Entlarvung des Zionismus und Widerstand: Ein Gespräch mit Ilan Pappé

Ilan Pappé ist ein weltweit anerkannter israelischer Historiker.

Er war früher Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Haifa und ist jetzt Professor für Nahoststudien an der Universität Exeter.

Ilan Pappé [Photo: Fjmustak]

Pappé hat mehr als 20 Bücher über die Geschichte Palästinas und des Staates Israel geschrieben, darunter das bahnbrechende Werk The Ethnic Cleansing of Palestine (2006) [Neue Auflage: Die ethnische Säuberung Palästinas: Mit einem Grußwort von Ilan Pappe (2019)], das deutlich macht, dass die Vertreibung von 700.000 Palästinensern und die Beschlagnahme ihres Landes während der Gründung Israels 1947-1948 eine gezielte zionistische Politik war.

In seinem neuesten Werk, Lobbying for Zionism on Both Sides of the Atlantic (2024), untersucht er, wie israelfreundliche Lobbys britische und amerikanische Politiker davon überzeugten, „Israels eklatante Verstöße gegen das Völkerrecht zu dulden, Israel beispiellose Militärhilfe zu gewähren und den Palästinensern Rechte zu verweigern“, und auf der anderen Seite jeden, der die bedingungslose Unterstützung Israels in Frage stellte, mit „unerbittlichen Verleumdungskampagnen“ überzogen.

Lobbyarbeit für den Zionismus auf beiden Seiten des Atlantiks

Pappé ist ein langjähriger politischer Aktivist und Verteidiger der Palästinenser. Unter anderem kandidierte er bei zwei Parlamentswahlen in Israel, 1996 und 1999, für die von der Kommunistischen Partei geführte Wahlfront Hadash. Wegen seiner politischen Ansichten und seiner historischen Forschung wurde er wiederholt von zionistischen und staatlichen Kräften angegriffen und im Mai 2024 auf dem Flughafen von Detroit zwei Stunden lang vom US-Ministerium für Heimatschutz (Homeland Security) verhört.

Pappé sprach mit Chris Marsden, dem nationalen Sekretär der Socialist Equality Party (UK).

Chris Marsden: Wenn Sie gestatten, würde ich gern mit Ihrer Festnahme am Detroit Metropolitan Airport beginnen. Könnten Sie schildern, was passiert ist?

Ilan Pappé: Ich wurde von Agenten beiseite genommen, von denen ich erst später erfuhr, dass sie von der Homeland Security waren. Zuerst dachte ich, sie seien vom FBI. Sie hielten mich etwa zweieinhalb Stunden lang fest und stellten hauptsächlich politische Fragen.

Sie beschlagnahmten auch mein Telefon und kopierten alles, was darauf war. Sie weigerten sich, mir zu erklären, warum ich diese Prozedur über mich ergehen lassen musste. Sie legten einfach alle möglichen Dokumente vor, die belegten, dass sie das Recht hatten, das zu tun, was sie taten. Auf einige der Fragen habe ich mich geweigert zu antworten.

Es waren wirklich sehr merkwürdige Fragen dabei, selbst für Leute vom Heimatschutz. Einige Fragen habe ich ausweichend beantwortet, konnte aber zumindest nachvollziehen, warum sie gestellt wurden. Zum Beispiel: „Wen kennen Sie in den Vereinigten Staaten?“, „Wer hat Sie eingeladen?“, „Welche Verbindung haben Sie zu den arabischen und muslimischen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten im Allgemeinen und in Michigan?“ Das gefiel mir nicht und ich hielt es für unverschämt, aber zumindest verstand ich, warum sie gestellt wurden.

Dann gab es solche Fragen wie „Wie definieren Sie die israelischen Aktionen in Gaza?“, „Sind Sie für den Slogan ‚Palestine should be free from the river to the sea‘?“ und ähnliche, deren Beantwortung ich verweigerte. Ich lud sie höflich zu meinen Vorträgen ein: „Ich beginne eine Vortragsreihe in den Vereinigten Staaten, und bin sicher, dass viele der Fragen, die Sie stellen, dort beantwortet werden!“

Jedenfalls war es eine zweieinhalbstündige Schikane. Sie waren nicht besonders unhöflich, aber ich fliege Ende dieses Monats wieder in die USA und habe keine Ahnung, ob sich das wiederholen wird – ob das gängige Praxis wird –, aber ich werde diesmal besser vorbereitet sein . Ich habe bereits einige Anwälte engagiert, nur um sicherzustellen, dass ich diesmal nicht so völlig wehrlos bin wie das erste Mal.

Ich bin Professor für Geschichte. Gut, ich bin auch Aktivist. Aber alles, was ich tue, ist völlig offen. Ich bin ein offenes Buch. Es ist ja nicht so, dass ich in irgendwelche geheimen Aktivitäten verwickelt wäre. Diese Leute hätten nur meinen YouTube Kanal aufrufen oder eines meiner 20 Bücher lesen müssen. Deshalb denke ich, dass es nur der Einschüchterung diente, nach dem Motto: „Überlegen Sie sich gut, ob Sie sich das noch einmal antun möchten.“

Chris Marsden: Sie reizen aus, wie weit sie es treiben können, oder? Nicht lange nach Ihrer Befragung am Flughafen führte das FBI eine Razzia bei Scott Ritter zu Hause durch.

Ilan Pappé: Ganz genau. Dem stimme ich zu, andererseits ist es auch ein gutes Zeichen, und zwar aus folgendem Grund: Ich denke, dass die pro-israelische Lobby, die meiner Meinung nach die Hauptverantwortung für diese Art von Vorgehen bzw. Verhalten trägt, die Zivilgesellschaft, die Universitäten und anderes, wie die alternativen Medien, nicht mehr vollständig im Griff hat. Und deshalb weiten sie ihre repressiven Maßnahmen aus. Es ist nicht nur ein Kampf der Mächtigen gegen die Ohnmächtigen. Es ist auch ein moralischer Kampf, in dem sie nicht viel aufbieten können.

Es ist auch ein Hinweis auf einen gewissen Erfolg bei der Veränderung der öffentlichen Meinung über Israel und Palästina, die so weit geht, dass das jetzt sogar zu einem Wahlkampfthema geworden ist. Wenn Sie mir vor 20 Jahren gesagt hätten, dass die Unterstützung für Palästina ein Wahlkampfthema irgendeiner amerikanischen politischen Partei sein könnte, hätte ich das nicht für möglich gehalten.

Chris Marsden: Mir fällt kein Thema ein, bei dem die Meinung in den herrschenden Kreisen so weit von den Ansichten der breiten Masse der Weltbevölkerung abgewichen ist, wie beim Völkermord in Gaza seit 2003 und beim Irakkrieg. Und das bedeutet, dass sie zunehmend auf Verleumdungskampagnen und Repressionen zurückgreifen müssen.

Ist Ihnen bekannt, was dem Journalisten Richard Medhurst in Heathrow geschehen ist? Es ist horrend. Er wurde fast 24 Stunden lang festgehalten und verhört. Ähnlich ist es Craig Murray ergangen.

Aber Sie sind Historiker und Ihre Arbeit ist von immenser Bedeutung. Sie sind auf Ihrem Gebiet sehr geachtet. Sie haben sich jahrzehntelang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, der Geschichte des Staates Israel und der Palästina-Frage beschäftigt. Die Geschichte ist jetzt ein Schlachtfeld, und es stellt sich die Frage, wann sie mit der Bücherverbrennung beginnen werden.

Ilan Pappé: Es gab einen lustigen Moment, als einer der Beamten des Heimatschutzes mir erklären wollte, was seiner Meinung nach die historischen Wurzeln des Konflikts sind. Ich sagte: „Stopp! Ich sage Ihnen nicht, wie Sie die Sicherheit der Vereinigten Staaten gewährleisten sollen. Belehren Sie mich nicht über Geschichte. Das wäre die ultimative Beleidigung.“

Aber Sie haben Recht. Ich stimme mit dieser Einschätzung überein. Die Kluft zwischen der Zivilgesellschaft, einschließlich des globalen Nordens und sogar der Vereinigten Staaten, die Kluft zwischen der Haltung, die jeder Mensch gegenüber dem Völkermord einnehmen sollte, einerseits und der Politik, die die Regierungen verfolgen, andererseits, diese Kluft ist groß und mit Logik nicht zu schließen. Die einzige Möglichkeit, sie zu verringern, ist Gewalt und Einschüchterung.

Ich war kürzlich in Frankreich zwischen den beiden Wahlgängen. Der Widerstand gegen den Völkermord im Gazastreifen ist ein Kitt, der dieses erstaunliche Bündnis der Linken zusammenhält und einige andere Probleme ausräumt, die die Linke in der Vergangenheit vielleicht zersplittert hätten. Es war natürlich nicht der einzige Grund, da mache ich mir nichts vor, aber er war sehr wichtig.

Palästinenser begutachten den Schaden nach einem israelischen Bombenangriff auf Chan Yunis im südlichen Gazastreifen, 13. Juli 2024 [AP Photo/Jehad Alshrafi]

Denn für die Linke in Frankreich, für alle ihre Fraktionen und Parteien, war die Haltung der französischen Regierung und Europas insgesamt gegenüber dem Völkermord in Palästina bezeichnend für die Haltung gegenüber Armut, Einwanderung, sozialer Gerechtigkeit und so weiter. Das war die Kraft der Linken, die wir hoffentlich wiedergewinnen werden: diese Zusammenhänge zu sehen, sie miteinander zu verknüpfen, zu verstehen, dass es sich nicht um isolierte Probleme handelt, sondern dass sie von einer bestimmten Weltsicht ausgehen, von einer bestimmten Definition dessen, was Politik ist und was politische Eliten nicht tun sollten.

Chris Marsden: Aber in Frankreich hat die Neue Volksfront (NFP), deren Anführer Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise („Unbeugsames Frankreich“) Stellungnahmen zugunsten der Palästinenser abgegeben hat, ein Wahlbündnis mit der Sozialistischen Partei geschlossen. Diese Partei ist ein Vehikel für Raphaël Glucksmann und Olivier Faure und ist pro-zionistisch positioniert. Das ist die eigentliche Position der NFP. Und das Manöver von Präsident Macron besteht jetzt darin, der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei zu raten: Lasst Mélenchon fallen, dann könnt ihr in der Regierung eine Rolle spielen.

Ilan Pappé: Ja, es ist ein Kampf um die Definition von Politik, denke ich. Und Palästina ist ein ganz grundlegender Bestandteil dieser Diskussion.

Chris Marsden: Sie wurden mit den Neuen Historikern [Gruppe kritischer israelischer Historiker] in eine Schublade gesteckt, und das war eine Falle. Man sollte Sie nicht weiterhin mit Benny Morris in einen Topf werfen! Ich würde gern mehr über Ihren Werdegang erfahren. Ich weiß bereits, dass Sie der Sohn deutscher Juden sind, die vor dem Hitlerfaschismus flohen. Aber wie hat sich Ihr Interesse, ein anhaltendes Interesse und ein wirklich ernsthaftes Interesse, an der palästinensischen Frage entwickelt?

Ilan Pappé: Das war ein langer Weg. Es geschah nicht an einem Tag. Es begann mit einer sehr frühen Liebe zur Geschichte, als Teenager. Wenn man mich fragte, was ich mir zum Geburtstag wünschte, waren es immer Geschichtsbücher. So lag es auf der Hand, dass Geschichte mein Hauptinteresse sein würde, als ich an eine akademische Laufbahn dachte. Und es lag nahe, sich für die eigene Geschichte zu interessieren.

An sich führt einen das über den eigenen Kulturkreis hinaus. Dennoch spielte die Tatsache, dass ich in einer Stadt wie Haifa geboren wurde und dort gelebt habe, sicherlich eine Rolle. Dort herrscht – ohne dass ich es romantisieren möchte – ein relativ offener Umgang mit den arabisch-jüdischen Beziehungen.

Als Voraussetzung für eine erfolgreiche akademische Karriere ist es auch in Israel ratsam, sein Studium an einer guten Universität außerhalb des Landes zu absolvieren. Ich habe mich bewusst für einen arabischen Betreuer entschieden, um die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Und in den Jahren der Recherche für meine Doktorarbeit stieß ich aufgrund des von mir gewählten Themas ganz unerwartet auf bisher unterdrückte Informationen. Denn mein Thema waren die Ereignisse von 1948.

[Pappé studierte Geschichte in Oxford und promovierte 1984 bei den Historikern Albert Hourani, libanesischer Abstammung, und Roger Owen zum Doktor der Philosophie. Beide waren auf die Geschichte des Nahen Ostens spezialisiert. Pappés Doktorarbeit wurde als sein erstes Buch veröffentlicht, Britain and the Arab-Israeli Conflict (Großbritannien und der arabisch-israelische Konflikt).]

Großbritannien und der arabisch-israelische Konflikt 1948-1951

Damals wurden in vielen Teilen der Welt sehr wichtige Dokumente freigegeben, darunter auch in Israel, dreißig Jahre nach seiner Gründung. Und was ich dort fand, stellte alles in Frage, was ich über das Jahr 1948 und darüber hinaus wusste oder zu wissen glaubte. Hinzu kam, dass ich diese Reise in die Vergangenheit mit einem arabischen Betreuer und dann mit vielen palästinensischen Freunden teilte, die ich in Israel selbst nicht getroffen hätte. Das war der Beginn des ernsthaftesten Teils der Reise.

Es ist kein Moment der Erleuchtung, in dem man aufwacht und plötzlich auf der anderen Seite des Rubikon steht. Das braucht Zeit. Aber es gibt einen Moment, in dem man das Gefühl hat, genug zu wissen, genug zu verstehen und genug gehört zu haben, um das Narrativ der eigenen Gesellschaft, des eigenen Staates grundlegend in Frage zu stellen. Man erkennt die Feigheit oder die Anpassungsbereitschaft seiner akademischen Kolleginnen und Kollegen, einer Gemeinschaft, der man einst angehörte. Und an einem bestimmten Punkt begreift man, dass man eine Wahl hat.

Man kann entweder das Dissertationsthema aufgeben oder man kann das Land verlassen oder versuchen, es herauszufordern, und erkennen, dass das nicht gut ankommen wird. Schließlich gibt es einen Moment, in dem man mit sich selbst im Reinen ist. Es fühlt sich richtig an. Man ist zufrieden mit dem, was man getan hat. Und man blickt nicht mehr zurück.

Chris Marsden: Als Sie zum ersten Mal Zugang zu den Archiven hatten, die zeigen, dass die ethnische Säuberung eine bewusste Politik der zionistischen Elite war, wie sind Sie da weiter vorgegangen?

Ilan Pappé: Sie müssen verstehen, welche Art von Beweisen ich gesehen habe. Die Dokumente sind nicht ausweichend. Sie sind nicht zweideutig, wirklich nicht. Man muss kein sehr gelehrter Mensch sein. Man braucht wohl etwas Hebräischkenntnisse. Ein Freund von mir sagt, dass die Israelis Hebräisch als eine Art Geheimsprache verwenden und deshalb auf Hebräisch Dinge schreiben, tun und sagen können, die niemand auf der Welt je verstehen wird. Auf Englisch sagen sie dann das Gegenteil!

Ein weiterer Grund, weshalb ich mich entschied, die Studie in Angriff zu nehmen, war, dass ich die Doktorarbeit bereits außerhalb Israels schrieb. Ich fing an, einige Informationen von Palästinensern einzuholen. Und ich war sehr überrascht, als sie sagten: „Ja, natürlich, das wissen wir, denn wir sind die Opfer davon.“ Sie sagten: „Wir wussten nicht, was Sie uns sagen, nämlich dass das alles geplant war, aber die Verwirklichung dieser Politik haben wir erlebt.“

Allmählich fügten sich die Puzzleteile zusammen. Ich war anfangs sehr naiv, als ich nach Israel zurückkehrte, nachdem ich 1984 meinen Doktortitel erhalten hatte. Ich dachte wirklich, nun müsste ich nur noch den Israelis, insbesondere den Jüngeren, erzählen, was passiert war. Und das Wissen, was wirklich passiert war, würde unsere ganze Einstellung zur aktuellen Situation ändern.

Was dann geschah, war ein Schock für mich. Gegen die Erzählung, die ich mitgebracht hatte, wurde nicht der Einwand erhoben, dass es sich um eine Lüge oder Erfindung handele, sondern sie wurde abgelehnt, weil sie dem Staat Israel nicht dienlich sei. Und ich sagte, warum sollte ich als Wissenschaftler dem Staat Israel dienen? Ich sollte die Wahrheit über das sagen, was ich weiß. Das ist es doch, was Wissenschaftler tun sollten, oder etwa nicht?

Ich habe meine Lektion gelernt. So funktioniert die Welt nicht. Ich verlor meine Naivität, erkannte die Realitäten und verstand, welchen Preis ich womöglich für einen solchen Weg zahlen müsste. Natürlich habe ich mich von Anfang an nie im Elfenbeinturm der akademischen Welt verkrochen. Ich habe schon sehr früh, nachdem ich 1984 aus England gekommen war, verstanden, dass dies nicht nur eine Debatte zwischen mir und israelischen Akademikern ist. Es ist eine Debatte zwischen mir und der israelisch-jüdischen Gesellschaft, und deshalb muss ich neben meiner akademischen Laufbahn auch Aktivist sein.

Ich habe alle möglichen Arten von Aktivismus ausprobiert. Ich trat der Kommunistischen Partei bei. Ich kandidierte für die Knesset. Dann dachte ich, dass die Politik von oben in Israel nichts für mich und auch nicht sehr effektiv ist. Also schloss ich mich der Zivilgesellschaft an, wo ich viel konsensorientierter war und keiner bestimmten politischen Partei angehörte. Und ich versuche immer noch, Aktivismus und wissenschaftliche Forschung zu verbinden. Ich glaube nicht, dass man beides voneinander trennen kann. Und wenn man es miteinander verbinden kann, dann ist das für den Kampf für Gerechtigkeit sehr wirkungsvoll.

Es entfremdet einen auch von der akademischen Welt, denn es ist schon schlimm genug, dass man das vorherrschende Narrativ in Frage stellt. Noch schlimmer ist es, wenn man sagt, dass Akademiker auch politisch sind. Das hören die Leute gar nicht gerne. Sie sehen sich selbst gern als objektive Wissenschaftler.

Man wird zur Zielscheibe von Anschuldigungen. In der Literary Review in Großbritannien gab es einen erstaunlichen Angriff, bei dem Auberon Waugh sagte, ich sei ein Nazi, ein Postmodernist und ein Kommunist!

Ich würde sagen, dass der Ausdruck „akademischer Mut“ ein Widerspruch in sich ist. Akademiker finden es sehr schwierig, ihre eigene Karriere aufs Spiel zu setzen.

Chris Marsden: Als Sie über 1948 recherchierten, waren Sie noch Zionist?

Ilan Pappé: Ja, auf jeden Fall. In meinem ersten Buch, mit dem ich 1984 promovierte, habe ich die israelische Politik nicht mit der Ideologie des Zionismus in Verbindung gebracht. Und erst als ich mein Buch über ethnische Säuberungen zu schreiben begann, im Jahr 2000 vor dem Hintergrund der Zweiten Intifada, begann ich diese Frage zu untersuchen.

Ich stand in engem theoretischen Austausch mit den Wissenschaftlern, die erstmals den Siedlerkolonialismus in Australien erforschten, dem mittlerweile verstorbenen Patrick Wolf und Lorenzo Veracini, und ich erkannte allmählich den Zusammenhang. Ich hatte auch eine sehr enge Beziehung zu Edward Said.

Ich begann, den Zusammenhang zwischen der zionistischen Ideologie, den Massakern und ethnischen Säuberungen nach 1948, dem israelischen Verhalten gegenüber den besetzten Palästinensern nach 1967 und weiteren Fragen zu verstehen. Das hat auch meinen Aktivismus beeinflusst. Aber zunächst musste ich mich persönlich als Wissenschaftler davon überzeugen, dass der Zionismus selbst das Problem ist, und nicht einfach die Politik.

Dieses Foto zeigt palästinensische Flüchtlinge auf ihrem Weg aus Galiläa im Oktober/November 1948. Es war das Titelbild des Buchs „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ von Benny Morris, Cambridge University Press 1989 [Photo: Fred Csasznik]
Israelische Panzer rücken während des Sechstagekriegs auf den Golanhöhen vor, Juni 1967 [Photo by Government Press Office (Israel) / CC BY-SA 4.0]

Chris Marsden: Haben Sie sich konkret mit der Entstehung der zionistischen Bewegung in Europa beschäftigt?

Ilan Pappé: Ja, und das war wirklich interessant. Denn nachdem ich The Ethnic Cleansing of Palestine geschrieben hatte, in dem ich die zionistische Ideologie mit der ethnischen Säuberung in Verbindung brachte, fragte Cambridge University Press an, ob sie bei mir ein Buch über die Geschichte Israels und Palästinas, wie sie es nannten, in Auftrag geben könnten.

Die ethnische Säuberung von Palästina

Ich antwortete, dass ich nicht die Geschichte Israels und Palästinas schreiben würde, denn die Reihe, in der dieses Buch erscheinen solle, sei der Geschichte von Ländern, nicht von Staaten gewidmet. Der Staat heiße zwar Israel, was ich nicht leugnete, aber das Land hieß nicht Israel. Das Land hieß Palästina. Ich erklärte, dass ich bereit sei, eine Geschichte des modernen Palästinas zu schreiben. Das entspreche zugleich den 65 Jahren der Existenz Israels.

Sie erlaubten mir zwar, das Buch zu schreiben, gaben aber einen weiteren Band mit dem Titel A History of Modern Israel (Eine Geschichte des modernen Israel) in Auftrag. Sie beschlossen also, dass sowohl eine zionistische als auch eine palästinensische Darstellung veröffentlicht werden sollte.

Eine Geschichte des modernen Palästina

Jetzt, nach der Veröffentlichung meines Buchs Lobbying for Zionism on Both Sides of the Atlantic („Lobbyarbeit für den Zionismus auf beiden Seiten des Atlantik“), verstehe ich die ganze Geschichte des Zionismus viel besser. Ich war überrascht, wie wenig ich von vielen Dingen wusste, die den Zionismus mit der politischen Ökonomie und der Weltpolitik verbinden. Es ist nicht einfach eine Geschichte von Menschen, die eine Idee haben und die Macht haben, sie umzusetzen. Die Sache ist viel komplizierter. Es geht darum, welche Probleme der Zionismus für verschiedene Gruppen, verschiedene Staaten, verschiedene Akteure lösen sollte. Es handelt sich um grundlegende Ideologien, die das Leben der Menschen verändern. Es ist nicht so einfach, sie zu entschlüsseln.

Chris Marsden: Alle politischen Ideologien und Tendenzen haben eine soziale Grundlage.

Ilan Pappé: Ganz genau. Wenn ich mich bei den Lesern entschuldige, weil mein letztes Buch mit 500 Seiten das längste ist, das ich je geschrieben habe, dann rechtfertige ich das damit, dass man als Historiker die Entwicklung dieser Ideologien nachzeichnen muss. Die Ideologie kann nicht von ihrer historischen Dynamik getrennt werden, von der Art und Weise, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert, was für jeden „Ismus“ gilt, nicht nur für den Zionismus.

Chris Marsden: Dann muss man herausfinden, welche sozialen Kräfte, welche Klasse, damit vertreten werden. Die Großmächte in Europa kultivierten die zionistische Bewegung, weil sie erkannten, dass sie ein Feind der Aufklärung, der Integration, aber vor allem der sozialistischen Bewegung war.

Ilan Pappé: Genau, ich wusste zum Beispiel, habe das aber nie als Historiker untersucht, wie stark die Labour Party in Großbritannien schon sehr früh den Zionismus unterstützt hat. Zum Teil, weil sie falsche Vorstellungen darüber hatte. Zum Teil, weil sie – im Gegensatz zur landläufigen Meinung über die Attlee-Regierung – im Kalten Krieg eine sehr aggressive Haltung einnahm. Man muss sich geduldig mit den Fakten auseinandersetzen, dann kann man sich ein besseres Bild machen. Man lernt nicht alles aus der Geschichte, aber sie verrät viel über die heutigen Realitäten, die daraus hervorgegangen sind.

Chris Marsden: Ich muss Ihnen etwas schicken. Wir haben eine Reihe von Vorträgen von David North veröffentlicht, dem Leiter der Redaktion der World Socialist Web Site. Das Buch heißt Die Logik des Zionismus: Vom nationalistischen Mythos zum Völkermord in Gaza. Darin wird der Zionismus in den Kontext des grundlegenden Kampfs in Europa zu jener Zeit gestellt, nämlich des Kampfs zwischen der aufstrebenden sozialistischen Bewegung und den Verteidigern der kapitalistischen Orthodoxie und des nationalstaatlichen Systems.

Einer der Punkte, die mich an Ihrem Buch Die ethnische Säuberung Palästinas am meisten beeindruckt haben, war, dass Sie die Rolle der Sowjetunion unter Stalin, einschließlich der Bewaffnung der Zionisten, nüchtern und korrekt dargestellt haben. Wann ist Ihnen dieser Sachverhalt klar geworden?

Ilan Pappé: Es war gar nicht einfach, sich darüber klar zu werden, denn ich fand es heraus, als ich noch Mitglied der Kommunistischen Partei war. Ein Gespräch mit einem ihrer damaligen Führer, dem mittlerweile verstorbenen Meir Vilner, hat mich darauf gebracht.

Meir Vilner im Jahr 1951 [Photo: This is available from National Photo Collection of Israel, Photography dept. Government Press Office (link), under the digital ID D713-046.]

Es begann damit, dass ich ihn fragte, warum er die israelische Unabhängigkeitserklärung unterschrieben habe. Und er sagte, nun, wir glaubten an das Recht der beiden nationalen Bewegungen auf einen eigenen Staat, aber natürlich, ohne die palästinensischen Bürger zu diskriminieren. Und da verstand ich, dass die Kommunistische Partei aufgrund ihrer damaligen Loyalität gegenüber dem Stalinismus und dem sowjetischen Modell bereit war, ihre Kontakte zu nutzen, um für den entstehenden jüdischen Staat Waffen zu beschaffen.

Das geschah also durch Gespräche. Es gab auch einige Unterlagen in den israelischen Archiven darüber. Viele Menschen, die in dieser Zeit lebten, schienen Bescheid zu wissen, aber es wurde nicht darüber gesprochen. Und ja, es war auch schwierig, denn wenn man mit Leuten aus dieser Zeit sprach, leugneten sie es. Die palästinensischen Mitglieder der Partei werden sehr wütend, wenn dieses Thema angesprochen wird.

Ich bin froh, dass sich viele palästinensische Historiker dieses Themas angenommen haben, denn es geht nicht so sehr um das moralische Dilemma der jüdischen Mitglieder der Kommunistischen Partei, sondern um das moralische Dilemma der palästinensischen Mitglieder der Kommunistischen Partei, die daran beteiligt waren.

Chris Marsden: Die Rolle der Kommunistischen Partei zu dieser Zeit war verabscheuungswürdig. Bestandteil davon war, dass sie die Partei in zwei Teile spaltete und so dafür sorgte, dass sich die Mitglieder gegenseitig umbrachten.

Ilan Pappé: Eines Tages wird jemand ein gutes Buch über die kommunistischen Parteien in der arabischen Welt schreiben. Die Menschen im Westen bilden sich ein, sie zu verstehen, als ob sie nur Parteien nach europäischem Vorbild wären. Das sind sie aber nicht. Es ist eine viel komplexere Geschichte.

Die Geschichte der Juden, die die kommunistischen Parteien im Irak und in Ägypten anführten, ist unglaublich. Das war in den 1930er Jahren, bevor der Zionismus versuchte, sie zu vernichten. Es ist eine viel authentischere lokale Version des Kommunismus. Ich sage immer, man gewinnt einen Eindruck davon, wie komplex es ist, wenn man weiß, dass unsere kommunistischen Mitglieder während des Ramadan fasteten, als ich Mitglied war.

Chris Marsden: In einem Artikel, den ich gelesen habe, sprachen Sie davon, dass die zionistische Linke „in der Schwebe“ sei, ein guter Begriff, aber ich würde eher sagen, im Zustand des intellektuellen, politischen und moralischen Zusammenbruchs.

Ilan Pappé: Ja, definitiv. Und das nicht erst seit gestern, es ist ein langer Prozess. Diese ganze Idee, dass man universelle Werte mit der kolonialen Ideologie der Siedler in Einklang bringen kann, funktioniert nicht, und wenn man sich noch so viel im Jonglieren mit Worten und in der Quadratur des Kreises übt. Und dass es nicht funktioniert, merkt man normalerweise in den Momenten, in denen man erwartet, dass eine gewisse Menschlichkeit oder universelle Werte über andere, nationale ideologische Werte triumphieren. Denn in solchen Momenten schieben sie die universellen Werte beiseite, so wie beim jetzigen Völkermord. Sie sind sehr wütend auf das, was sie als „globale Linke“ bezeichnen, weil diese nicht zulässt, dass sie die moralische Haltung gegenüber den Ereignissen des 7. Oktober und danach festlegen. Das sieht man an ihren wütenden Artikeln, die meist auf Hebräisch erscheinen, Tag für Tag, und in denen es heißt, dass die Linke in der Welt nicht begreift, dass sie den 7. Oktober ohne jeden Kontext hätte verurteilen sollen. Und sie sollte begreifen, dass Israel das Recht hat, das zu tun, was es in Gaza tut.

Natürlich sagen sie, Israel solle die Gewalt nicht anheizen und so weiter. Aber es ist, als ob sie auf einem anderen Planeten leben und nicht verstehen, dass diese „Linke“, von der sie sprechen, seit mehr als zwanzig oder dreißig Jahren versucht, ihnen zu sagen: „Du kannst kein Zionist sein, kein linker Zionist, genauso wenig wie du ein progressiver ethnischer Säuberer sein kannst.“ Man kann kein linker Völkermörder sein, und man kann kein sozialistischer Besatzer sein. Was zählt, ist, dass man ein Besatzer, ein ethnischer Säuberer oder ein Völkermörder ist – das ist es, was zählt. Und wenn Sie einer dieser Kategorien angehören, dann sind Sie nicht Teil der Linken.

Chris Marsden: Das hat sich bei den Protesten gegen Netanjahu gezeigt, die riesig waren, aber die Unterdrückung der Palästinenser nie in Frage gestellt haben. Sie ließen zu, dass führende Zionisten sie anführten, d. h. die angebliche Anti-Netanjahu-Opposition – dieselben Leute, die jetzt mit ihm an der Regierung sind und den Völkermord unterstützen.

Demonstration vom 14. Januar 2023 in Tel Aviv gegen die Pläne der israelischen Regierung, das Rechtssystem des Landes grundlegend zu ändern [AP Photo/Oded Balilty]

Ilan Pappé: Genau das meine ich. Das war noch vor dem 7. Oktober, aber sie waren nicht bereit, die tragische Situation zu sehen, die mit der Idee beginnt, der arabischen Welt einen europäisch besiedelten Staat aufzuzwingen, inmitten der arabischen Welt, inmitten der muslimischen Welt.

Bestimmt kann nicht alles korrigiert werden. Man kann die Uhr mit Sicherheit nicht zurückdrehen. Das ist auch gut so. Es gibt bereits eine dritte Generation von Siedlern, und alle, die meisten Palästinenser und die meisten Menschen in der arabischen Welt, akzeptieren das und sagen: Okay, ihr seid hier. Aber ihr könnt nicht hier sein als ein militärisches Super-Sparta, das die gesamte Region gegen sich aufbringt und gefährdet und vor allem die kolonisierten Völker weiterhin mit Gewalt unterdrückt. Nicht im 21. Jahrhundert. Das wird nicht funktionieren.

Es spielt keine Rolle, wie viele Atombomben ihr habt und wie stark eure Verbindung zum amerikanischen Imperialismus ist. Es wird nicht funktionieren, und den Vorgeschmack, dass es nicht funktionieren wird, habt ihr von der kleinsten Guerillatruppe der Geschichte bekommen, die euch fast zu Fall gebracht hat. Man hätte gehofft, dass dies so etwas wie ein Weckruf gewesen wäre. Aber darauf deutet nichts hin.

Chris Marsden: Netanjahus Kalkül beruht nicht auf der öffentlichen Meinung, sondern auf der Tatsache, dass Israel vom US-Imperialismus, dem britischen Imperialismus und dem französischen Imperialismus unterstützt wird. Und dass sie auch diesen absolut schmutzigen arabischen Regimen gegenüberstehen, die ihre eigenen Völker unterdrücken, und dass die „Normalisierung der Beziehungen“ weitergeht.

Ilan Pappé: Ja, auf jeden Fall. Das ist eine große Frage. Wie weit kann das noch gehen? 40.000 Palästinenser sind tot, und das reicht nicht aus, um die Mächtigen aufzuwecken. Aber es hat die öffentliche Meinung und die Aktionen der Zivilgesellschaften verändert. Die Protestcamps der Studenten sind ein neues Phänomen im Falle Palästinas. Und ich bin sicher, dass wir im nächsten Jahr eine noch stärkere Mobilisierung einer vereinten Solidaritätsbewegung erleben werden.

Wir sollten also nie die Hoffnung verlieren. Wie Sie richtig sagen, ist dies eine grundlegende Frage, nicht nur für die Palästinenser, sondern für uns als menschliche Gesellschaft. Wir können uns nicht so dazu verhalten, als sei der Ausgang vorherbestimmt, und uns damit abfinden. Das tun wir nicht. Wir tun alles, was wir können, um es zu ändern.

Chris Marsden: Ursprünglich waren Sie für eine Zwei-Staaten-Lösung. Soweit ich weiß, sind Sie jetzt für einen Einheitsstaat.

Ilan Pappé: Das ging Hand in Hand mit meiner Erkenntnis, dass die zionistische Ideologie ein Hindernis für jede echte Versöhnung ist. Und sobald man das erkannt hat, ist die Vorstellung, dass es ausreichen würde, wenn der zionistische Staat nur einen Teil Palästinas anstatt ganz Palästina einnähme, keine Lösung mehr. Man kann das Land nicht entkolonialisieren, wenn man nur einen Teil ent-zionisiert.

Es war nicht leicht, diesen Schritt zu tun, denn ich hatte sehr gute und einflussreiche Freunde, die ich sehr bewunderte, Noam Chomsky und Norman Finkelstein, die, wie Sie wissen, auch heute noch Verfechter der Zweistaatenlösung sind. Sie begründen das damit, dass sich diese Lösung aus dem Völkerrecht ergebe und die beste Chance auf Umsetzung habe. Ich bin heute geistig genug gefestigt, um ihnen zu widersprechen. Aber es war nicht einfach, denn es sind Kräfte, mit denen man rechnen muss.

Chris Marsden: Wann sind Sie zu dieser Sichtweise übergegangen?

Ilan Pappé: Ich glaube, nachdem ich mein Buch über ethnische Säuberung veröffentlicht hatte. Ich habe die Struktur gesehen und nicht nur das Ereignis. 2010 schrieb ich ein Buch mit Noam, On Palestine, in dem wir darüber streiten, wie das Problem gelöst werden kann. Man lernt viel, wenn man sich mit ihm streitet, weil er so viel weiß. Aber ich war froh, dass ich nach dem Dialog mit ihm noch stärker davon überzeugt war, dass ich Recht habe.

Über Palästina

Du lernst Menschen kennen, die für dich geradezu Idole waren, und dann stimmt du ihnen nicht in allem zu, was sie sagen. Das ist für alle eine sehr gute Sache. Ich sage das auch meinen Studenten: Diskutieren Sie, vertreten Sie den Gegenstandpunkt. Keiner von uns ist perfekt, und es ist gut, uns herauszufordern und vielleicht noch bessere Ideen zu finden, wie wir vorankommen können.

Chris Marsden: Ich weiß nicht, wie viel Sie über die World Socialist Web Site wissen, sie wird vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale herausgegeben. Wir sind eine trotzkistische Publikation. Und unsere Position war, die Gründung des Staates Israel abzulehnen.

In einer Erklärung, die bereits 1948 unter dem Titel „Gegen den Strom“ veröffentlicht wurde, betonte die Vierte Internationale, dass die Teilung nicht dazu gedacht war, die Juden von ihrem Elend zu erlösen, und dass sie das auch niemals leisten könne. Es hießt darin: „Der hebräische Staat kann sich leicht, wie Trotzki sagte, als blutige Falle für Hunderttausende von Juden erweisen.“

Es sei utopisch zu glauben, dass in einer isolierten, abgeschlossenen Wirtschaft inmitten einer kapitalistischen Welt eine harmonische Entwicklung möglich sei. Ohne die Ausweitung der Wirtschaft könnten Millionen jüdischer Einwanderer nicht in einen jüdischen Staat aufgenommen werden. Ein solcher Staat könne inmitten einer offen feindseligen arabischen Bevölkerung von Dutzenden Millionen nicht existieren, und der Antisemitismus könne nicht ausgemerzt werden, indem man seine sozialen, historischen und ideologischen Wurzeln ignoriert und den Juden einfach einen eigenen Staat gibt.

Leo Trotzki [Photo by Bundesarchiv, Bild 183-R15068 / CC BY-SA 3.0]

Der Zionismus sei reaktionär, weil er als Stütze für die imperialistische Herrschaft diene, unter anderem durch die Spaltung von Juden und Arabern und die Förderung von Nationalismus auf beiden Seiten. Die Vierte Internationale forderte die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens.

Ilan Pappé: Sehr prophetisch.

Chris Marsden: Ich bewundere es, dass Sie nicht akzeptieren, dass diese Situation unvermeidlich ist. Sie kämpfen dafür, sie zu verändern, Sie haben Ihr Leben der Veränderung gewidmet. Sie treten für einen Einheitsstaat ein. Aber wie kann das allein eine Antwort sein, wenn man bedenkt, dass es im gesamten Nahen Osten Regime gibt, die tatsächlich eine Art Einheitsstaat geschaffen haben, z. B. Ägypten und Saudi-Arabien? Diese arabischen Regierungen sind schmutzige despotische Regime, die ihrem eigenen Volk feindlich gegenüberstehen und mehr an der Aufrechterhaltung der Beziehungen zum US-Imperialismus und zu seinem zionistischen Kettenhund interessiert sind als am Leid des palästinensischen Volkes.

Wir treten für eine vereinte Mobilisierung der Arbeiterklasse in der Region ein, um diese Probleme zu lösen. Sie haben Vergleiche mit dem Anti-Apartheid-Kampf gezogen, aber wenn man sich die Regierung in Südafrika anschaut, ist sie ziemlich abstoßend und herrscht über enorme Ungleichheit.

Ilan Pappé: Darauf möchte ich nur ganz kurz antworten. Zunächst einmal denke ich, dass einer der Gründe, warum die arabischen Regime keinen demokratischen, säkularen Staat in Palästina wollen, genau in der Erkenntnis liegt, dass ein solcher Staat einen immensen Einfluss auf die Zukunft ihrer eigenen Regime haben könnte. Meiner Meinung nach muss man an irgendeiner Stelle anfangen. Auf eine koordinierte Revolution in der gesamten Region zu warten, ist schön und gut, aber ich glaube nicht, dass sie leicht zu erreichen ist, und ich halte es für gut, irgendwo anzufangen.

Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass der Nahe Osten sozioökonomische Probleme hat, und Sie haben absolut Recht, was das vereinte Handeln der Arbeiterklasse angeht. Aber ich denke, die Linke versteht manchmal die Bedeutung von Gruppenidentitäten für Menschen wie die Aseris, die Alawiten und andere nicht. Sie können sehr gute Kommunisten sein und sie können sehr stark an soziale Gleichheit und die Arbeiterklasse glauben. Aber ihre kollektiven Identitäten sind für sie immer noch wichtig und werden es bleiben. Um diese Revolution erfolgreich zu machen, müssen also auch all diese Zugehörigkeiten berücksichtigt werden.

Aber wie gesagt, mit einem Soundbite kann ich dieser Sache nicht gerecht werden. Das ist wirklich etwas, das eine tiefgreifendere Antwort erfordert, weil es sehr wichtig ist. Wir haben ja gesehen, was geschah, als die „Linke“ in den 1960er und 1970er Jahren vor autoritären Regimen in die Knie ging und eine politische Leere hinterließ. Wir haben gesehen, wer diese Lücke gefüllt hat: politische islamische Gruppen, die in einigen Fällen viel mehr die Arbeiterklasse repräsentierten, als es die bürgerliche Linke getan hatte.

Ja, wir müssen in uns gehen, wir brauchen eine Analyse, und das muss hier im Nahen Osten geschehen, nicht in London, um eine neue und verbesserte Rolle für die Linke zu finden, sowohl um Palästinas willen als auch, da haben Sie völlig Recht, um der Region insgesamt willen.

Unser wichtigster Ausgangspunkt ist meiner Meinung nach, dass man, wenn man über Menschenrechtsverletzungen, Verletzungen der Arbeiterrechte und Verletzungen der Bürgerrechte in der arabischen Welt sprechen will, Israel nicht aus dieser Diskussion ausklammern darf. Und das ist kein schlechter Ausgangspunkt für eine Diskussion, die die Probleme der arabischen Welt, die sozialen und die wirtschaftlichen Probleme, miteinander verbindet.

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