Am Donnerstag erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) offiziell Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Der Schritt ist ein Gradmesser für das Ausmaß an Verbrechen, das Israel im Rahmen des Vernichtungskriegs gegen die Bevölkerung des Gazastreifens verübt. Israel genießt dabei die Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Mächte. Mindestens 42.000, nach seriösen Schätzungen aber bis zu 183.000 Menschen sind während des vergangenen Jahres in Gaza getötet worden. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens wurde vertrieben. Die gesamte Bevölkerung leidet unter schwerem Nahrungsmittel- und Wassermangel. Und die meisten Häuser, Schulen, Krankenhäuser und Universitäten sind entweder beschädigt oder zerstört worden.
Der zentrale Vorwurf, den das Gericht gegen Netanjahu und Gallant erhebt, ist „das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung“, das ein Kriegsverbrechen darstellt. Netanjahu und Gallant werden zudem noch weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen - Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen.
Das Urteil bestätigt, was Millionen Menschen auf der ganzen Welt wahrnehmen. Wegen des erkennbaren Völkermords in Gaza kam und kommt es weltweit zu Massenprotesten. Diese wurden von den imperialistischen Regierungen geschmäht und fälschlich als antisemitisch denunziert.
Neben Netanjahu gehört der Imperialismus auf die Anklagebank. Das gesamte politische Establishment in den Vereinigten Staaten, von der Regierung Biden und der Demokratischen Partei bis hin zur Republikanischen Partei und der künftigen Trump-Regierung, hat den Völkermord unterstützt. Entsprechend empört sind sie über die Entscheidung des IStGH.
In einer Erklärung vom Donnerstag drohte US-Senator Tom Cotton damit, Krieg gegen Länder zu führen oder sogar Staatsoberhäupter zu ermorden, die mit dem IStGH kooperieren. US-Senator Lindsay Graham steht an der Spitze einer parteiübergreifenden Gruppe von Senatoren, die Sanktionen von Seiten der USA gegen den Internationalen Strafgerichtshof fordern. Das Weiße Haus zeigte sich offen für die Forderung nach Sanktionen gegen den IStGH.
US-Präsident Joe Biden reagierte auf die Haftbefehle mit einer offenen Befürwortung des israelischen Krieges gegen die Bevölkerung des Gazastreifens. Biden sagte: „Was auch immer das Gericht andeuten mag, es gibt keine Gleichwertigkeit – keine! - zwischen Israel und der Hamas. Wir werden immer an der Seite Israels stehen, wenn die israelische Sicherheit bedroht ist.“
In diesem Fall ist eine Gleichsetzung tatsächlich fehl am Platze. Die Palästinenser sind ein unterdrücktes Volk, das seit Jahrzehnten unter israelischer Besatzung leidet, praktisch in Freiluftgefängnissen leben muss und dem die elementarsten demokratischen Rechte verweigert werden. Und Israel andererseits ist ein massiv bewaffneter Staat, der vom Imperialismus finanziert wird und einen Völkermord an einer Bevölkerung verübt, deren Land Israel unrechtmäßig besetzt hält.
US-Vertreter sind sich sehr wohl bewusst, dass die vom IStGH erhobenen Anklagen implizit nicht nur Israel gelten. Es ist ein anerkannter Rechtsgrundsatz, dass diejenigen, die eine Straftat finanzieren, leiten und genehmigen, eine Mitschuld tragen.
Sofern sich US-Vertreter die Mühe machen, ihren Angriff auf das Verfahren des IStGH gegen Netanjahu zu begründen, so erklären sie, dass der IStGH „in dieser Angelegenheit nicht zuständig“ sei, um die Sprecherin des Weißen Hauses Karine Jean-Pierre zu zitieren.
Dies ist falsch. Der Internationale Gerichtshof hat in diesem Jahr endgültig entschieden, dass die israelische Besetzung Palästinas illegal ist. Und der Internationale Strafgerichtshof hat ebenfalls entschieden, dass er befugt ist, israelische Führer wegen in Palästina begangener Verbrechen anzuklagen.
Der Völkermord im Gazastreifen ist Teil eines weltweit ausbrechenden imperialistischen Krieges, der sich vor allem gegen Russland, China, Nordkorea und den Iran richtet. Er zielt auf die vollständige Unterwerfung der früheren kolonialen Welt unter die imperialistischen Mächte. Im Leitartikel in der neuesten Ausgabe von Foreign Affairs heißt es:
Das Zeitalter des begrenzten Krieges ist zu Ende, ein Zeitalter des umfassenden Konflikts hat begonnen. In der Tat ähnelt das, was die Welt heute erlebt, dem, was Theoretiker in der Vergangenheit als „totalen Krieg“ bezeichnet haben, bei dem die Kombattanten auf enorme Ressourcen zurückgreifen, ihre Gesellschaften mobilisieren, der Kriegsführung Vorrang vor allen anderen staatlichen Aktivitäten einräumen, eine Vielzahl von Zielen angreifen und ihre Volkswirtschaften und die anderer Länder umgestalten.
Wenn hier erklärt wird, dass diese neue Ära der globalen Kriegsführung es den Ländern erlaubt, „eine Vielzahl von Zielen anzugreifen“, so ist dies eine andere Art zu sagen, dass das Völkerrecht außer Kraft gesetzt wird und Zivilisten, Krankenhäuser, humanitäre Organisationen … allesamt Ziele sind. Das „israelische Modell“ soll in Zukunft der Maßstab für die Kriegsführung der imperialistischen Mächte sein.
Die üble Reaktion der USA auf die Anklage Netanjahus durch den IStGH erfolgt nur wenige Tage, nachdem Biden und der britische Premierminister Keir Starmer den Abschuss von Nato-Langstreckenraketen tief auf russisches Staatsgebiet genehmigt hatten. Dieser Schritt wurden gemacht, obwohl Russland droht, Angriffe auf russisches Territorium mit dem Einsatz von Atomwaffen zu vergelten.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Unterstützung des Völkermordes in Gaza durch die imperialistischen Mächte ist eine Warnung: Sie sind bereit, den Tod unzähliger Menschen in Kauf zu nehmen – und zwar sowohl in der Bevölkerung der gegnerischen Staaten als auch unter ihren eigenen Bürgern – um ihre geopolitischen Ziele zu erreichen. Der Schaden, den zehntausende israelische Bombardements über mehr als ein Jahr hinweg angerichtet haben – auf den Gazastreifen wurde das Äquivalent von zwei Hiroshima-Atombomben abgeworfen – kann durch eine moderne Atomwaffe mit nur einem Schlag angerichtet werden.
Die Bundesregierung gab zu verstehen, dass sie den Haftbefehl des IStGH nicht vollstrecken wird, denn es sei „Konsequenz der deutschen Geschichte, dass uns einzigartige Beziehungen und eine große Verantwortung mit Israel verbinden“. Der britische Telegraph übersetzte diese Aussage mit: „Deutschland wird Netanjahu wegen der eigenen Nazi-Geschichte nicht verhaften.“
Das ist richtig – aber nicht so, wie es der Telegraph meint. Israel führt, wenn auch in kleinerem Maßstab, die Art von „Vernichtungskrieg“, die Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion geführt hat. Diese Art des Krieges wird mehr und mehr zur Norm in den von den imperialistischen Mächten geführten globalen Kriegen.
In ihrer Neujahrserklärung 2024 sprach die WSWS-Redaktion folgende Warnung aus:
Alle „roten Linien“, die die Zivilisation von der Barbarei abgrenzen, werden beseitigt. Das Motto der kapitalistischen Regierungen lautet: „Nichts Kriminelles ist uns fremd“. Atomkrieg wird „normalisiert“; Völkermord wird „normalisiert“; Pandemien und das vorsätzliche Ausmerzen von Kranken und Alten werden „normalisiert“; die unvorstellbare Konzentration von Reichtum und sozialer Ungleichheit wird „normalisiert“; die Unterdrückung der Demokratie und das Zurückgreifen auf Autoritarismus und Faschismus werden „normalisiert“.
Die Verbrechen Nazideutschlands, die von den kapitalistischen Regierungen der Vergangenheit als Irrwege verurteilt wurden, werden mehr und mehr akzeptiert als Vorbild für die Durchführung der imperialistischen Außenpolitik.
Mit ihrer Antwort auf die Anklage des IStGH gegen Netanjahu haben die imperialistischen Mächte deutlich gemacht, dass sie beabsichtigen, den Völkermord im Gazastreifen weiterhin zu finanzieren und zu bewaffnen. Sie werden die Verbrecher davor schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Der Kampf zur Beendigung des Völkermordes ist deshalb zwangsläufig ein Kampf zur Abschaffung des Imperialismus, was den Aufbau einer Massenbewegung in der Arbeiterklasse erfordert.