41. Die Niederlage der deutschen Revolution hatte unmittelbare Rückwirkungen auf die Sowjetunion. Sie stärkte die reaktionären Kräfte, aus denen schließlich die stalinistische Diktatur erwuchs. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und die internationale Isolation des ersten Arbeiterstaats führten zur Herausbildung einer Bürokratie in Staat und Partei, die in wachsendem Maße ihre eigenen Interessen geltend machte. Die Sowjetregierung hatte mangels geschulter Kräfte viele ehemalige zaristische Beamte in die Verwaltung geholt und 1921 im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) Zugeständnisse an kapitalistische Elemente gemacht, um die Wirtschaft zu beleben und die verheerenden Folgen von Krieg und Bürgerkrieg zu überwinden. Diese konservativen Elemente übten wachsenden Einfluss auf die Kommunistische Partei aus, die durch den Bürgerkrieg erschöpft war. Sie begegneten dem Programm der sozialistischen Weltrevolution mit Misstrauen und waren bemüht, ihre eigene gesellschaftliche Stellung zu konsolidieren.
42. Die deutsche Niederlage gab diesen konservativen Strömungen Auftrieb. Sie zerschlug die Hoffnung, die Sowjetwirtschaft werde in kurzer Zeit Unterstützung durch ein fortgeschrittenes Industrieland bekommen. Die Sowjetunion blieb isoliert und das Versagen der KPD schien all jene zu bestätigen, die das Schicksal der Sowjetunion nicht mit den internationalen Erfolgen der kommunistischen Bewegung verknüpfen wollten, sondern auf die eigenen nationalen Kräfte setzten. „Hätte Ende des Jahres 1923 die deutsche Revolution gesiegt“, fasste Trotzki die Auswirkungen der deutschen Niederlage zusammen, „so wäre die Diktatur des Proletariats in Russland ohne innere Erschütterungen gereinigt und gefestigt worden. Aber die deutsche Revolution endete mit einer der schrecklichsten Kapitulationen der Geschichte der Arbeiterklasse. Die Niederlage der deutschen Revolution gab allen reaktionären Prozessen in der Sowjetrepublik mächtigen Auftrieb. So kam es in der Partei zum Kampf gegen die ‚permanente Revolution‘ und den ‚Trotzkismus’, zur Bildung der Theorie vom Sozialismus in einem Lande, usw.“ [21]
43. Nur wenige Wochen nach der deutschen Niederlage verkündeten Stalin und Bucharin die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“, die die materiellen Interessen der Bürokratie zum Ausdruck brachte und zum Dreh – und Angelpunkt ihres Angriffs auf den Marxismus wurde. Sie bedeutete die völlige Abkehr von der internationalen Perspektive, die die Oktoberrevolution angeleitet hatte, und wies die strategischen Schlussfolgerungen zurück, die Lenin, Trotzki und Luxemburg aus dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale gezogen hatten. Ihr Ursprung ging auf den rechten deutschen Sozialdemokraten Georg von Vollmar zurück, der schon 1878 einen „isolierten sozialistischen Staat“ propagiert hatte.
44. Trotzki fasste den Gegensatz zwischen der internationalen Perspektive des Marxismus und der nationalen Perspektive Stalins mit den Worten zusammen: „Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch die internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der imperialistische Krieg war eine der Äußerungen dieser Tatsache. Die sozialistische Gesellschaft muss in produktionstechnischer Hinsicht im Vergleich zu der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Stadium darstellen. Sich das Ziel zu stecken, eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, bedeutet, trotz aller vorübergehenden Erfolge, die Produktivkräfte, sogar im Vergleich zum Kapitalismus, zurückzerren zu wollen. Der Versuch, unabhängig von den geographischen, kulturellen und historischen Bedingungen der Entwicklung des Landes, das einen Teil der Weltgesamtheit darstellt, eine in sich selbst abgeschlossene Proportionalität aller Wirtschaftszweige in nationalem Rahmen zu verwirklichen, bedeutet, einer reaktionären Utopie nachzujagen.“ [22]
45. Die Perspektive des „Sozialismus in einem Land“ beeinflusste alle Aspekte der sowjetischen Innen – und Außenpolitik. In der Innenpolitik raubte sie der Führung den politischen Kompass. Die Stalinfraktion verfolgte einen empirischen Zickzackkurs, der die wirtschaftlichen Widersprüche und sozialen Gegensätze verschärfte und das Land mehrmals an den Rand des Bürgerkriegs trieb. Um ihre Stellung gegenüber der Arbeiterklasse zu stärken, förderte sie anfangs Großbauern und Spekulanten. Als diese erstarkten und ihre eigene Herrschaft bedrohten, vollzog sie einen panischen Linksschwenk, kollektivierte gewaltsam die Landwirtschaft und schlug ein Industrialisierungstempo ein, das die Kräfte der Arbeiter überforderte. Konsequent war sie nur in ihrem Vorgehen gegen die Linke Opposition, die sie nach jedem Schwenk heftiger verfolgte.
46. In der Außenpolitik opferte das stalinistische Regime die internationale revolutionäre Orientierung dem nationalen Interesse. Es verwandelte die Kommunistische Internationale in ein Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik und benutzte deren Sektionen für seine Manöver mit bürgerlichen Regierungen. In Ländern, von deren Regierung die Sowjetunion Unterstützung erhoffte, schlugen die Kommunistischen Parteien einen Kurs der Klassenzusammenarbeit ein, der sie schließlich in Instrumente der Konterrevolution verwandelte. Die ersten Folgen dieser Politik waren die Niederlage des britischen Generalstreiks im Mai 1926 und der chinesischen Revolution im April 1927. In Großbritannien hatte sich die Kommunistische Partei unkritisch hinter den Gewerkschaftsdachverband TUC gestellt, zu dem Stalin freundschaftliche Beziehungen anstrebte. Als der TUC dem Generalstreik in den Rücken fiel – was sich leicht voraussehen ließ —, war die Arbeiterklasse völlig unvorbereitet. In China unterstützte die Kommunistische Partei die bürgerliche Kuomintang, die sich 1927 gegen die Kommunisten wandte und die Partei in einem Massaker weitgehend auslöschte.
47. Der Kampf zwischen der Stalinfraktion und der Linken Opposition beherrschte ab 1923 das innere Leben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale. Trotzki und seine Anhänger kämpften für eine Korrektur ihres politischen Kurses. Sie schlugen Maßnahmen gegen die Bürokratisierung und zur Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie vor. Sie setzten sich für eine Wirtschaftspolitik ein, die die Arbeiterklasse und die armen Bauern gegen die Profiteure der NEP und die besser gestellten Bauern stärkte. Sie zogen die Lehren aus der deutschen Niederlage und liefen Sturm gegen die falsche Politik der Komintern in Großbritannien und China. Im Kern drehte sich der Konflikt um zwei unversöhnliche Perspektiven, die der permanenten Revolution und die des Sozialismus in einem Land. Die Linke Opposition beharrte darauf, dass das Schicksal des Arbeiterstaates und seine Weiterentwicklung zum Sozialismus untrennbar mit der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution verbunden seien. Die Stalinisten wollten auf der Grundlage der russischen Ressourcen eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufbauen.
48. Die Analysen, Voraussagen und Warnungen der Linken Opposition wurden in der Praxis regelmäßig bestätigt. In ihren Reihen fanden sich viele führende Parteimitglieder, die in der Oktoberrevolution eine herausragende Rolle gespielt hatten. 1926 bildete sie gemeinsam mit den Anhängern Sinowjews und Kamenews für einige Zeit die Vereinigte Opposition. Nun stand ein großer Teil von Lenins Parteiführung (einschließlich seiner Frau Krupskaja) in Opposition zur Stalinfraktion. Doch die internationalen Niederlagen, die sie teilweise selbst verschuldet hatte, stärkten die Bürokratie. „Sie siegte über all diese Feinde – die Opposition, die Partei und Lenin – nicht mit Ideen und Argumenten, sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution“, [23] fasste Trotzki den Grund für den Sieg der Bürokratie zusammen. Die stalinistische Bürokratie ging mit Verleumdung, Geschichtsfälschung, Parteiausschluss, Verbannung, Verfolgung und schließlich mit Hinrichtungskommandos gegen ihre Gegner vor. Trotzki selbst wurde 1926 aus dem Politbüro und 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1928 nach Kasachstan verbannt, 1929 aus dem Land verwiesen und 1940 ermordet.
49. Die Linke Opposition fand Unterstützung in den Kommunistischen Parteien Europas und Chinas. 1928 brachte James P. Cannon Trotzkis Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale in die USA und legte damit den Grundstein für die amerikanische trotzkistische Bewegung. [24] In einem langen politischen und ideologischen Klärungsprozess entstanden schließlich die Internationale Linke Opposition und später die Vierte Internationale. Trotzki widmete nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion einen großen Teil seiner Energie dieser Aufgabe.