Am Mittwoch stellte die University of Michigan einen Vorschlag für eine neue Verwaltungsrichtlinie vor, die dazu verwendet werden könnte, öffentliche Proteste auf dem Campus effektiv zu verbieten. Das Vorgehen ist Teil eines eskalierenden landesweiten und globalen Vorgehens gegen den Widerstand gegen Israels Völkermord in Gaza.
In dem Grundsatzdokument heißt es:
Niemand hat das Recht, die Redefreiheit und die Aktivitäten anderer zu beeinträchtigen, indem er die normalen Feierlichkeiten, Aktivitäten und Abläufe der Universität („Universitätsbetrieb“) stört.
Gegen Studierende, die gegen diese Politik verstoßen haben, sollen Disziplinarmaßnahmen bis hin zum Ausschluss eingeleitet werden.
Dieser Angriff auf die Meinungsfreiheit folgt auf die öffentliche Verurteilung einer Protestaktion gegen den Völkermord im Gazastreifen am 26. März durch Universitätspräsident Santa Ono. Ono erklärte:
Wir alle müssen verstehen, dass Protest zwar geschätzt und geschützt wird, Störungen jedoch nicht. Das Recht einer Gruppe, zu protestieren, steht nicht über dem Recht anderer, an einer fröhlichen Veranstaltung teilzunehmen.
Das Verbot von Protesten unter dem Vorwand, eine „Störung“ der „öffentlichen Ordnung“ und des „Wirtschaftslebens“ zu verhindern, ist das Markenzeichen jedes autoritären Regimes der modernen Geschichte. Aus diesem Grund wurde vom demokratischen Rechtsstandpunkt aus die Zulässigkeit der „Störung“ immer als wesentlich für die Rede- und Meinungsfreiheit verstanden.
Wie der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen erklärt hat,
kann von privaten Einrichtungen und der breiteren Gesellschaft ... erwartet werden, dass sie ein gewisses Maß an Störung hinnehmen, wenn dies für die Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung erforderlich ist.
Laut dem am Mittwoch veröffentlichten Entwurf, zu dem bis zum 3. April um „Feedback“ gebeten wird, sollen alle Handlungen verboten werden, die den Universitätsbetrieb in irgendeiner Weise „stören“, z. B. durch „Versperren der Sichtachsen, laute oder verstärkte Geräusche, Projektion von Licht oder Bildern oder sonstige erhebliche Ablenkungen.“ Es wäre auch ein Verstoß gegen die Richtlinie, „den freien Personenverkehr auf dem Campus zu verhindern oder zu behindern“ oder sich zu weigern, den Campus zu verlassen, wenn dies von einem Universitätsvertreter angeordnet wird.
Wird durch Streikposten streikender Arbeiter der Fußgängerverkehr „verhindert oder behindert“? Stellt das Hochhalten eines Banners außerhalb einer Veranstaltung eine „Behinderung der Sichtachsen“ dar? Sind „Buh“-Rufe anstelle von Applaus, wenn ein Kriegsverbrecher die Bühne betritt, eine „substantielle Ablenkung“?
Die Unbestimmtheit dieser politischen Formulierungen ist gewollt. Damit soll der Universität ein Freibrief für das Verbot jeglicher Proteste ausgestellt werden, da alle Proteste naturgemäß mit „substanziellen Ablenkungen“ verbunden sind.
Die Richtlinie sieht außerdem vor, dass die Studierenden im Falle eines mutmaßlichen Verstoßes kurz über die Anschuldigungen informiert und aufgefordert werden, „freiwillig die Verantwortung zu übernehmen“ oder sich andernfalls einem einseitig von der Universität kontrollierten „Verfahren“ zur Festlegung ihrer Strafe zu stellen. Die Richtlinie droht auch damit, die Studenten an die Polizei und die örtliche Staatsanwaltschaft zu verweisen, indem sie „Anträge auf Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß Artikel XII der Regentenverordnung und dem staatlichen Gesetz über Hausfriedensbruch“ stellt. [Der Regentenrat (Board of Regents) ist das achtköpfige Führungsgremium der University of Michigan; d. Übers.]
Die Drohung der Universität, die Polizei und die Staatsanwaltschaft einzuschalten, richtet sich insbesondere gegen die vielen internationalen Studenten der Universität, deren Visastatus oft prekär ist und aus einer Vielzahl von Gründen oder auch ganz ohne Grund widerrufen werden kann.
Die neue „Störungspolitik“ gilt nicht nur für Studenten, sondern ausdrücklich auch für Mitarbeiter, Lehrkräfte und Besucher. Studenten, die gegen die Richtlinie verstoßen, können mit „Ausschluss“, Lehrkräfte mit „Kündigung“ bestraft werden. Die Richtlinie soll auch alle anderen „widersprüchlichen“ Richtlinien außer Kraft setzen, die dem entgegenstehen. Dazu gehört vermutlich auch die Erklärung der studentischen Rechte, in der die „lange Tradition des studentischen Aktivismus und die Wertschätzung der freien Meinungsäußerung, zu der auch die Äußerung unpopulärer Ansichten und abweichender Meinungen gehört“, bekräftigt wird.
Die University of Michigan war in der Tat ein Zentrum der Studentenproteste während des Vietnamkriegs und der Bürgerrechtsbewegung. Das jetzt vorgeschlagene politische Vorgehen hätte, wenn es damals in Kraft getreten wäre, praktisch ganze Abschlussjahrgänge der Studentenschaft kriminalisiert.
Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) an der Universität von Michigan hat am Donnerstag eine Erklärung herausgegeben, in der sie die „jüngsten Versuche der Regierung, den Widerstand gegen den US-amerikanisch-israelischen Völkermord in Gaza einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen“, verurteilt.
Die IYSSE erklärte:
Wir verteidigen bedingungslos alle Studenten, Dozenten und Mitarbeiter, die von der Gedankenpolizei der Universität ins Visier genommen und wegen des „Verbrechens“, gegen einen laufenden Völkermord zu protestieren, der an den Holocaust der Nazis erinnert, schikaniert werden.
Joseph Kishore, Präsidentschaftskandidat der Socialist Equality Party, bezeichnete am Donnerstag auf einer Kundgebung gegen die Universitätsleitung in Ann Arbor, an der über 1.000 Studierende teilnahmen, die vorgeschlagene Politik als „empörenden Angriff auf demokratische Rechte und das Recht auf Protest.“
Weiter erklärte Kishore:
Es ist eine Fortsetzung und Eskalation der Bemühungen, die Proteste gegen den Völkermord in Gaza zu kriminalisieren und zu verleumden. Dies ist eine Antwort der herrschenden Klasse auf die wachsende Opposition unter Arbeitern und jungen Menschen gegen die schrecklichen Verbrechen, die mit aktiver Unterstützung, mit finanzieller Unterstützung und mit politischer Unterstützung der Biden-Regierung und der Demokratischen Partei durchgeführt werden.
Die derzeitige Vorgehen gegen Proteste findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem sich die Stimmung in der US-Bevölkerung deutlich verändert hat: Laut einer am Mittwoch veröffentlichten Gallup-Umfrage stieg die Ablehnung des israelischen Vorgehens in Gaza von 45 Prozent im November auf 55 Prozent im März. Unter Studenten und jungen Menschen, die in den sozialen Medien stärker mit direkten Berichten aus dem Gazastreifen konfrontiert sind, war die Veränderung sogar noch überwältigender. Auf Facebook, TikTok und Instagram übertreffen Hashtags, die die israelische Regierung kritisieren, regelmäßig die Pro-Israel-Hashtags im Verhältnis von zwanzig zu eins, dreißig zu eins und mehr.
Die Reaktion der Universitätsbehörden, die durch unzählige Verbindungen zu den herrschenden kapitalistischen Parteien und dem Apparat aus Militär und Geheimdiensten korrumpiert sind, bestand in der Regel in massiver Unterdrückung.
Die Leitung der U-M stellte ihre neue Politik gegen „Störungen“ in der gleichen Woche vor, in der rund zwei Dutzend Studenten und ein Journalist im Zusammenhang mit einer Anti-Völkermord-Demonstration an der Vanderbilt University in Tennessee schikaniert wurden. Der Protest war ausgerufen worden, nachdem die Leitung eine Abstimmung über eine Resolution blockiert hatte, die verhindert hätte, dass Gelder der Studentenregierung bei Unternehmen ausgegeben werden, die Israel unterstützen.
Dieses Vorgehen ist nur der jüngste Ausdruck eines sich beschleunigenden Prozesses. Seit dem Beginn des Angriffs auf den Gazastreifen im vergangenen Oktober wurden von den Spitzen der demokratischen und der republikanischen Partei unter dem Deckmantel der Bekämpfung des „Antisemitismus“ Forderungen nach einer Unterdrückung der Proteste auf dem Campus erhoben. Im Rahmen dieser Kampagne wurden Universitätspräsidenten vor inquisitorische Anhörungen in Washington gezogen, bei denen die Gesetzgeber ihnen vorwarfen, nicht mehr für die Zensur studentischer Äußerungen zu tun, was zum Rücktritt der ehemaligen Harvard-Präsidentin Claudine Gay führte.
Kürzlich kündigte die Demokratische Partei an, dass sie in diesem Jahr einen „totalen Krieg“ gegen dritte Parteien und unabhängige Kandidaten führen werde, insbesondere um zu verhindern, dass diese Zugang zu den Wahlurnen erhalten. Dieser Prozess spiegelt sich in der ganzen Welt wider, so auch in der neuen „Extremismus“-Gesetzgebung von Rishi Sunak im Vereinigten Königreich und dem Verbot von Demonstrationen mit Bezug zu Algerien in Paris.
Diese zunehmend verzweifelten Zensur- und Repressionsversuche sind kein Kennzeichen einer stabilen, selbstbewussten Gesellschaftsordnung. Sie sind ein Zeichen der Schwäche, eine Folge der Krise des Weltkapitalismus und aller seiner traditionellen Institutionen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wo die sozialen Missstände überhand nehmen. Da die herrschende Klasse nicht in der Lage ist, eine echte Massenunterstützung für ihre Politik zu gewinnen oder irgendetwas anzubieten, das einer Reform ähnelt, wendet sie sich der direkten Repression zu. In den USA gilt dies für die von Trump und den Republikanern angeführte Fraktion ebenso wie für die von Biden und den Demokraten.
Der anhaltende Völkermord im Gazastreifen findet inmitten einer blutigen Eskalation des globalen Konflikts statt, der bereits in der Ukraine wütet, sich auf andere Teile Osteuropas, des Nahen Ostens und Südostasiens auszudehnen droht, und möglicherweise in Richtung des Einsatzes von Atomwaffen eskalieren wird. In diesem Zusammenhang hat der Völkermord in Gaza den US-Nato-Imperialismus als das entlarvt, was er wirklich ist. Amerikas Politiker – die angeblichen „Verfechter der Demokratie“ und Verteidiger der so genannten „regelbasierten internationalen Ordnung“ – stehen vor der Weltbevölkerung als ein blutgetränktes Pack von Heuchlern und Massenmördern da.
Die von ihnen vertretene Gesellschaftsordnung ist ebenfalls bloßgestellt: Sie zeigt keine Tendenz zu Gleichheit und Fortschritt, sondern zu Unterdrückung und Zerstörung. Alle großen historischen Probleme, die mit dem Kapitalismus verbunden sind und die im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege, Faschismus und Völkermord hervorgebracht haben, sind mit aller Macht wieder da, ungeachtet aller Bemühungen zu behaupten, diese Probleme seien „gelöst“ und würden nie wieder auftreten.
In diesem Zusammenhang werden auch all jene politischen Tendenzen und Personen entlarvt, die versucht haben, Illusionen zu säen, dass die Demokratische Partei „unter Druck gesetzt“ und der Kapitalismus „reformiert“ werden könnte. Der amerikanische Präsident, der von diesen Kreisen als einer der „linkesten“ und „arbeiterfreundlichsten“ in der Geschichte gefeiert wurde, wird wahrscheinlich stattdessen mit seinem wohlverdienten Spitznamen „Genocide Joe“ in Erinnerung bleiben
In dem Maße, in dem die demokratische Fassade des Kapitalismus bröckelt und sein reaktionäres Wesen immer deutlicher hervortritt, muss die soziale Kraft, die in der Lage ist, demokratische Rechte zu verteidigen und auszubauen und einen Kampf gegen den Kapitalismus selbst zu führen – die internationale Arbeiterklasse – in den Mittelpunkt rücken. Dies erfordert eine Abkehr von hoffnungslosen Appellen an alle diskreditierten Komplizen und Ermöglicher des Völkermords. Stattdessen müssen sich alle Bemühungen auf die Entwicklung des notwendigen kollektiven Klassenbewusstseins und der Organisation für einen Kampf gegen das kapitalistische System selbst konzentrieren.