Werden in Deutschland bald wieder Bücher verbrannt?

Ein Kommentar zu den Attacken auf die Berlinale

Liest man die Kommentare über die Abschlussgala der diesjährigen Berlinale, fragt man sich unwillkürlich: Werden in Deutschland bald wieder Bücher verbrannt? Weil einige Preisträger und Juroren den Mut hatten, die Dinge beim Namen zu nennen, anstatt Sprachrohr der Herrschenden zu sein, werden sie behandelt wie Kriminelle.

Yuval Abraham und Basel Adra, die Regisseure von "No Other Land" [Photo by Richard Hübner / Berlinale 2024]

Dass der Film „No Other Land“, der die brutale Vertreibung palästinensischer Dorfbewohner im Westjordanland dokumentiert, sowohl den von einer Jury vergebenen Dokumentarfilmpreis wie den Publikumspreis für Dokumentarfilme erhielt, war den Sittenwächtern in den Redaktionen und Parteizentralen zu viel.

Als dann die beiden Autoren des Films, der Israeli Yuval Abraham und der Palästinenser Basel Adra, auch noch das Massaker in Gaza und die Apartheid in Israel verurteilten, Jury-Mitglieder einen Waffenstillstand forderten und ein anderer Preisträger mit Palästinensertuch auftrat, kannte die Empörung keine Grenzen mehr.

„Peinlich, beschämend, verstörend und propagandistisch,“ zeterte Christian Tretbar, der Chefredakteur des Tagesspiegel. „Die Schande von Berlin“, titelte die Süddeutsche Zeitung. Die Welt geiferte gegen „ein realitätsblindes Milieu“, das „in aparter Selbstbesoffenheit die große Bühne für seinen Antisemitismus suchte“. Man kann die Liste beliebig fortsetzen.

Obwohl die israelische Armee in viereinhalb Monaten mehr als 30.000 Palästinenser ermordet, zwei Millionen vertrieben, ausgehungert und ihre Häuser sowie Krankenhäuser, Schulen und Moscheen systematisch zerstört hat und eine weitere Offensive gegen Rafah plant, wo 1,5 Millionen dicht zusammengedrängt leben, gilt allein schon der Ruf nach einem Waffenstillstand als „Antisemitismus“.

Der Ruf nach Gleichschaltung und Unterdrückung ist allgegenwärtig. Die öffentliche Kunstförderung soll in ein Werkzeug der Zensur verwandelt werden. „Es muss klargestellt werden: Für Antisemitismus gibt‘s kein Staatsgeld,“ fordert der Grünen-Politiker Volker Beck. Und die Welt erklärt: „Die Tatsache, dass dafür Geld der Steuerzahler ausgegeben wird, ist unentschuldbar.“

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) lässt prüfen, ob es zu strafrechtlich relevanten Äußerungen gekommen sei. Und der Regierende Bürgermeister Berlins, Kai Wegner, forderte auf X: „Ich erwarte von der neuen Leitung der Berlinale, sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen.“

Es ist klar, dass es hier nicht nur um die Berlinale geht, sondern um die Unterdrückung der Freiheit jeglicher künstlerischen Tätigkeit. Wenn man der Kunst verbietet, die Wahrheit zu sagen, ist sie nicht Kunst, sondern Staatspropaganda.

Die Folgen der Kampagne gehen aber noch weiter. Sie ist für die Betroffenen lebensgefährlich. „No Other Land“-Regisseur Yuval Abraham musste seine Rückreise nach Israel am Tag nach der Preisverleihung in Griechenland abbrechen, weil, wie er auf seinem X-Account berichtet, „ein rechtsgerichteter israelischer Mob gestern zum Haus meiner Familie kam, um nach mir zu suchen, und enge Familienmitglieder bedrohte, die mitten in der Nacht in eine andere Stadt flohen“. Er selbst erhalte auch weiterhin Todesdrohungen.

Der Grund, so Abraham, sei die absurde Bezeichnung seiner Berlinale-Preisrede als „antisemitisch“. „Der entsetzliche Missbrauch dieses Wortes durch die Deutschen, nicht nur um palästinensische Kritiker Israels, sondern auch Israelis wie mich zum Schweigen zu bringen, die einen Waffenstillstand unterstützen, der das Töten in Gaza beendet und die Freilassung der israelischen Geiseln ermöglicht, entleert das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung und gefährdet damit Juden in der ganzen Welt.“

Als jemand, dessen Großmutter in einem Konzentrationslager in Libyen geboren wurde und dessen Großvaters Familie zu einem großen Teil durch Deutsche im Holocaust ermordet wurde, finde er es „besonders empörend, dass deutsche Politiker im Jahr 2024 die Dreistigkeit besitzen, diesen Begriff gegen mich in einer Weise zu verwenden, die meine Familie gefährdet. Vor allem aber bringt dieses Verhalten das Leben des palästinensischen Co-Regisseurs Basel Adra in Gefahr, der unter einer militärischen Besatzung umgeben von gewalttätigen Siedlungen in Masafer Yatta lebt. Er ist in weit größerer Gefahr als ich.“

Er freue sich, dass ihr Film “No Other Land” eine wichtige internationale Debatte zu diesem Thema auslöst, und hoffe, dass Millionen Menschen den Film sehen werden, schreibt Abraham. Man dürfe seine Aussagen bei der Preisverleihung kritisieren, aber nicht dämonisieren. „Wenn ihr so mit eurer Schuld am Holocaust umgeht – dann will ich eure Schuld nicht haben.“

Tatsächlich hat die Denunzierung pro-palästinensischer Äußerungen auf der Berlinale nichts mit der deutschen Verantwortung für den Holocaust zu tun. Die herrschende Klasse Deutschlands, die nach 1945 zehntausende Nazi-Verbrecher in ihren Staatsämtern, auf ihren Richterstühlen und auf ihren Professorenposten beließ und Massenmörder, die tausende Juden umgebracht hatten, ungeschoren davonkommen ließ, hat sich nie ernsthaft um die Aufarbeitung des Holocaust bemüht. Auch Israel, das ihr als Brückenkopf für ihre imperialistischen Interessen im Nahen Osten dient, unterstützt sie aus rein geostrategischen Gründen.

Die Erbitterung, mit der sie jede Kritik am israelischen Genozid in Gaza verfolgt, hat andere Gründe. Sie sieht den Mut, mit dem Yuval Abraham, Basel Adra und andere Künstler der offiziellen Propaganda entgegentreten, als Vorbote und Ausdruck einer breiten Opposition gegen ihre Kriegspolitik.

Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 11. Mai 1933 [Photo by Bundesarchiv, Bild 102-14597 / Georg Pahl / CC BY 3.0]

Gaza ist nur eine Front, an der die deutsche Regierung einen mörderischen Krieg unterstützt und befeuert. Allein in den Ukrainekrieg gegen Russland hat sie in den vergangenen zwei Jahren 22 Milliarden Euro investiert – die Milliarden, die über die EU flossen, nicht eingerechnet.

Je verzweifelter die Lage an der Front wird, desto mehr eskaliert sie den Krieg, dessen Ziel die Unterwerfung Russlands und die Kontrolle über seine wertvollen Rohstoffe ist. Selbst der Einsatz von Bodentruppen und der Bau einer eigenen Atombombe sind inzwischen im Gespräch. Verteidigungsminister Pistorius will Deutschland „kriegstüchtig“ machen, was eine weitere Erhöhung der Militärausgaben und entsprechende Sozialkürzungen erfordert.

Das lässt sich nicht mit demokratischen Mitteln verwirklichen. Die Kriegspolitik hat keine Unterstützung in der breiten Bevölkerung. Die überwiegende Mehrheit der Jugend ist nicht bereit, sich wie ihre Urgroßväter als Kanonenfutter für die Interessen der deutschen Konzerne und Banken verheizen zu lassen. Und die Arbeiterklasse lehnt es ab, durch weitere Sparrunden die Kosten für Aufrüstung und Krieg zu tragen.

Als Goebbels und das ihm hörige Studenten- und Professorenpack am 11. Mai 1933 die Bücher von Karl Marx, Leo Trotzki, Karl Liebknecht, Carl von Ossietzky, Bertold Brecht, Heinrich Mann und Dutzender anderer in die Flammen warfen, setzten sie ein Fanal, um jede Opposition gegen Krieg und Militarismus im Keim zu ersticken. Demselben Zweck dient heute die Verfolgung kritischer Künstler, Jugendlicher und Arbeiter unter dem verlogenen Vorwurf des Antisemitismus – eine Verfolgung, die von den wirklichen Antisemiten in den Reihen der AfD begeistert unterstützt wird.

Die Verteidigung der Freiheit der Kunst, von Demokratie und sozialen Errungenschaften fällt heute unmittelbar mit dem Kampf gegen Krieg, Militarismus und ihre Ursache, das kapitalistische Gesellschaftssystem zusammen.

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