Israel setzt Offensive im Westjordanland fort

Am Donnerstag setzte Israel seine verstärkte ethnische Säuberung im Westjordanland fort, wodurch die Zahl der Toten seit Beginn der Militäroperation auf mindestens achtzehn stieg.

Eine Planierraupe der israelischen Streitkräfte im Einsatz während einer Militäroperation im Flüchtlingslager von Al-Faraa im Westjordanland, 28. August 2024 [AP Photo/Nasser Nasser]

In einer Moschee im Flüchtlingslager Tulkarem wurden fünf Menschen getötet, offenbar während einer Schießerei. Das Lager wurde vom israelischen Militär belagert. Soldaten, darunter auch Spezialeinheiten, durchsuchten Häuser, Scharfschützen gingen auf den Dächern in Stellung und Flugzeuge flogen im Tiefflug über das Lager. Über das staatliche Krankenhaus Thabet und das Spezialkrankenhaus al-Israa wurden Blockaden verhängt, und der palästinensische Rote Halbmond wurde daran gehindert, in das Lager zu kommen, um Brände zu löschen und den Verwundeten zu helfen.

In Far'a, al-Chader, Arroub, Nur Sham, Nablus und Nabi Saleh fanden nächtliche Razzien statt, bei denen Berichten zufolge mehrere Palästinenser durch Schüsse, Schläge oder Feuer verwundet wurden. In Dschenin, wo Scharfschützen laut Mohammed al-Atrash von Al Jazeera Arabic „auf jeden schossen, der sich bewegte“, wurden in großen Teilen des Stadtgebiets Strom und Internet abgeschaltet. Das staatliche Krankenhaus von Dschenin wurde belagert, und Krankenwagen wurde der Zugang verwehrt.

Der massive Einsatz tödlicher militärischer Gewalt geht einher mit Aufrufen zu Massenvertreibungen, mit denen sich vor allem Außenminister Israel Katz hervortut. Diese Drohungen wiederholte er am Freitag und erklärte, die Räumungen seien notwendig, um „die terroristischen Infrastrukturen zu zerstören“. Dieses Ziel müsse „mit allen notwendigen Mitteln“ durchgesetzt werden.

Mehrere Organisationen haben die Offensive verurteilt. Das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte, Al-Haq und das Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte warnten in einer gemeinsamen Erklärung vor der „immer weiter eskalierenden Gewalt im Westjordanland und dem Einsatz von Taktiken nach dem Vorbild von Israels Völkermord in Gaza, insbesondere Angriffe auf Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen sowie der Einsatz exzessiver und wahlloser Gewalt“.

In einer Stellungnahme, die im Auftrag von UN-Generalsekretär Antonio Guterres veröffentlicht wurde, hieß es, er sei „zutiefst besorgt über die jüngsten Entwicklungen im besetzten Westjordanland, einschließlich der heutigen groß angelegten Militäroperationen Israels in den Regierungsbezirken Dschenin, Tulkarem und Tubas, bei denen auch Luftangriffe eingesetzt wurden, die zu Opfern und Schäden an der zivilen Infrastruktur führten. Er verurteilt den Verlust von Menschenleben, darunter auch Kindern, auf das Schärfste“.

Erika Guevara von Amnesty International erklärte, der „militärische Angriff auf Städte und Dörfer im gesamten besetzten Westjordanland folgt auf eine Eskalation rechtswidriger Tötungen durch israelische Streitkräfte in den letzten Monaten“. Diese „erschreckende Zunahme tödlicher Gewalt“ gehe auf „israelische Truppen und gewalttätige, staatlich unterstützte Angriffe von Siedlern zurück“.

Sie fuhr fort: „Vermutlich werden diese Operationen zu einer Zunahme von Zwangsumsiedlungen, Zerstörung kritischer Infrastruktur und Maßnahmen der Kollektivbestrafung führen, die zu den Hauptpfeilern von Israels Apartheidsystem gegen die Palästinenser und seiner rechtswidrigen Besetzung der Palästinensergebiete gehören“.

Im Westjordanland wurden seit dem 7. Oktober mehr als 600 Palästinenser durch das israelische Militär getötet, mehr als ein Fünftel davon durch Luftangriffe. Unter den Toten befinden sich mehr als 140 Kinder. Alleine vom 20. bis zum 26. August, vor Beginn der aktuellen Angriffe, wurden dreizehn Palästinenser getötet, acht davon bei Luftangriffen, darunter vier Kinder.

Fast 10.000 Personen wurden verhaftet und in Gefängnissen und Haftzentren festgehalten, in denen Menschenrechtsverletzungen wie Folter und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung sind.

Gleichzeitig hat die israelische Regierung die Beschlagnahme von 12,7 Quadratkilometern Land offiziell bewilligt – die größte Fläche seit drei Jahrzehnten. An der Spitze dieses Prozesses stehen rechtsextreme Siedler, die laut dokumentierten Angaben der Vereinten Nationen in den letzten zehn Monaten 1.270 Angriffe auf Palästinenser verübt haben, bei denen elf Menschen ums Leben kamen und viele Lebensgemeinschaften aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Am Donnerstag inszenierten mehrere Dutzend Siedler unter dem Schutz israelischer Sicherheitskräfte erneut eine Provokation auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee. Sie verwehrten den palästinensischen Gläubigen den Zugang, indem sie die palästinensischen Viertel der Altstadt faktisch abriegelten.

Der ehemalige Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, erklärte gegenüber Al Jazeera: „Offen gesagt ist es der Traum der rechtsextremen Minister in Netanjahus Regierung, das ,Problem‘ Westjordanland ,zu lösen‘. ,Das Problem‘ des Apartheidregimes zu ,lösen‘, das Israel dort aufrechterhält, indem man die Palästinenser einfach los wird... ein riesiges Kriegsverbrechen“.

Das stimmt zwar, doch das Projekt wird vom gesamten Netanjahu-Regime geteilt, das es derzeit umsetzt. Die unverhohlen bösartigen Äußerungen von Personen wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich dienen als bequemer Sündenbock für Teile der herrschenden Klasse, die sich gerne von Zeit zu Zeit als Kritiker von Israels Vorgehen inszenieren, aber dessen Regierung weiterhin voll und ganz unterstützen wollen.

Der jüdisch-chauvinistische Apartheid-Charakter des Staats wurde sogar an der Behandlung einer vor kurzem freigelassenen Geisel deutlich, in deren Namen Israel angeblich seinen Krieg führt. Kaid Farhan al-Kadi, der als jüngste Geisel lebend zurückgebracht wurde, musste erfahren, dass sein Haus abgerissen werden soll.

Al-Kadi gehört zu den 300.000 besonders stark diskriminierten arabischen Beduinen in Israel. 70 Prozent der Bewohner werden aus seinem Heimatdorf Khirbet Karkur vertrieben. Es gehört zu dem Drittel der beduinisch-arabischen Siedlungen, die die israelische Regierung zerstören will. Ein Sprecher der örtlichen Behörden erklärte zynisch, Al-Kadi und seine Familie würden „angesichts der Situation“ verschont bleiben.

In der ersten Hälfte des Jahres 2024 wurden laut dem Negev-Koexistenz-Forum für gesellschaftliche Gleichberechtigung mehr als 1.300 Häuser von Beduinen zerstört, was einem Anstieg von 50 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2022 entspricht.

Während der Krieg im Westjordanland fortgesetzt wird, werden in Gaza weiterhin täglich Dutzende Menschen getötet, und die humanitäre Katastrophe verschlimmert sich. Bei israelischen Angriffen im gesamten Gazastreifen, u.a. in Chan Yunis, Rafah, Gaza-Stadt, dem Flüchtlingslager Nuseirat und in Deir al-Balah wurden Palästinenser, darunter Frauen und Kinder, getötet und verwundet.

Der Al Jazeera-Reporter Hina Khoudary beschrieb, wie „acht Palästinenser bei einem israelischen Angriff auf das al-Amal-Hotel getötet wurden. Es war offensichtlich, dass dort Vertriebene untergebracht waren, die lebendig verbrannten, weil niemand da war, um sie zu retten“. Der Zivilschutz von Gaza ist in seiner Fähigkeit, bei diesen Vorfällen zu helfen, massiv eingeschränkt, da Israel immer wieder Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge sowie Geschäfte, die Ersatzteile liefern, angreift.

Die Lage für die fast vollständig vertriebene Bevölkerung ist so katastrophal, dass in Gaza bei einem zehn Monate alten Säugling der erste Polio-Fall seit 25 Jahren entdeckt wurde. Das Kind ist durch die Infektion teilweise gelähmt, und die Entdeckung hat Angst vor einer Epidemie geschürt. Hepatitis A breitet sich bereits rasant aus: Anfang August wurden 40.000 Fälle gemeldet. Die israelische Regierung hat Ärzte ohne Grenzen drei Monate lang daran gehindert, 4.000 Hygiene-Kits mit Seife, Zahnbürsten, Shampoo und Waschpulver einzuführen.

Zwar wurden mittlerweile Ampullen mit Polio-Impfstoff in den Gazastreifen geschickt, allerdings können sie aufgrund der chaotischen Lage durch Israels wiederholte Vertreibungen und Bombardierungen der Bevölkerung nicht verteilt werden. Das Thema wird zunehmend von den Mainstream-Medien aufgegriffen, in denen kapitalistische Politiker versuchen, sich als humanitär zu inszenieren, indem sie darauf beharren, dass Kinder die Gelegenheit zur Impfung bekommen sollten, bevor sie unter Trümmern begraben werden.

Netanjahu hat alle Verhandlungen über eine Pause im Völkermord zurückgewiesen und nur die „Ausweisung bestimmter Orte“ für Impfungen vorgeschlagen. Die einzige praktische Auswirkung dieser Idee wäre, dass das israelische Militär seine Bombardierungen als „Versehen“ deklarieren müsste.

Loading