blütezeit der Stalinära. Sie hätten zu dem Schlechtesten gehört, das jemals in Ihrer Zeitung erschienen ist.
Das mag stimmen (dass Duranty der schlechteste Berichterstatter war, den Sie je hatten), aber heute könnte man zu Recht behaupten, dass die Berichte Ihres jetzigen Korrespondenten Bill Keller schwerlich eine Verbesserung darstellen.
Beispielsweise schreibt Mr. Keller in der „Times“ vom 13. Juli 1990, dass Gorbatschow „sich in der Erkenntnis sonnen konnte, die orthodoxen Marxisten als Machtfaktor in der Partei neutralisiert zu haben …“
Es scheint, dass Mr. Keller schlecht über die Geschichte der sowjetischen Kommunistischen Partei informiert ist. Die „orthodoxen Marxisten“ darin – d. h. die Linke Opposition unter Leo Trotzki – wurden bereits von dem stalinistischen Apparat „neutralisiert“, und zwar erst durch Massenausschlüsse auf dem 15. Parteitag im Dezember 1927 und dann durch Verbannung und Inhaftierung. Später, im Verlauf der Moskauer Schauprozesse und der damit einhergehenden blutigen Säuberung von 1936–1939, wurden die „orthodoxen Marxisten“ gezielt ermordet. Leo Trotzki, der Mitbegründer der Sowjetunion, wurde 1940 in Mexiko von einem stalinistischen Agenten ermordet.
Wenn Mr. Keller die Ligatschow-Fraktion als „orthodoxe Marxisten“ und Ligatschow selbst als „doktrinären Marxisten-Leninisten“ bezeichnet, so ist das politisch ebenso abwegig und intellektuell ebenso unaufrichtig, wie die Darstellung der Moskauer Prozesse als juristisch unanfechtbar seitens des inzwischen verstorbenen Duranty. Seit den späten 1920er Jahren hat der Marxismus bei der Formulierung der sowjetischen Politik überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Die Kommunistische Partei ist seit mehr als 60 Jahren das politische Werkzeug der herrschenden stalinistischen Bürokratie.
Gorbatschow, Ligatschow und auch Jelzin haben der Sowjetbürokratie jahrzehntelang gedient. Die Auseinandersetzungen zwischen ihnen drehen sich nicht um die Feinheiten der marxistischen Theorie, sondern darum, wie die Privilegien der verschiedenen Schichten der Bürokratie verteidigt werden können, während das stalinistische Regime – wie Trotzki vor langer Zeit vorhersah – auf die Restauration des Kapitalismus zusteuert.
In den 1930er Jahren trug die „Times“ durch Durantys Berichte dazu bei, die Meinung der amerikanischen Liberalen so zu beeinflussen, dass sie Stalins Liquidierung seiner marxistischen Gegner unterstützten. Heute hält die „Times“, während sie ihre Spalten für die Ansichten der linken Gegner des Stalinismus weiterhin verschließt, daran fest, den Marxismus mit einer Bürokratie gleichzusetzen, die historisch dessen gefährlichster Feind war. Das mag den politischen Zwecken der „Times“-Herausgeber dienen, mit der objektiven Wahrheit hat es wenig zu tun.
Dieser Brief wurde nicht veröffentlicht – nicht nur, weil ich die Herausgeber der „Times“ beleidigt hatte, sondern auch deshalb, weil er Tatsachen ins Feld führte, die sich schlichtweg nicht mit den ideologischen Interessen der Kapitalistenklasse vereinbaren lassen. Was wird aus der Theorie der „nahtlosen“ Kontinuität des Bolschewismus von Lenin bis Gorbatschow, oder zumindest bis Tschernenko, wenn die Wirklichkeit so aussieht: Stalin und die Bürokratie, die er führte, befestigten ihre Macht nicht nur durch die Ermordung praktisch jeder bedeutenden politischen Persönlichkeit aus der Revolution und dem Bürgerkrieg, sondern auch durch die physische Vernichtung Hunderttausender Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler, deren geistiges und kulturelles Werk in irgendeiner Hinsicht mit den heroischen frühen Jahren der bolschewistischen Regierung zusammenhing.
Wenn es stimmt, dass das stalinistische Regime nicht als notwendiges und unvermeidliches Ergebnis der Oktoberrevolution, sondern als deren Gegensatz entstand, dann ergeben sich aus dieser Tatsache weitreichende Implikationen für unser Verständnis nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa und nach der Auflösung der UdSSR schwelgte die Bourgeoisie in Siegerlaune. Das Ende der UdSSR, erzählte man uns, bedeute das Ende von Sozialismus und Marxismus. Ein Buch mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“ widerspiegelte die vorherrschende Stimmung: Die Menschheit, hieß es dann, hatte ihre endgültige Bestimmung erreicht – den vollständigen, schrankenlosen Triumph des Kapitalismus. Auf der politischen Ebene führte dies zur Ausrufung einer „neuen Weltordnung“, in der die Vereinigten Staaten ohne ernsthaften Widerstand ihren Willen auf der ganzen Welt durchsetzen würden.
Dieser Wahn hielt jedoch nicht allzu lange an. Es war für die Kommentatoren, Mediengrößen und Gelehrten einfacher, den Marxismus und Sozialismus für tot zu erklären, als den tendenziellen Fall der Profitrate abzuschaffen, den Gegensatz zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaat auf friedlichem Wege zu lösen oder den Klassenkampf zu verbieten. Mit oder ohne Erlaubnis der Propagandisten und Ideologen der herrschenden Klasse wirken sowohl die Gesetze der Weltgeschichte als auch jene der kapitalistischen Produktionsweise gerade so, wie es Karl Marx analysiert hat.
Wenig mehr als zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR versinkt der Weltkapitalismus im Morast seiner größten systembedingten Krise seit den 1930er Jahren. Die Volkswirtschaften aller wichtigen kapitalistischen Länder stagnieren. Um die Beziehungen zwischen den führenden imperialistischen Staaten steht es so schlecht wie seit den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Der innere Zusammenhalt dieser Staaten war noch nie so brüchig. Es ist fraglich, ob Belgien, Italien, Großbritannien, Spanien oder Kanada am Ende dieses Jahrzehnts noch in ihrer gegenwärtigen nationalstaatlichen Form bestehen werden. Und diese Liste könnte man um weitere Nationen verlängern.
Im Rahmen der schweren politischen und ökonomischen Krise nehmen die sozialen Fragen eine Schärfe an, wie man sie während der ganzen Nachkriegsperiode nicht kannte. In den wichtigen europäischen Ländern erreicht die Zahl der Arbeitslosen bald 20 Millionen; und dies, noch bevor die enormen Stilllegungen, die nun täglich angekündigt werden, sich in vollem Umfang bemerkbar machen. Das ganze Sozialstaatssystem, das jahrzehntelang als die großartige friedliche Alternative zur gewaltsamen sozialen Revolution gepriesen wurde, wird in ganz Europa abgebaut. Aber nichts könnte den Zustand der kapitalistischen Gesellschaft greller beleuchten als die Tatsache, dass der Faschismus erneut zu einer bedeutenden politischen Kraft in Europa geworden ist.
In den Vereinigten Staaten wird die ständige Verschlechterung der sozialen Zustände – wachsende Arbeitslosigkeit, verfallende Städte, zunehmende Armut – als selbstverständlich hingenommen; und die kapitalistischen Parteien tun nicht einmal so, als hätten sie glaubwürdige Lösungen. Weder in den USA noch in Europa versuchen die Organisationen, die sich als Vertreter der Arbeiterklasse ausgeben, die elementaren Interessen ihrer traditionellen Basis zu verteidigen. Es wird sogar deutlich, dass diese Organisationen – Gewerkschaften, sozialdemokratische Parteien – die Hauptmechanismen sind, mit denen der kapitalistische Staat jede organisierte Äußerung von Massenopposition zu unterdrücken oder zumindest zu behindern sucht.
Trotzdem bleibt der Klassenkampf die Triebkraft der Geschichte. Er ist nicht von Marx erfunden worden; dieser hat lediglich seine grundlegende Rolle im historischen Prozess aufgedeckt. Mögen die Leitartikler ihre Nachrufe auf Marx verfassen und die Universitätsprofessoren in ihren behaglichen Studierstuben, die Pantoffeln an den Füßen, am laufenden Band konformistische Widerlegungen der historischen Dialektik produzieren. Das hat die französischen Air-France-Arbeiter nicht daran gehindert, sich der Regierung entgegenzustellen und vergangene Woche die größte politische Krise seit 1968 hervorzurufen. In der französischen und internationalen Presse sind Berichte erschienen, wonach Premierminister Balladur – er spürt die von der Massenarbeitslosigkeit erzeugte soziale Wut – im engsten Kreis seiner Vertrauten die Befürchtung äußerte, dass Frankreich am Vorabend einer Arbeiterrevolution stehe. Herrn Balladurs Ängste sind – wenigstens zurzeit – etwas übertrieben, denn der entscheidende geistige und moralische Anstoß für die sozialistische Revolution ergibt sich nicht allein aus Wut, sondern aus der auf Vernunft basierenden Zuversicht der Massen, dass ihr Kampf gegen die bestehende Ordnung eine bessere, gerechtere Gesellschaft hervorbringen wird. Gerade diese Erwartung fehlt zurzeit, trotz aller Entrüstung und Empörung über die vom Kapitalismus geschaffenen sozialen Zustände. Mit anderen Worten, der Arbeiterklasse fehlt eine historische Perspektive. In dem Maße, wie im Zusammenbruch der Sowjetunion der Zusammenbruch des Sozialismus gesehen wird, kann die Arbeiterklasse keinen Ausweg aus ihrem gegenwärtigen Dilemma finden.
Das bringt uns zurück zur Stellung der Oktoberrevolution in der Weltgeschichte. Hat diese Revolution, wie ihre Führer glaubten, eine neue Epoche in der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen eingeleitet? Oder war sie ein tragisches und utopisches Unterfangen, ein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben, das unweigerlich zum Stalinismus mit all seinen Schrecken führte?
Wie soll man diese Fragen beantworten? Auf welcher Grundlage kann man behaupten, dass sich die Sowjetunion ganz anders hätte entwickeln können, als sie es schließlich tat? Sind solche Alternativen nur Spekulation ohne Bezug zu den historischen und politischen Realitäten? Glücklicherweise liegt die Antwort auf diese Fragen in der Geschichte selbst. Wir blicken nicht einfach auf Jahrzehnte Sowjetgeschichte zurück und sagen: „Schade, es hätte anders sein sollen.“ Nein, wir können nachweisen, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab, dass diese Alternative auf der Grundlage des Marxismus von Leo Trotzki vertreten wurde, der neben Lenin die bedeutendste Rolle in der Führung der Oktoberrevolution und der Verteidigung des Sowjetstaates während des Bürgerkriegs spielte; und dass diese Alternative in einem Programm niedergelegt wurde, das von den meisten führenden Persönlichkeiten der bolschewistischen Revolution unterstützt wurde. Ein objektives Studium des programmatischen Vermächtnisses der Linken Opposition lässt außerdem erkennen, wie erstaunlich genau sie aufgrund ihrer Analyse die weitere Entwicklung des Stalinismus vorhersehen konnte: bis hin zu Trotzkis kategorischer Aussage, dass das totalitäre Regime der Bürokratie, wenn es nicht von der Arbeiterklasse gestürzt würde, zum Untergang der Sowjetunion und zur Restauration des Kapitalismus führen werde.
Die Russische Revolution als weltgeschichtliches Ereignis
An welches Ereignis erinnern wir heute Abend? Am 8. Oktober 1923 richtete Lew Dawidowitsch Trotzki, Kriegskommissar der Sowjetunion, dessen Fähigkeiten als politischer Stratege, Militärführer, Organisator, Administrator, Schriftsteller und Redner selbst von den unversöhnlichen Gegnern der revolutionären Regierung anerkannt wurden, einen Brief an das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission der Kommunistischen Partei Russlands. Er umriss seine wichtigsten Differenzen zu der Art und Weise, wie die Parteiführung die Wirtschaftspolitik und das interne Leben der Kommunistischen Partei Russlands handhabte.[1]
Dieser Brief löste eine explosive Reaktion aus. Seine Kritik an der wachsenden Bürokratie und deren Auswirkungen auf das Leben der Partei inspirierte die Gründung der Linken Opposition. Gleichzeitig rief sie einen wütenden Gegenangriff jener hervor, denen die Kritik direkt oder indirekt gegolten hatte. Trotzkis Warnung vor der Gefahr einer politischen Degeneration der Bolschewistischen Partei sollte sich bald erhärten. In den folgenden Jahren führte die Linke Opposition unter immer schwierigeren Bedingungen einen Kampf gegen den zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss der neuen Sowjetbürokratie, deren erstickende Kontrolle über Staat und Partei schließlich in der totalitären Diktatur Stalins ihren entsetzlichen Ausdruck finden sollte.
Um die Ursprünge der Linken Opposition und die von ihr angesprochenen Probleme zu verstehen, müssen wir zunächst die Russische Revolution und die ersten sechs Jahre des Sowjetstaates betrachten. Wir wollen mit dem Jahr 1917 anfangen. Niemals zuvor hatte die Menschheitsgeschichte innerhalb von nur einem Jahr eine derart umfassende politische Umwälzung gesehen, wie sie die Ereignisse von 1917 in Russland geschaffen hatten. Bis Ende Februar 1917 war Russland von einer autokratischen Monarchie regiert worden, deren Herrschergeschlecht auf das Jahr 1613 zurückging. Die zaristische Autokratie verkörperte die rückständigen politischen und gesellschaftlichen Beziehungen in Russland, einem riesigen Land, in dem die seit Menschengedenken in Unwissenheit lebenden Bauern etwa 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die Leibeigenschaft war erst 1861 abgeschafft worden, und trotz dieser Reform lebte die überwiegende Mehrheit der Bauernschaft weiterhin in Armut.
Am Vorabend des Jahres 1917 war Russland das rückständigste Land unter den europäischen Großmächten. Aber innerhalb des Zarenreiches, das in vieler Hinsicht noch in halbfeudalen Zuständen steckte, war auch – finanziert von britischem, französischem und deutschem Kapital – eine hochentwickelte Industrie entstanden, in der ein äußerst konzentriertes Industrieproletariat beschäftigt war. Die Konzentration von Massen von Arbeitern in riesigen Industriebetrieben war in Russland größer als in den weit fortgeschritteneren USA. 1914 beschäftigten hier Unternehmen mit 1000 oder mehr Arbeitern 17,8 Prozent der gesamten Arbeiterschaft. Aber in Russland lag dieser Anteil bei 41,1 Prozent. Dieses hochkonzentrierte Proletariat behauptete sich als Rückgrat der Opposition gegen den Zarismus und stellte die soziale Grundlage für die rasche Ausbreitung des Marxismus dar. In der Revolution von 1905, die den Zarismus bis in die Grundfesten erschütterte, ihn aber nicht zu stürzen vermochte, spielte daher nicht die Bourgeoisie, sondern die Arbeiterklasse die Hauptrolle. Und an der Spitze der Arbeiterklasse standen die Sozialisten. Leo Trotzki, der Vorsitzende des Sowjets von St. Petersburg, gehörte zu ihren herausragendsten Vertretern.
Die Autokratie überstand die Stürme von 1905. Aber zwölf Jahre später erzwangen die Massendemonstrationen, die im Februar 1917 ausbrachen, in kürzester Frist die Abdankung des Zaren, und die Macht ging der Form nach in die Hände der Provisorischen Regierung über. Aber wie schon 1905 konnte sich die Bourgeoisie nicht als Führung der demokratischen Revolution behaupten. Die unabhängige Rolle und die Interessen der Arbeiterklasse kamen in der Entstehung von Arbeiterräten, oder Sowjets, in ganz Russland zum Ausdruck. Für kurze Zeit dominierten die Menschewiki – die konservativen Sozialdemokraten – diese Sowjets. Aber die Menschewiki weigerten sich, mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung zu brechen, und konnten daher weder Russlands Beteiligung an dem verhassten imperialistischen Weltkrieg beenden noch eine revolutionär-demokratische Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Land herbeiführen. Mit ihrer Politik diskreditierten sich die Menschewiki. Im Herbst 1917 verfügten die Bolschewiki unter Lenin und Trotzki in der Arbeiterklasse der wichtigsten Industriezentren über enorme Unterstützung, und immer breitere Schichten der Bauernschaft sahen inzwischen in den Bolschewiki die einzige Partei, die bereit war, die Überbleibsel der Leibeigenschaft auszumerzen und ihnen Land zu geben. Die Bolschewiki gewannen die Mehrheit in den Sowjets, und mit der Unterstützung dieser Sowjets ergriffen sie im Oktober 1917 die Macht.
Oktober 1917: Putsch oder Massenaufstand?
Es ist seit Langem ein Credo der antikommunistischen Historiker, dass die Oktoberrevolution lediglich ein „Staatsstreich“, ein Putsch gewesen sei, der keine Unterstützung in der Bevölkerung hatte. Richard Pipes von der Harvard-Universität, ein alter Propagandist des Kalten Krieges, schrieb dazu: „Lenin, Trotzki und ihre Mitstreiter ergriffen gewaltsam die Macht und stürzten eine ineffektive, aber demokratische Regierung. Mit anderen Worten, die von ihnen begründete Regierung leitet sich von einem Gewaltakt einer winzigen Minderheit ab.“[2]
Diese Version kann einer objektiven Analyse nicht standhalten und wurde von seriöseren Wissenschaftlern weitgehend mit Verachtung vom Tisch gewischt. Zum Beispiel schrieb Professor Suny von der Universität Michigan: „Die Bolschewiki kamen nicht deshalb an die Macht, weil sie überlegene Taktierer oder zynische Opportunisten waren, sondern weil ihre Politik, so wie Lenin sie im April niedergelegt hatte und wie sie von den Ereignissen der kommenden Monate geformt worden war, sie an die Spitze einer echten Volksbewegung stellte.“[3]
Ein britischer Historiker schrieb: „Sicherlich spielte die bolschewistische Agitation und Organisation für die Radikalisierung der Massen eine entscheidende Rolle. Aber nicht die Bolschewiki hatten die Unzufriedenheit der Bevölkerung oder die revolutionären Gefühle geschaffen. Diese erwuchsen aus den Erfahrungen der Massen selbst, die sie in den komplexen ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in den politischen Ereignissen durchlebten. Der Beitrag der Bolschewiki bestand vielmehr darin, das Verständnis der Arbeiter über die soziale Dynamik der Revolution zu formen und ihnen bewusst zu machen, auf welche Weise die drängenden Probleme des Alltagslebens mit der umfassenderen gesellschaftlichen und politischen Ordnung zusammenhingen. Die Bolschewiki gewannen Unterstützung, weil ihre Analyse und ihre Lösungsvorschläge vernünftig erschienen … Als die Bolschewiki im Oktober die Provisorische Regierung unter Kerenski stürzten, war dies in den Augen der leidenden Massen weniger ein Todesstoß für das Staatswesen als vielmehr ein Akt der Euthanasie.“[4]
Das bezeichnendste Zeugnis für die Popularität der bolschewistischen Ideen stammt vielleicht aus den Schriften von Lenins entschiedenstem politischen Gegner, Martow In einem Brief mit Datum vom 19. November 1917, nur einen Monat nach der Machteroberung der Bolschewiki, schrieb er:
So ist die Lage. Sie ist tragisch. Versuche zu verstehen, dass wir es nun doch mit einem siegreichen Aufstand des Proletariats zu tun haben, d. h. beinahe das ganze Proletariat steht hinter Lenin und erwartet sich von dem Putsch die soziale Befreiung. Es hat alle antiproletarischen Kräfte herausgefordert. Unter solchen Bedingungen nicht in den Reihen des Proletariats zu stehen, und sei es nur in der Rolle der Opposition, ist beinahe unerträglich.[5]
Martow war zumindest ein ehrlicher Mann, und trotz seiner Opposition gegen Lenins Politik musste er zugeben, dass die von den Bolschewiki geführte Revolution mit Unterstützung der Arbeiterklasse gemacht worden war.
Die Theorie der Russischen Revolution
Der Russischen Revolution von 1917 war eine lange theoretische Debatte über ihre politische und soziale Dynamik vorangegangen. Die Marxisten jeder Schattierung gingen allgemein davon aus, dass die kommende Revolution angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Rückständigkeit Russlands eine demokratische Revolution sein werde. Aber hier endete die Übereinstimmung schon. Die Menschewiki vertraten die Ansicht, dass dem Sturz des Zaren gemäß den demokratischen Aufgaben der Revolution die Errichtung einer demokratischen bürgerlichen Regierung folgen werde. Die politischen Nutznießer der Revolution, in deren Hände die Macht notwendigerweise übergehen werde, wären die Vertreter der liberalen Bourgeoisie.
Lenin stellte eine andere Theorie auf: die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Die Revolution, meinte er, werde im Wesentlichen einen demokratischen Charakter tragen und den wichtigsten politischen und sozialen Hinterlassenschaften des Feudalismus ein Ende setzen; aber Lenin bestritt, dass die Führung der Revolution in den Händen der Bourgeoisie verbleiben werde oder könne. Er bestand darauf, dass die Führung in den Händen des Proletariats und der fortgeschrittenen Schichten der Bauernschaft liegen werde, und dass die auf dieses Bündnis der beiden ausgebeuteten Klassen begründete Staatsmacht die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ sein werde. Er stand mit dieser Position zwischen jener der Menschewiki und jener Trotzkis, der die Theorie der permanenten Revolution vertrat.
Trotzki argumentierte, dass im 20. Jahrhundert – dessen ökonomische und soziale Gegebenheiten sich hinsichtlich der Gesamtentwicklung des Kapitalismus und der gesellschaftlichen Stärke des Industrieproletariats qualitativ vom 18. und 19. Jahrhundert unterschieden – die demokratische Revolution in Russland nicht einfach die historischen Erfahrungen Westeuropas und Nordamerikas wiederholen werde. Er bestand darauf, dass das Proletariat, indem es die Führung der demokratischen Revolution übernahm, durch die Logik seiner Stellung gezwungen sein werde, die politische Macht zu erobern und sozialistische Maßnahmen einzuleiten, die sich gegen die Grundlagen des kapitalistischen Eigentums richteten. Somit sagte Trotzki bereits 1906–1907 voraus, dass sich die demokratische Revolution in Russland in Form einer sozialistischen Revolution vollziehen und mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse enden werde.
In der spannungsgeladenen Atmosphäre des russischen Fraktionskampfes vor 1917 bezog Trotzki eine gesonderte Position, die ihn sowohl von den Menschewiki als auch von den Bolschewiki trennte. Lenins Schläge zielten nicht selten auf Trotzki. Wenn es um Fragen der politischen Organisation ging, war Lenins Kritik gerechtfertigt. Trotzkis Versuche, die Bolschewiki mit den Menschewiki zu versöhnen, waren fehlgerichtet. Aber Trotzkis Einschätzung der Dynamik der Russischen Revolution bestätigte sich. Es ist ein Maßstab für Lenins politische Objektivität, dass er sein Urteil nicht von alten Fraktionsstreitigkeiten trüben ließ. Mit dieser wertvollen Charaktereigenschaft stand Lenin weit über vielen, die ihm in der Führung der Bolschewistischen Partei am nächsten standen. Nach seiner Rückkehr nach Russland im April 1917 übernahm also Lenin, sehr zum Erstaunen seiner alten Mitstreiter in der Bolschewistischen Partei, Sinowjew, Kamenew und übrigens auch Stalin, die zentralen Aussagen von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution und stellte den Bolschewiki die Aufgabe, die bürgerliche Provisorische Regierung zu stürzen und eine proletarische Regierung zu schaffen.
Dieser Wandel im Denken Lenins ging zweifellos auf seine Analyse der Wurzeln und der historischen Bedeutung des Ersten Weltkriegs zurück, die er in seiner meisterhaften Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (1916) in vollendeter Form niedergelegt hatte. Für Lenin bezeichnete der Weltkrieg den Anbruch eines neuen Stadiums der Weltgeschichte. Der Krieg bedeutete eine historische Krise der gesamten kapitalistischen Weltordnung, und diese musste, darauf bestand er, den Ausgangspunkt für ein Verständnis von Charakter und Aufgaben der Russischen Revolution bilden.
Als im Februar 1917 in Russland die Revolution ausbrach, bedeutete dies für Lenin daher nicht den Beginn der bürgerlichdemokratischen Umgestaltung Russlands, sondern den Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution.
Widersprüche der Russischen Revolution
Weder Lenin noch Trotzki glaubten, dass Russland, wenn man ausschließlich von seinem eigenen wirtschaftlichen Entwicklungsstand ausging, für den Sozialismus reif war. Es war weit hinter den kapitalistischen Staaten Europas und Nordamerikas zurückgeblieben. Eine sozialistische Revolution war in Russland deshalb notwendig, weil die internationalen Bedingungen keine anderen Möglichkeiten für eine progressive Entwicklung des Landes ließen. Hätten sich die Bolschewiki mit der Begründung, Russland sei wirtschaftlich nicht weit genug, der Machteroberung „enthalten“, dann wäre 1917 mitnichten eine liberale Demokratie auf der Grundlage eines aufblühenden Kapitalismus entstanden. Russland hätte das Schicksal anderer rückständiger Länder in der imperialistischen Epoche geteilt, d. h. die Aufrechterhaltung von Rückständigkeit und halbkolonialer Abhängigkeit. Wie richtig diese Einschätzung war, zeigte sich nicht nur anhand des Putschversuchs von General Kornilow im August 1917, sondern auch anhand des gesamten Bürgerkriegs nach der Machteroberung der Bolschewiki.
Worin also bestanden Perspektive und Strategie der Bolschewiki? Die internationalen Bedingungen zwangen sie, in einem rückständigen Land die Macht zu erobern und eine sozialistische Revolution zu beginnen. Aber angesichts der Tatsache, dass Russlands wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungsstand bei Weitem nicht ausreichte, um zum Sozialismus zu kommen, hing das Überleben der proletarischen Diktatur und die Verwirklichung des Sozialismus letztlich von der Machteroberung der Arbeiterklasse in einem oder mehreren der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ab. Nur dann würde Sowjetrussland Zugang zu den wirtschaftlichen Ressourcen erhalten, die für die sozialistische Umgestaltung seiner Wirtschaft notwendig waren.
War die bolschewistische Strategie richtig?
Die bolschewistische Strategie setzte eine große Zuversicht in die politische Reife der Arbeiterklasse und auch in das Fortschreiten der gesellschaftlichen Widersprüche in Europa und dem Weltkapitalismus voraus. Heute könnte man fragen: In welchem Maße war dies gerechtfertigt? Um diese Frage zu beantworten, muss man die Strategie der Bolschewiki im richtigen historischen Zusammenhang betrachten. Rosa Luxemburg, die der bolschewistischen Machteroberung beileibe nicht unkritisch gegenüberstand, begrüßte gerade diesen Aspekt der Politik Lenins und Trotzkis vorbehaltlos. Von ihrer Gefängniszelle in Deutschland aus schrieb sie:
Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen [Ereignissen] abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik.[6]
In der Tat war die Oktoberrevolution zugleich Ausdruck und Katalysator der größten revolutionären Bewegung in der Weltgeschichte. In ganz Europa und sogar in den Vereinigten Staaten stellten die bürgerlichen Regierungen fest, dass sie gegenüber den Leidenschaften, die der Weltkrieg entfesselt hatte, äußerst verwundbar waren. Nur ein Jahr nach der Oktoberrevolution befanden sich Deutschland und ein großer Teil Mitteleuropas inmitten revolutionärer Aufstände, und die Strategie der Bolschewiki schien sich zu bestätigen.
Wenn diese Revolutionen keinen Erfolg hatten – die Revolutionen in Deutschland, die Revolution in Ungarn, die Aufstände in ganz Mitteleuropa –, so bewies dies nicht den utopischen Charakter der bolschewistischen Strategie, sondern die Schwäche der politischen Führung der Arbeiterklasse außerhalb Russlands. Es gab in Europa keine Partei, die von ihrer politischen Qualität und den Fähigkeiten ihrer Führung her den Bolschewiki auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Die Ursachen dafür liegen in der opportunistischen Degeneration der europäischen sozialistischen Parteien, die gleich zu Beginn des imperialistischen Krieges im Jahr 1914 die Arbeiterklasse verraten hatten.
Die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse 1918–1919 und die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatten verheerende Folgen für die Entwicklung der deutschen Revolution und sollten das künftige Schicksal der Sowjetunion in starkem Maße bestimmen. Die Bolschewiki hatten gehofft, dass der Revolution in Russland bald revolutionäre Bewegungen der Arbeiterklasse in ganz Europa folgen würden; darauf gründete sich ihre Politik.
Der Bürgerkrieg und der Kriegskommunismus
Vom ersten Augenblick an musste die Regierung um ihr Überleben kämpfen. Die Bolschewiki erbten unter anderem den Ersten Weltkrieg, an dem Russland nach wie vor beteiligt war. In den Verhandlungen mit dem deutschen Oberkommando strebten die Bolschewiki ein Ende des Krieges an, was ihre strategische Orientierung sehr deutlich machte. Trotzkis Verhandlungsführung in Brest-Litowsk im Winter 1917–1918 war einmalig in der Weltgeschichte. Er wandte sich nicht an die deutsche Regierung und auch nicht an den deutschen Generalstab, sondern an das deutsche und internationale Proletariat. Er hoffte, dass Enthüllungen über den Krieg, wie die Veröffentlichung von Geheimabkommen zwischen der alten russischen Regierung und anderen imperialistischen Regierungen, den Massen den völlig reaktionären Charakter des Krieges vor Augen führen und den revolutionären Stimmungen, die sich an der Front herausbildeten, Auftrieb verleihen würden. Damit lag Trotzki gar nicht so falsch. Die Agitation der Bolschewiki demoralisierte die deutsche Armee. In Deutschland kam es zu Massendemonstrationen, aber die von den Bolschewiki erhoffte Revolution brach nicht aus. Das sollte erst acht oder neun Monate später geschehen. In der Zwischenzeit waren die Bolschewiki gezwungen, einen harten Friedensvertrag zu unterzeichnen, damit die revolutionäre Regierung Zeit gewann, bis die Weltereignisse der umkämpften Sowjetrepublik Hilfe von der internationalen Arbeiterklasse bringen würden.
Aber die Unterzeichnung des Friedensvertrages in Brest-Litowsk im März 1918 löste die Probleme der Bolschewiki keineswegs. Die Entscheidung, aus dem Krieg auszutreten, versetzte sämtliche imperialistische Regierungen, die mit dem zaristischen Russland verbündet gewesen waren, in Wut. England und Frankreich, denen sich nunmehr die Vereinigten Staaten anschlossen, erwarteten von der russischen Regierung arrogant, dass sie auch unter den Bolschewiki den alten Verpflichtungen des Zaren nachkommen und weiterhin Kanonenfutter für den Krieg bereitstellen würde. Das Abkommen von Brest-Litowsk war für sie ein Schock. Sobald sie sich jedoch von dieser unangenehmen Überraschung erholt hatten, stachelten die Alliierten eine Anzahl alter zaristischer Offiziere an und lieferten ihnen militärische und finanzielle Unterstützung für den Sturz der Bolschewiki. Ohne diese Unterstützung hätte der Bürgerkrieg niemals derart tragische Ausmaße angenommen. Schließlich kämpften die Bolschewiki einen Bürgerkrieg an 14 Fronten auf einem Schlachtfeld mit einem Durchmesser von an die 5000 Meilen.
Die internationale Arbeiterklasse war nicht stark genug, ihre eigene Bourgeoisie zu stürzen, aber ihre Sympathie für Sowjetrussland – und dies gilt besonders für die Arbeiter in Frankreich und England – war der entscheidende Faktor für das Scheitern der imperialistischen Intervention aufseiten der Weißen. Sie erklärt auch die Schwäche der amerikanischen Intervention. Präsident Woodrow Wilson schickte Truppen zum Kampf gegen die Bolschewiki. Die Vereinigten Staaten landeten mit einer Expeditionstruppe in Archangelsk nördlich von Moskau. In der Detroiter Innenstadt findet übrigens zurzeit gegenüber der Cobo Hall eine kleine Ausstellung zum Andenken an die missglückte Expedition „Polarbär“ statt, die Wilson im Jahr 1918 gegen die bolschewistische Regierung entsandte. Sie zählt zu jenen Aspekten der amerikanischen Geschichte, über die nicht viel bekannt ist, aber die US-Regierung spielte 1918 keine geringe Rolle bei dem Versuch, die Regierung Lenins und Trotzkis zu stürzen. Jedenfalls verirrte sich die Truppe aus irgendwelchen Gründen und musste gerettet werden. Das ganze Abenteuer endete so schmählich, wie es begonnen hatte.
Obwohl sich die Bolschewiki gegen die Intervention der Imperialisten behaupten konnten, verwüstete der Bürgerkrieg Sowjetrussland. Darüber hinaus hatte er tiefgreifende Auswirkungen auf den Kurs der revolutionären Politik. Um die revolutionäre Regierung zu retten, zentralisierten die Bolschewiki die ökonomische und politische Macht. Im Juni 1918 wurde das erste Dekret über die Verstaatlichung sämtlicher großer Industriezweige erlassen. Die Bolschewiki hatten gar nicht die Absicht gehabt, derart umfassende, quasi-sozialistische Maßnahmen zu ergreifen und damit dem Entwicklungsstand der Wirtschaft weit vorauszugreifen, aber sie waren dazu gezwungen: Sie mussten die Rote Armee beliefern, die unter der Führung Leo Trotzkis zu einer Streitkraft von rund fünf Millionen Bauern herangebildet wurde. Die Sowjetregierung musste nicht nur Waffen bauen und die Rote Armee kleiden, sondern die Soldaten auch verpflegen, und dies erreichte sie in nicht geringem Maße durch die Beschlagnahmung von Getreide bei den Bauern. Diese Politik war sicherlich nicht populär, aber sie konnte so lange aufrechterhalten werden, wie die Bauernschaft verstand, dass mit dem Sturz der Bolschewiki die Großgrundbesitzer zurückkehren würden. Sie war bereit, diese Politik so lange zu erdulden, wie sie in den Bolschewiki die Kraft sah, die sie gegen die Tyrannei der Grundbesitzer verteidigte.
Im Jahr 1920 hatte die Rote Armee praktisch alle konterrevolutionären Kräfte besiegt, aber die Wirtschaft Sowjetrusslands befand sich praktisch im Zusammenbruch. Das Ausmaß der Zerstörungen war atemberaubend. Man schätzt, dass zum Ende des Bürgerkriegs 1920–1921 rund 20 Millionen Menschen an Hunger starben. Darüber hinaus verlor Moskau zwischen 1917 und 1920 44,5 Prozent seiner Bevölkerung; Petrograd, das größte Industriezentrum, verlor 57,5 Prozent. Diese Zahlen sind deshalb besonders bedeutsam, weil sie das Schicksal der Arbeiterklasse nach der Revolution verdeutlichen. Viele Probleme, die der bolschewistischen Regierung später zu schaffen machten, ergaben sich aus der sozialen Auflösung der russischen Arbeiterklasse nach der Revolution. 1923–1924 hatten sich bereits enorme Veränderungen in der sozialen Struktur Russlands vollzogen. Das revolutionäre Proletariat, das hinter der Oktoberrevolution gestanden hatte, war dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen, den der Weltimperialismus den Massen auferlegt hatte. Vor diesem Hintergrund muss man die Ereignisse verstehen, die zur Bildung der Linken Opposition im Jahr 1923 führten.
Die Neue Ökonomische Politik
Die Beziehung zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft, in der sie ausgeübt wird, muss an dieser Stelle verdeutlicht werden. Die übliche Geschichtsauffassung, wie sie an den Schulen und Universitäten gelehrt wird, macht aus der Staatsmacht einen Fetisch: Sie schreibt den Machthabern regelrechte Zauberkräfte zu, als ob sie sich kraft ihrer Stellung über die Gesellschaft und ihre Widersprüche hinwegsetzen könnten. Der Marxismus entmystifiziert den Begriff der Staatsmacht und weist nach, dass sie eine historisch bedingte Klassenbeziehung in der Gesellschaft beinhaltet. Die Bolschewiki waren unter ganz bestimmten internationalen und nationalen Bedingungen an die Macht gekommen. Natürlich kann die Macht in den Händen einer revolutionären Bewegung, die weiß, was sie erreichen will, den Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung tiefgreifend verändern, aber sie hat ihre Schranken. Eine revolutionäre Partei, die die Macht erobert, wird nicht von diesem Moment an zum ausschließlichen Faktor des historischen Prozesses. Sie kann der Gesellschaft nicht einfach ihren Willen diktieren. Sie schafft nicht aus sich heraus gesellschaftliche Beziehungen. Eine revolutionäre Partei, die an die Macht kommt, wird zu einem gewaltigen Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung. Aber eine Unzahl überkommener historischer Faktoren, von dem ganzen Komplex internationaler politischer und ökonomischer Variablen ganz zu schweigen, setzt ihrem Wirken Grenzen.
Die Partei beeinflusst die gesellschaftlichen Bedingungen, die sie bei ihrer Machteroberung vorfindet, aber sie wird auch ihrerseits von ihnen beeinflusst. Die Bolschewistische Partei konnte per Dekret das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufheben, aber sie konnte nicht tausend Jahre russische Geschichte streichen. Sie konnte nicht die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Rückständigkeit abschaffen, die sich in Russland über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt hatten. Sie konnte eine ungebildete Bauernschaft nicht über Nacht Lesen und Schreiben lehren. Sie konnte den Massen, die niemals politische und gesellschaftliche Kultur erfahren hatten, diese nicht per Dekret beibringen. Die Bolschewiki verstanden, dass nicht sie allein die gesellschaftlichen Kräfte in Russland formten. Diese wurden von der Gesellschaft erzeugt, in der sie die Macht erobert hatten. Die Bolschewiki behielten ihren Kurs auf die Weltrevolution unerschütterlich bei, weil sie sehr gut wussten, dass die bolschewistische Regierung überrannt werden würde, wenn die Arbeiterklasse in Westeuropa Sowjetrussland nicht den Zugang zu der fortgeschrittensten Technologie, zu Wissenschaft und Kultur eröffnen würde. Im Jahr 1921 ging die größte Gefahr für den jungen Arbeiterstaat nicht von einem drohenden imperialistischen Militärüberfall aus, sondern von dem Vermächtnis der sozialen Rückständigkeit und von dem ungünstigen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen.
Anfang 1921 war unübersehbar geworden, dass die gesellschaftliche Grundlage der Regierung ungeachtet ihres Sieges über die Weißen im Bürgerkrieg geschwächt war. In den großen Industriezentren hatte sich die Lage katastrophal verschlechtert. Viele der besten Arbeiter, Mitglieder der Bolschewistischen Partei, waren an der Front gestorben. Viele der Überlebenden waren vom Staatsapparat aufgesogen worden. Die alten bolschewistischen Arbeiter mussten die Betriebe verlassen. Gleichzeitig machte sich unter der Bauernschaft zunehmende Unruhe breit, und Anfang 1921 war klar, dass die Politik des Kriegskommunismus nicht fortgesetzt werden konnte. Der „Kriegskommunismus“ war kein Kommunismus im marxistischen Sinne: keine Gesellschaftsform auf der Grundlage der fortgeschrittensten Produktivkräfte, in welcher der ganze Reichtum der Gesellschaft gerecht unter die Massen aufgeteilt werden kann, weil alle Güter im Überfluss vorhanden sind. Er war ein System der zentralisierten Produktion und Verteilung zum Zwecke der Bekleidung, Verpflegung und Bewaffnung der Roten Armee. Der Kronstädter Aufstand im März 1921 führte den Bolschewiki vor Augen, dass ein Kurswechsel notwendig war.
Außerdem erkannte die bolschewistische Regierung 1921, dass sie mit einer Verzögerung der Revolution in Westeuropa rechnen musste. Die westeuropäische Bourgeoisie hatte die Erschütterungen im Gefolge des Krieges überlebt. Ein neues, wenn auch brüchiges Gleichgewicht war geschaffen worden; man musste eine langfristige Strategie erarbeiten, die der bolschewistischen Regierung das Überleben bis zu einer neuen revolutionären Welle sichern würde. Außerdem erkannten die Bolschewiki, dass die Unerfahrenheit der neuen Kommunistischen Parteien bei der Niederlage der vorhergehenden Revolutionen eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Es hatte sich herausgestellt, dass die Krise in der Führung der Arbeiterklasse, die durch den Verrat der Zweiten Internationale im August 1914 sichtbar geworden war, nicht so rasch überwunden werden konnte. Die Gründung der Dritten Internationale konnte nur der Auftakt zur Herausbildung einer neuen revolutionären Avantgarde sein. Die Rückschläge der europäischen Arbeiterklasse zwischen 1918 und 1921 erbrachten den praktischen Beweis, dass die jungen Parteien der Dritten Internationale noch einer sehr umfassenden politischen Erziehung bedurften, bevor sie sich an die Spitze der Massen stellen konnten.
Was sollte die Bolschewistische Partei in dieser Periode tun? Im März 1921, auf dem 10. Parteitag, forderte Lenin einen Rückzug auf breiter Front. Er trat für die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) ein, die ursprünglich schon 1920 von Trotzki vorgeschlagen worden war. Sie sollte die russische Wirtschaft wiederaufbauen, indem die zerstörten Verbindungen zwischen Stadt und Land wiederhergestellt, die Bauernschaft zufriedengestellt sowie Handel und Industrie auf der Grundlage weitreichender Zugeständnisse an kapitalistische Elemente innerhalb Sowjetrusslands wiederbelebt wurden. Lenin bezeichnete sie offen als eine Form des Staatskapitalismus. Ihr Ziel bestand darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Bauern wieder anpflanzen und ernten würden, da sie auf einen Gewinn hoffen durften. Sie sollten ihre Ernte an die Städte liefern, die dortige Bevölkerung ernähren und auf diesem Wege die sowjetische Wirtschaft wiederherstellen. Wie es seine Art war, gab Lenin zu, dass die NÖP einen Rückschlag darstellte. Er sagte: Dies ist ein Rückzug. Wir machen diesen Rückzug, weil wir mit einer ungünstigen internationalen Lage konfrontiert sind und eine langfristigere Strategie entwickeln müssen. Unsere ursprüngliche Hoffnung, dass die sowjetische Revolution die Weltrevolution sehr schnell in Gang setzen würde, hat sich nicht erfüllt, und wir müssen eine andere Politik machen.
Die NÖP machte Privathandel und -industrie große Zugeständnisse. Auf dem Land wurde der Bauernschaft gestattet, Boden zu verpachten und auf eigene Rechnung zu wirtschaften, Arbeitskräfte anzustellen und die Produkte, die über den eigenen Bedarf hinausgingen, nach Abzug einer Geld- oder Naturalsteuer auf dem Markt zu verkaufen. So entstand rasch eine Schicht reicher kapitalistischer Bauern, die als Kulaken bezeichnet wurden. In den Städten blühten der private Handel und das Unternehmertum. Ihre Personifizierung war der sogenannte NÖP-Mann, unter dieser Bezeichnung liefen nicht nur Kleinhändler, sondern auch Großunternehmer. 1922 gab es sogar wieder eine kommerzielle Aktienbörse in Moskau.
Die Konsequenzen der NÖP
Lenin hatte, wie ich bereits sagte, die Verabschiedung der NÖP als einen Rückzug charakterisiert, welcher der bolschewistischen Regierung durch die Niederlage der ersten Welle revolutionärer Kämpfe in Europa aufgezwungen worden war. Die Sorgen, die er und andere hinsichtlich der politischen Folgen der NÖP hegten, wurden durch die wirtschaftlichen Erfolge dieser Politik in gewissem Maße gemildert. Die wirtschaftliche Lage stabilisierte sich. Mithilfe reicher Ernten in den Jahren 1921 und 1922 konnte Sowjetrussland der Katastrophe entgehen. Aber obwohl die NÖP notwendig und richtig war, hatte sie sozusagen auch ihre „andere Seite“, deren Folgen zwar nicht auf den ersten Blick sichtbar, für das langfristige Wohlergehen der Sowjetregierung aber umso bedrohlicher waren.
Die NÖP stabilisierte die Wirtschaft, nutzte dabei aber unmittelbar vor allem den nichtproletarischen Klassen in Russland. Die Erfolge der NÖP stärkten die Stellung und das Selbstbewusstsein nicht nur der wohlhabenderen Bauern, sondern auch einer Schicht von Geschäftsleuten, die wieder Aufwind spürten. Es entstand eine sehr einflussreiche Gruppe von NÖP-Industriellen, ironisch „rote Manager“ genannt, die oftmals der alten russischen Bourgeoisie entstammten und nun in der neuen Lage wieder Einfluss gewannen, sowohl politisch als auch ökonomisch.
Wiederaufleben nationalistischer Tendenzen
Die Wirtschaftspolitik der NÖP musste sich in grundlegenden politischen Veränderungen niederschlagen. Als Erstes vollzog sich ein bedeutsamer Wandel in Größe und Zusammensetzung der Bolschewistischen Partei. Am Vorabend der Februarrevolution hatte die Bolschewistische Partei nicht mehr als etwa 10 000 Mitglieder. Im Laufe dieses Jahres wuchs sie sehr schnell; die Schätzungen über ihre genaue Größe schwanken zwar sehr, aber man kann mit einiger Sicherheit sagen, dass ihre Mitgliedschaft im Oktober auf mindestens 45 000 angewachsen war. Möglicherweise waren es noch wesentlich mehr. Was immer ihre genaue Größe war, in der Bolschewistischen Partei versammelte sich die überwiegende Mehrheit der politisch bewussten und kämpferischen Elemente in der Arbeiterklasse. Während des Bürgerkriegs hielt das Wachstum der Partei an, besonders als sich der endgültige Sieg abzeichnete. Diejenigen, die sich gegen Ende des Bürgerkriegs anschlossen, waren natürlich oft ganz anders beschaffen als jene, die sich zu Beginn eingeschrieben hatten. Die Tatsache, dass die Partei 1921 mehr als 386 000 Mitglieder zählte, war für Lenin Anlass zu einiger Besorgnis. Oft sprach er von den „Schurken“, die sich auf der Jagd nach Karrieren und Privilegien in die Bolschewistische Partei eingeschlichen hatten. Der 10. Parteitag im März 1921 leitete eine politische Säuberung in die Wege, um solche Elemente aus der Partei zu entfernen. Tausende Mitglieder wurden gestrichen.
Ungeachtet dieser Säuberung änderte sich die Stimmung in der Partei durchgreifend. Nach vier Jahren Revolution und Bürgerkrieg, denen schon drei Jahre Weltkrieg vorangegangen waren, machte sich 1921 in der Bolschewistischen Partei eine gewisse politische Erschöpfung breit. Wie lange können Männer und Frauen auch auf Messers Schneide leben? Historische Bedingungen, in denen der Heroismus zum Alltag wird, sind naturgemäß die Ausnahme. Irgendwann – und das geschah in jeder Revolution – setzt die Reaktion gegen die „heroische Lebensweise“ ein. 1921 schien sich die bolschewistische Regierung gegen ihre größten inneren und äußeren Feinde behauptet zu haben. Als die Gefahr des Sturzes oder Zusammenbruchs zurückging, machte sich bei vielen, die um des Sieges der Revolution willen so viel erduldet hatten, der Wunsch nach etwas angenehmeren Umständen für den Rest ihres Lebens geltend. Sie wollten wenigstens einige bescheidene Früchte ihrer Bemühungen ernten.
Was diesen Stimmungen besonderes politisches Gewicht verlieh, waren die objektiven Verhältnisse in Sowjetrussland. Die wichtigste, alles beherrschende Tatsache des dortigen Lebens war der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Revolution und der allgemeinen Rückständigkeit Russlands. Obwohl sich das Regime vor den unmittelbaren Gefahren hatte schützen können, lebte die Bevölkerung in verzweifelter Not. Als die Parteimitglieder in die Arbeit eines rasch anwachsenden Staatsapparates einbezogen wurden, kamen sie in eine gesellschaftliche Stellung, die ihnen Privilegien verschaffte, wie sie die überwiegende Mehrheit der Arbeiter nicht kannte. Obwohl sich diese Privilegien eher gering ausnahmen, waren sie doch groß genug, um ein Faktor in der politischen Einstellung ihrer Nutznießer zu werden.
Die NÖP erzeugte noch ein weiteres Phänomen von großer politischer Bedeutung: das Wiederaufleben nationalistischer Gefühle. Die Russische Revolution war von den Bolschewiki im Namen des proletarischen Internationalismus und der internationalen Revolution gemacht worden. Niemals in der Weltgeschichte hatte es eine Partei gegeben, die so entschieden mit den nationalen Traditionen des Landes brach, in dem sie an die Macht gekommen war. Ein beträchtlicher Teil der Führung der Bolschewistischen Partei hatte jahrelang außerhalb Russlands gelebt. Als Lenin im April 1917 nach Russland zurückkehrte, hatte er beinahe 20 Jahre im Exil verbracht. Seit 1900 war er nur etwa anderthalb Jahre – während der Revolution von 1905 und ihrer unmittelbaren Nachwirkungen – in Russland gewesen. Trotzki hatte vor 1917 zehn Jahre lang im Exil gelebt, und das war nicht ungewöhnlich. Die meisten Führer der Russischen Revolution verfügten über jahrelange Erfahrung in der internationalen Arbeiterbewegung. Viele beherrschten fließend mehrere Sprachen. Lenin, glaube ich, sprach fließend russisch, englisch, französisch und deutsch. Unter den wichtigsten Parteiführern fiel Stalin gerade in dieser Hinsicht aus dem Rahmen, denn ihm mangelte es an internationaler Erfahrung, und er beherrschte überhaupt keine Fremdsprache.
Aber im Jahr 1917 hätte selbst Stalin die internationalistische Auffassung der Revolution, die in der Bolschewistischen Partei herrschte, nicht in Zweifel gezogen. Und die gestürzten Klassen beschimpften auch prompt die Bolschewiki als eine politische Kraft, die Russland völlig fremd sei. Es war kein Zufall, dass der Hauptvorwurf der Bourgeoisie gegen Lenin im Jahr 1917 lautete, er sei ein mit „deutschem Gold“ bezahlter Verräter an Russland. Unmittelbar nach der Revolution war die Bolschewistische Partei in den Augen der Emigranten die Schänderin von allem, was ihnen an der Kultur des alten Russland heilig war.
Mit der Einführung der NÖP griffen Tendenzen um sich, die den spezifisch nationalen Charakter der Revolution betonten oder zumindest darauf aufmerksam machten. Deutliche Formen nahm diese Tendenz zuerst in einer Emigrantengruppe an, die für eine Versöhnung mit der Russischen Revolution eintrat. In einem 1921 erschienenen Sammelband mit dem Titel „Wechsel der Wegzeichen“ („Smena Wech“) argumentierte ein Autor namens Nikolai Ustrjalow, dass die Revolution, wie immer sie sich auch nennen mochte – sozialistisch, kommunistisch, internationalistisch –, in letzter Analyse doch ein Produkt der russischen Geschichte und der russischen Kultur sei.[7] Die Neue Ökonomische Politik, schrieb Ustrjalow, sei nicht bloß ein taktischer Rückzug der Bolschewiki, um bis zur internationalen Revolution Zeit zu gewinnen. Sie stelle vielmehr die Rückkehr der Revolution zu ihren wirklichen, russischen Wurzeln dar; und dem Sowjetstaat stehe ungeachtet der Behauptungen seiner Führer die allmähliche Verwandlung in einen russischen bürgerlichen Staat bevor. Anstatt sich der Revolution entgegenzustellen, meinte Ustrjalow, solle man ihre natürliche russische und bürgerliche Entwicklung nach Kräften fördern.
Ustrjalows Argumentation wurde innerhalb Sowjetrusslands genau verfolgt und stieß auf offene Ohren. In gewissem Maße wurden Ustrjalows Ansichten als Anerkennung der Stabilität und des zunehmenden Prestiges der Sowjetregierung gewertet. Aber die Reaktion auf sie widerspiegelte auch ein Wiederaufleben nationalistischer Gefühle in Sowjetrussland, gegen die breite Teile der Partei – denen zumeist die internationale Erfahrung und das theoretische Wissen des vorrevolutionären Kaders fehlte – keineswegs immun waren. Eine ganze Reihe Bücher erschienen, in denen populäre Autoren wie beispielsweise Boris Pilnjak den russischen Charakter der Revolution verherrlichend ausmalten.
Diese Entwicklung wurzelte in den gesellschaftlichen Widersprüchen der Russischen Revolution. Sie wurde von einer proletarischen Partei geführt, war aber von der Unterstützung der millionenköpfigen Bauernschaft abhängig, die die Mehrheit der Bevölkerung bildete. Die Haltung der Bauernschaft zur Revolution war ambivalent. Sie hatte die bolschewistische Revolution unterstützt, weil sie ihr Land gegeben hatte. Aber am Kommunismus und der internationalen Arbeitersolidarität hatte sie wenig Interesse.
Das Wiederaufleben nationaler Gefühle widerspiegelte nicht nur die Einstellung der Bauernschaft, sondern auch jene der wachsenden Bürokratie, deren Angehörige die Revolution immer mehr unter dem Blickwinkel der Privilegien sahen, die sie den Posteninhabern des neuen sowjetischen Nationalstaates beschert hatte. Lenins scharfem politischen Blick blieb dies nicht verborgen.
Lenins letzte Tage
Im März 1922, ein Jahr nach Einführung der NÖP, erstattete Lenin auf dem 11. Parteitag den politischen Bericht. Er ging ausführlich auf den „Wechsel der Wegzeichen“ ein und versuchte die tiefere politische Bedeutung von Ustrjalows Argumenten zu beleuchten. Für Lenin bestand die Bedeutung von „Wechsel der Wegzeichen“ gerade darin, dass dessen Feststellungen über den Verlauf der Russischen Revolution durchaus begründet waren und tatsächliche soziale Prozesse innerhalb des Sowjetstaates widerspiegelten.
Für Lenin war keineswegs undenkbar, dass die NÖP zum Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Degeneration der Russischen Revolution werden konnte. „Ich glaube, dieser Ustrjalow bringt uns mit seiner offenherzigen Erklärung großen Nutzen“, sagte Lenin vor dem Parteitag.
Wir bekommen – besonders ich von Amts wegen – sehr viel süßliches kommunistisches Geflunker zu hören, Tag für Tag, und manchmal wird einem ganz fürchterlich übel davon. Und da kommt nun an Stelle dieses kommunistischen Geflunkers eine Nummer der „Smena Wech“ und sagt geradeheraus: „Das ist bei euch gar nicht so, das bildet ihr euch nur ein, in Wirklichkeit aber werdet ihr in dem gewöhnlichen bürgerlichen Sumpf landen, und dort werden kommunistische Fähnchen mit allen möglichen Schlagworten darauf hängen.“[8]
Lenin fuhr fort:
Derlei Dinge, von denen Ustrjalow spricht, sind möglich, das muss man offen aussprechen. Die Geschichte kennt alle möglichen Sorten von Metamorphosen; sich auf Überzeugungstreue, Ergebenheit und sonstige prächtige seelische Eigenschaften verlassen – das sollte man in der Politik ganz und gar nicht ernst nehmen. Prächtige seelische Eigenschaften besitzt eine kleine Zahl von Menschen, den historischen Ausgang dagegen entscheiden gigantische Massen, die mit dieser kleinen Zahl von Menschen, wenn sie ihnen nicht passen, manchmal nicht allzu höflich umspringen.[9]
Wenn Ustrjalow nur für sich selbst oder einige Tausend verbitterte Emigranten spräche, so Lenin, dann bestünde kein Grund zur politischen Besorgnis. Aber dem war nicht so. Lenin warnte:
Die „Smena-Wech“-Leute bringen die Stimmung von Tausenden und Zehntausenden aller möglichen Bourgeois oder Sowjetangestellten, die unsere Neue Ökonomische Politik mitmachen, zum Ausdruck. Das ist die grundlegende und wirkliche Gefahr. Und darum muss man dieser Frage das Hauptaugenmerk zuwenden: In der Tat, wer wird die Oberhand gewinnen? Ich sprach vom Wettkampf. Ein direkter Ansturm gegen uns findet nicht statt, man packt uns nicht an der Gurgel. Was morgen sein wird, das werden wir noch sehen, aber heute greift man uns nicht mit der Waffe in der Hand an, und nichtsdestoweniger ist der Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft hundertmal erbitterter und gefährlicher geworden, weil wir nicht immer klar sehen, wo wir einem Feind gegenüberstehen und wer unser Freund ist.[10]
Lenin kam dann auf einen zentralen Widerspruch in der Sowjetregierung zu sprechen:
Man nehme doch Moskau – die 4700 verantwortlichen Kommunisten – und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet. Hier ist etwas geschehen, das dem gleicht, wovon man uns als Kindern in der Geschichtsstunde erzählt hat. Man hat uns gelehrt: Es kommt vor, dass ein Volk ein anderes unterwirft, und dann ist dieses Volk, das ein anderes unterworfen hat, das Eroberervolk, das andere aber, das unterworfen wurde, ist das besiegte Volk. Das ist sehr einfach und jedem verständlich. Wie steht es aber mit der Kultur dieser Völker? Da ist es nicht so einfach. Wenn das Eroberervolk eine höhere Kultur hat als das besiegte Volk, dann zwingt es ihm seine Kultur auf, ist es aber umgekehrt, dann kommt es vor, dass das besiegte Volk seine Kultur dem Eroberer aufzwingt. Ist nicht etwas Ähnliches in der Hauptstadt der RSFSR geschehen, ist hier nicht der Fall eingetreten, dass 4700 Kommunisten (fast eine ganze Division, und allesamt die besten) einer fremden Kultur unterlegen sind? Allerdings könnte hier der falsche Eindruck entstehen, dass die Besiegten eine hohe Kultur besitzen. Nichts dergleichen. Ihre Kultur ist armselig, ist sehr niedrig, aber dennoch steht sie höher als die unsrige. So jämmerlich, so armselig sie sein mag, sie steht dennoch höher als die unserer verantwortlichen kommunistischen Funktionäre, weil diese die Kunst der Verwaltung nicht genügend beherrschen.[11]
In dieser Rede sprach Lenin das Thema an, das sein letztes, sorgenvolles Lebensjahr in der Politik beherrschen sollte. Schon im Januar 1921 hatte Lenin das Sowjetregime als „Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen“[12] definiert. Als die komplexe Aufgabe, ein riesiges, rückständiges Land zu verwalten, eine immer größere Staatsbürokratie erforderte und die Regierung gezwungen war, auf die Beamten des alten zaristischen Staatsapparats zurückzugreifen, die in kurzer Zeit die relativ kleine Anzahl erfahrener revolutionärer Kader überschwemmten, wuchs Lenins Beunruhigung über den Wandel im sozialen Charakter und der Einstellung der Partei. Lenin erkannte, welcher furchtbare Widerspruch das Sowjetregime befiel. Die NÖP war notwendig gewesen, um die Revolution zu retten, aber sie hatte auch die Bedingungen gefördert, die bei einer bestimmten Konstellation zu ihrer Vernichtung führen konnten.
Knapp zwei Monate nach dieser Rede erlitt Lenin einen schweren Schlaganfall. Er konnte nicht mehr sprechen und war gelähmt. Aber er erholte sich erstaunlich schnell und kehrte im Frühherbst 1922 auf seinen Führungsposten zurück. Die Situation, die er nun in Partei und Staat vorfand, überzeugte ihn, dass seine früheren Warnungen schneller bestätigt wurden, als er erwartet hatte. Bestärkt wurden Lenins Vorahnungen angesichts der Situation in der Führung, die durch eine kurz vor seiner Erkrankung getroffene Entscheidung entstanden war: die Ernennung Stalins zum Generalsekretär der Partei.
Dieses Amt versetzte Stalin in die Lage, zu bestimmen, wer welche Positionen in Partei und Staat besetzte. Unter Stalin wurde das Büro des Generalsekretärs zum Mittelpunkt einer riesigen Vetternwirtschaft; Stalin nutzte zielstrebig die unbeschränkten Möglichkeiten seines Amtes, um die wichtigen Posten mit seinen Günstlingen zu besetzen. Auf diese Weise konnte Stalin allmählich ein großes persönliches Netz von Anhängern knüpfen, die ihm ihre Karrieren und Vergünstigungen verdankten. Gleichzeitig wurden jene, denen Stalin nicht traute, oftmals an den Rand gedrängt. Eine von Stalins Lieblingsmethoden, Trotzki zu isolieren, bestand darin, seine engsten Vertrauten – wie Adolf Joffe – auf Botschafterposten außerhalb Sowjetrusslands zu schicken. Die Praxis der Ernennung von Funktionären wurde praktisch auf alle Ebenen der Parteiorganisation ausgedehnt, was die Fähigkeit der Mitgliedschaft zu jeglicher politischer Kontrolle über die Führung stark untergrub. Es griff immer mehr um sich, dass die Führer lokaler Parteiorganisationen vom Generalsekretär ernannt, anstatt von den Mitgliedern gewählt wurden.
Als Lenin Ende 1922 die politische Arbeit wieder aufnahm, war er entsetzt über die Veränderungen, die sich während seiner Abwesenheit vollzogen hatten. Es dürfte keine Übertreibung sein zu sagen, dass Lenin die Partei, die er gegründet hatte, kaum mehr wiedererkannte. Natürlich erkannte er all die alten Gesichter, aber irgendwie spürte er, dass sich die Spielregeln verändert hatten. Männer, die Lenin ausgewählt und erzogen hatte und die von historischen Ereignissen, die in großem Maße auf seine Vision und sein Genie zurückgingen, auf große Höhen getragen worden waren, verfolgten nun ihre eigenen politischen Ziele, wobei sie sich für gewöhnlich nicht einmal darüber bewusst waren oder auch nur darum kümmerten, wessen Klasseninteressen diese Ziele letztlich dienten.
Eine Schlüsselfrage der Staatspolitik brachte Lenin zu der Überzeugung, dass sich in diesem neuen, unangenehmen Parteimilieu allmählich eine rechte politische Orientierung herausbildete. Er erfuhr, dass während seiner Abwesenheit Stalin den Vorschlägen Bucharins und Sokolnikows zustimmte, das staatliche Außenhandelsmonopol aufzuheben. Dies alarmierte Lenin sehr, denn diese Maßnahme hätte die Sowjetregierung eines ihrer wichtigsten Mittel zur Regulierung und wirtschaftlichen Beschränkung der kapitalistischen Kräfte beraubt, deren Tätigkeit und Einfluss unter der NÖP stark anwuchsen. Die Kapitalisten auf dem Land und in der Stadt konnten untereinander handeln und an den Staat verkaufen. Aber sie konnten nicht direkt an ausländische Regierungen oder Unternehmen verkaufen. Jeglicher Außenhandel musste durch die Hände des Staates gehen. Die bolschewistische Regierung fürchtete, dass der Arbeiterstaat, falls die russischen Kapitalisten und reichen Bauern wieder direkte Verbindungen zum internationalen Kapital knüpfen könnten, von einer unkontrollierbaren wirtschaftlichen Macht überwältigt würde. Als Lenin daher von dem Beschluss zur Abschaffung des Außenhandelsmonopols erfuhr, war er höchst alarmiert. Außerdem ärgerte er sich über die Gleichgültigkeit, mit der man seinen Erkundigungen begegnet war. In dieser kritischen Situation wandte sich Lenin an Leo Trotzki. Er war erleichtert, als er hörte, dass auch Trotzki dem Vorschlag zur Abschaffung des Monopols widersprochen hatte.
Lenin schlug Trotzki einen politischen Block gegen die Aufhebung des Monopols vor. Als Stalin dies erfuhr, schloss er mit seinem feinen Sinn für politische Manöver, dass hier wohl Vorsicht am Platze sei, und zog seine Unterstützung für die Aufhebung des Monopols zurück. Lenin begrüßte diesen Sieg und schrieb an Trotzki: „Wie es scheint, ist es uns gelungen, die Stellung ohne einen einzigen Schuss, durch einfaches Manövrieren, zu nehmen.“[13]
Lenin schlug außerdem vor, die gemeinsame politische Offensive fortzusetzen. Er traf sich mit Trotzki, um über das zunehmende Gewicht der Bürokratie zu sprechen, und sie kamen überein, einen Block gegen die Bürokratie „im Allgemeinen“ und gegen das von Stalin geführte Organisationsbüro „im Besonderen“ zu bilden, wie Trotzki sich später erinnerte.
Zu diesem Zeitpunkt, im Dezember 1922, wusste Lenin, dass seine Tage gezählt waren. Er litt an extremer Schlaflosigkeit und stellte weitere Symptome fest, die schon seinem ersten Schlaganfall vorangegangen waren. In dieser schwierigen Lage ereignete sich ein weiterer Vorfall, der Lenins Besorgnis über den Zustand der Partei und insbesondere den ihrer Führung steigerte. Ende 1922 legte die bolschewistische Regierung letzte Hand an die neuen Verfassungsregelungen über die Beziehungen zwischen den nationalen Republiken, die zur Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken führen sollten. Lenin, ein unversöhnlicher Gegner des russischen Nationalismus, war entschlossen, dass diese Regelungen nicht zur Vorherrschaft der russischen Nation über andere nationale Gruppierungen innerhalb der angestrebten Sowjetföderation führen sollten. Er bestand darauf, dass nichts unversucht blieb, um die Hoffnungen und Gefühle der Nationalitäten innerhalb der künftigen Sowjetföderation zu befriedigen. Besonders schwierig gestalteten sich die Diskussionen mit den georgischen Bolschewiki. Sie beschwerten sich über Maßnahmen, die sie als Verstöße gegen ihre legitimen Rechte empfanden. Lenin hatte sich über ihre Einstellung etwas ungehalten gezeigt, aber seine Einstellung änderte sich, als er feststellte, wie arrogant und provokativ sich Stalin, Dserschinski und Ordschonikidse verhielten. Lenin erfuhr zu seinem aufrichtigen Schrecken, dass Ordschonikidse im Verlauf der Verhandlungen einen Georgier sogar tätlich angegriffen hatte.
In diesem Ereignis sah Lenin ein Symptom einer schweren politischen Krankheit in der Bolschewistischen Partei, die wiederum auf die sozialen Widersprüche der Russischen Revolution zurückzuführen war. Nur vor diesem politischen Hintergrund kann man die außergewöhnliche Serie von Dokumenten verstehen, die Lenin in den letzten Wochen seines politischen Lebens diktierte. Zu diesen Dokumenten zählt auch das nach seinem Tod so bezeichnete „Testament“.
In einem Memorandum vom 24. Dezember 1922 legte Lenin seine Einschätzungen über die führenden Persönlichkeiten in der Bolschewistischen Partei dar; er konzentrierte sich dabei auf die „Eigenschaften zweier hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK“, Trotzki und Stalin. Seine Bewertung Trotzkis war höchst anerkennend. Er habe „hervorragende Fähigkeiten“ und sei „der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK“. Dieses Lob dämpfte er allerdings durch die Feststellung, dass Trotzki „eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen“ habe.[14] Wahrscheinlich widerspiegelte diese milde Kritik die Nachwirkung der Spannungen, die sich während ihres berühmten Disputs über die Gewerkschaften rund zwei Jahre zuvor aufgebaut hatten.
Lenins Kritik an Stalin aber hatte einen ganz anderen Stellenwert: „Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.“[15]
Noch bedeutsamer als die knappe Charakterisierung der beiden Männer war Lenins erstaunlich weitsichtige Beobachtung, dass die Gefahr einer Spaltung innerhalb der Bolschewistischen Partei in der Beziehung zwischen Stalin und Trotzki ihren schärfsten Ausdruck fand. Weshalb, könnte man fragen, maß Lenin dem Verhältnis zwischen diesen beiden Männern eine so immense politische Bedeutung bei? Immerhin hatte Lenin sich oftmals gegen die vulgäre Tendenz gewandt, komplexe politische Probleme auf die Ebene von Individuen und deren subjektiven Absichten hinunterzuzerren. Mit Sicherheit hatte er seine Herangehensweise an politische Probleme nicht geändert. Lenin muss erkannt haben, dass sich in Form der ständigen Spannung zwischen Trotzki und Stalin innerhalb der Bolschewistischen Partei reale soziale Konflikte widerspiegelten, die die Russische Revolution gefährdeten.
Trotz seiner episodischen Meinungsverschiedenheiten mit Trotzki während verschiedener Perioden ihres politischen Lebens wusste Lenin den historischen Charakter von Trotzkis Leistungen zweifellos zu würdigen. Seinen Respekt und seine Bewunderung bezeugen die voneinander unabhängigen Aussagen von Lenins Witwe, Nadeschda Krupskaja, und Adolf Joffe, der später berichtete, wie Lenin ihm gegenüber zugegeben hatte, dass der Verlauf der Russischen Revolution Trotzkis theoretische Positionen aus der Zeit vor 1917 bestätigt hatte. Außerdem muss Lenin im ganz objektiven Sinne Trotzki als den führenden politischen Vertreter des internationalen Programms und der internationalen Ziele der Russischen Revolution erkannt haben.
Gerade in dieser Hinsicht repräsentierte Stalin in der Führung der Bolschewistischen Partei die politische Antithese zu Trotzki. Neun Monate zuvor hatte Lenin über den Aufsatz Ustrjalows gesagt, seine nationalistischen Ansichten brächten „die Stimmung von Tausenden und Zehntausenden aller möglichen Bourgeois oder Sowjetangestellten“ zum Ausdruck. Nun erblickte Lenin in der Person Stalins die Verkörperung einer wiederauflebenden, von Nationalismus durchdrungenen russischen Bürokratie, die für die Zukunft der Revolution die größte Gefahr darstellte.
Diese Interpretation von Lenins Testament wird durch die ausführlichen Memos gestützt, die er in den folgenden Tagen diktierte. Am 30. Dezember 1922 wandte sich Lenin dem Konflikt mit den Georgiern zu und diktierte eine vernichtende Bewertung der Tätigkeit Stalins und seiner Handlanger. „Wenn es so weit gekommen war, dass Ordshonikidse sich zu physischer Gewaltanwendung hinreißen ließ, wie mir Gen. Dzierzynski mitteilte, so kann man sich vorstellen, in welchem Sumpf wir gelandet sind.“[16]
Aber die Hauptverantwortung für den „Sumpf“ sah Lenin nicht bei Ordschonikidse. Sie lag bei Stalin, den er als Typus des „großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist“ charakterisierte. Er sprach mit Verachtung von Stalins „Wut“ und bemerkte: „Wut ist in der Politik gewöhnlich überhaupt von größtem Übel.“[17]
Lenin schloss seine Aufzeichnung mit den Worten: „Hier ergibt sich bereits die wichtige prinzipielle Frage: Wie ist der Internationalismus zu verstehen.“[18]
Einen Tag später setzte Lenin seine Verurteilung Stalins fort. Er bezeichnete ihn als „wahrer und echter ‚Sozialnationalist‘, ja mehr noch, ein brutaler großrussischer Dershimorda“.[19]
Als Lenin die politischen Implikationen seiner Analyse entwickelte, gelangte er zu der Schlussfolgerung, dass Stalins Autorität innerhalb der Führung drastisch reduziert werden musste. Deshalb fügte er seinem Testament am 4. Januar 1923 folgenden berühmten Zusatz bei: „Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist.“[20]
Im April 1923 sollte ein Parteitag stattfinden. Lenin wusste nicht, ob er gesundheitlich in der Lage sein würde, daran teilzunehmen. Deshalb widmete er sich mit aller Kraft zwei zusammenhängenden Aufgaben: Erst schrieb er zwei lange Artikel, in denen er sich um eine Analyse der Probleme im sowjetischen Staatsapparat bemühte („Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen“ und „Lieber weniger, aber besser“); zweitens bereitete er einen politischen Entscheidungskampf mit Stalin vor. Die Artikel waren an sich schon ein derart vernichtendes Urteil über Stalins Leitung der Partei- und Staatsadministration, dass man versuchte, die Veröffentlichung von „Lieber weniger, aber besser“ zu verhindern. Im Politbüro wurde sogar vorgeschlagen, den Artikel in einer gefälschten „Prawda“ in nur einem Exemplar zu drucken, das dann Lenin gezeigt werden sollte. Aber Anfang 1923 war es noch nicht möglich, ein solches politisches Betrugsmanöver tatsächlich zu verwirklichen.
Trotz der Intrigen, die um ihn gesponnen wurden, bereitete Lenin, in den Worten seines Sekretärs, „eine Bombe gegen Stalin“ vor. Lenin wollte dem 12. Parteitag eine dokumentarische Aufstellung über Stalins Autoritätsmissbrauch unterbreiten. Zu den Beispielen zählte nicht nur Stalins Unterdrückung der georgischen Bolschewiki, sondern auch sein beleidigendes Verhalten gegenüber Lenins Ehefrau. Hinsichtlich dieses letztgenannten Vorfalls verlangte Lenin am 5. März 1923 eine Entschuldigung von Stalin, die er auch erhielt. Stalin war zwar raffiniert, aber in einem politischen Kampf konnte er Lenin nicht das Wasser reichen.
Lenin wollte von Stalin keine Genugtuung. Aber die schriftliche Entschuldigung lieferte ihm ein weiteres dokumentarisches Beweisstück für dessen grobes Verhalten, das er brauchte, um auf dem bevorstehenden Parteitag die nötige Unterstützung für Stalins Absetzung vom Posten des Generalsekretärs zu erhalten.
Hätte ein weiterer Schlaganfall Lenins politischem Leben nicht schon drei Tage später ein Ende gesetzt, dann wäre diese „Bombe“ auf dem 12. Parteitag geplatzt. Aber sein plötzliches Fehlen bedeutete eine durchgreifende Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Führung der Kommunistischen Partei Russlands. Erst sechs Jahre zuvor war Lenin aufgrund seiner rechtzeitigen Rückkehr nach Russland in der Lage gewesen, die versöhnlerische Haltung der Partei gegenüber der Provisorischen Regierung zu ändern und sie auf den Kurs der Machteroberung zu bringen. Nun, als die thermidorianische Reaktion gegen die sowjetische Revolution an Stärke gewann, verzögerte Lenins frühe Krankheit den Beginn des offenen Kampfs gegen die Bürokratie um mehrere, entscheidende Monate.
Leo Trotzki, „Brief vom 8. Oktober 1923 an das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission der Kommunistischen Partei Russland“, World Socialist Web Site: https://www.wsws.org/de/articles/2023/10/15/brie-o15.html.
Richard Pipes, „Why Russians Act like Russians“, in: Air Force Magazine, Juni 1970, S. 51–55.
Ronald G. Suny, „Revising the old story: The 1917 revolution in light of new sources“, in: Daniel H. Kaiser (Hg.), The Workers’ Revolution in Russia, 1917: The View from Below, Cambridge 1987, S. 19.
Steve A. Smith, „Petrograd in 1917“, in: The Workers’ Revolution in Russia, 1917, ebd., S. 52.
Vladimir Brovkin (Hg.), Dear Comrades. Menshevik Reports on the Bolshevik Revolution and the Civil War, Stanford 1991, S. 52.
Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 334.
Nikolai Ustrjalow (1890–1937) ist als der wichtigste Ideologe des Nationalbolschewismus bekannt. Nachdem er während des Bürgerkriegs die konterrevolutionären Weißen Armeen unterstützt hatte, änderte er seine politische Haltung gegenüber der Sowjetregierung, nachdem die Bolschewiki ihre Macht gefestigt und die Neue Ökonomische Politik eingeführt hatten. In der Aufsatzsammlung „Smena Wech“ (Wechsel der Wegzeichen), die erstmals 1921 in Prag veröffentlicht wurde, skizzierten er und seine Mitdenker eine nationalistische Interpretation der Russischen Revolution. Sie wurden als die „Smenowechowzy“ bekannt. In den innerparteilichen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre bezog sich die Linke Opposition oft auf die Ideen von Ustrjalow als die bewussteste antimarxistische Artikulation des nationalistischen Programms des „Sozialismus in einem Land“.
Wladimir I. Lenin, „Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR (B)“, 27. März 1922, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1977, S. 273.
Ebd., S. 273–274.
Ebd., S. 274.
Ebd., S. 275.
Wladimir I. Lenin, „Die Krise der Partei“, 19. Januar 1921, in: Werke, Bd. 32, Berlin 1975, S. 32.
Wladimir I. Lenin, „An L. D. Trotzki“, 21. Dezember 1922, in: Briefe, Bd. IX, Berlin 1974, S. 334.
Wladimir I. Lenin, „Brief an den Parteitag“, Aufzeichnung vom 24. Dezember 1922, in: Werke, Bd. 36, Berlin 1974, S. 579.
Ebd.
Wladimir I. Lenin, „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“, 30./31. Dezember 1922, in: Werke, Bd. 36, Berlin 1974, S. 590.
Ebd., S. 591.
Ebd., S. 592.
Ebd., S. 594. „Dershimorda“ ist der Polizist in Nikolai Gogols „Revisor“. Zu Deutsch: „Halt die Schnauze“.
Wladimir I. Lenin, „Brief an den Parteitag“, Aufzeichnung vom 4. Januar 1923, ebd., S. 580.