Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Die Gründung des Internationalen Komitees

126. Die Entwicklungen der Nachkriegsjahre stellten die Vierte Internationale vor große politische und theoretische Herausforderungen, die neue revisionistische Tendenzen hervorbrachten. Bereits 1942 veröffentlichte eine Gruppe in die USA emigrierter deutscher Trotzkisten „Drei Thesen zur politischen Situation und den politischen Aufgaben“, die extrem pessimistische Schlussfolgerungen aus den Niederlagen der Arbeiterklasse zogen und die Perspektive des Sozialismus auf unabsehbare Zeit abschrieben. Die „Rückschrittler“ betrachteten den Nationalsozialismus nicht als Ergebnis des faulenden Kapitalismus, sondern als Geburtsmal eines neuen Gesellschaftssystems, eines „modernen Sklavenstaates“, der die geschichtliche Entwicklung der Menschheit um Generationen zurückgeworfen habe. Bevor die sozialistische Revolution wieder auf die Tagesordnung komme, stehe deshalb eine Epoche nationaler demokratischer Revolutionen bevor, in der die Arbeiterklasse auf eine unabhängige politische Rolle verzichten und sich bedingungslos den bürgerlich geführten nationalen Widerstandsbewegungen unterordnen müsse. Die Thesen der Rückschrittler, die viele Parallelen zu den ähnlich pessimistischen Auffassungen der Frankfurter Schule aufwiesen, liefen so auf eine neue Rechtfertigung der Klassenzusammenarbeit in Form der Volksfront hinaus. [68]

127. Während die „Rückschrittler“ und ähnliche Strömungen der Vierten Internationale rasch den Rücken kehrten, führte die Entstehung einer opportunistischen Tendenz unter Führung von Michel Pablo und Ernest Mandel 1953 zu ihrer Spaltung. Die orthodoxen Trotzkisten, die sich im Internationalen Komitee organisierten, betrachteten die Nachkriegsstabilisierung als vorübergehende Erscheinung, als Ergebnis des Verrats von Stalinismus und Sozialdemokratie und der daraus resultierenden proletarischen Niederlagen. Sie verteidigten das Programm der Vierten Internationale, suchten nach Mitteln und Wegen, die Arbeiterklasse vom Einfluss der bürokratischen Apparate zu brechen, und bereiteten sie so auf zukünftige Klassenkämpfe vor. Die pablistischen Opportunisten kapitulierten dagegen vor den erstarkten bürokratischen Apparaten. Sie schrieben ihnen eine fortschrittliche Rolle zu und liquidierten das Programm der Vierten Internationale.

128. Die Auseinandersetzung entwickelte sich über die Einschätzung der Staaten, die Ende der 1940er Jahre in Osteuropa entstanden waren. Die Vierte Internationale zögerte lange, die DDR und die anderen so genannten „Volksrepubliken“ als Arbeiterstaaten zu bezeichnen. Die Verstaatlichungen an sich reichten für eine solche Definition nicht aus. Ebenso maßgeblich war, wer die Verstaatlichungen zu wessen Gunsten und unter welchen Bedingungen durchgeführt hatte. Schließlich entschied sich die Vierte Internationale für die Bezeichnung „deformierte Arbeiterstaaten“. Mit dem Begriff „Arbeiterstaat“ anerkannte sie, dass das kapitalistische Privateigentum durch die Enteignung von Großgrund – und Kapitalbesitz beseitigt worden war und dass die so entstandenen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen waren. Doch das Schwergewicht lag auf dem Wort „deformiert“. Diese Staaten wiesen von Geburt an Missbildungen auf, die weit schwerer wogen als der mit den Verstaatlichungen verbundene Fortschritt. Ihnen fehlte die wichtigste Voraussetzung einer sozialistischen Gesellschaft – die aktive und demokratische Mitwirkung der Arbeiterklasse. Es gab weder Sowjets noch andere Organe der Arbeiterdemokratie. Die stalinistische Bürokratie, eine privilegierte Kaste, übte faktisch eine Diktatur aus und kontrollierte nicht nur den Staat und sämtliche Parteien, sondern auch die Gewerkschaften. Die Arbeiterklasse verfügte weder über eine politische noch über eine unabhängige gewerkschaftliche Vertretung.

129. Noch schwerer wog der Schaden, den die stalinistischen Verbrechen am sozialistischen Bewusstsein der internationalen Arbeiterklasse anrichteten. Die vom Stalinismus verschuldeten katastrophalen Niederlagen in Deutschland, Spanien und anderen Ländern, die Hinrichtung Zehntausender Kommunisten im Rahmen der Moskauer Prozesse und schließlich die Niederschlagung von Arbeiteraufständen in der DDR, Polen und Ungarn stießen Millionen Arbeiter vom vermeintlichen Kommunismus ab und zurück in die Arme der Sozialdemokratie. „Vom internationalen Standpunkt aus wiegen die Reformen der Sowjetbürokratie – die Angleichung der Pufferzone an die UdSSR – weit weniger schwer als die Schläge, die die Sowjetbürokratie gerade durch ihre Taten in der Pufferzone dem Bewusstsein des Weltproletariats versetzt hat, das sie mit ihrer Politik demoralisiert, verwirrt, fehlleitet und lähmt, so dass es teilweise für die imperialistischen Kampagnen zur Vorbereitung eines neuen Krieges empfänglich wird“, stellte die Vierte Internationale im April 1949 fest. „Selbst vom Standpunkt der UdSSR aus gefährden sie die Niederlagen und die Demoralisierung des Weltproletariats, die der Stalinismus verursacht hat, weit mehr, als sie die Festigung der Pufferstaaten stärkt.“ [69]

130. Doch diese Einschätzung wurde bald in Frage gestellt. Michel Pablo, der damalige Sekretär der Vierten Internationale, betrachtete die deformierten Arbeiterstaaten als Modell für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, der Jahrhunderte dauern werde. An die Stelle des Klassenkampfs zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie stellte er den Konflikt zwischen Imperialismus und Sowjetunion. „Die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht für unsere Bewegung im Wesentlichen aus der kapitalistischen Herrschaft und der stalinistischen Welt“, [70] schrieb er 1951 und behauptete, ein bevorstehender Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion werde die Form eines weltweiten Bürgerkriegs annehmen und die Sowjetbürokratie zwingen, die Geburtshelferin der sozialen Revolution zu spielen.

131. Diese Perspektive lief auf die Liquidation der Vierten Internationale und ihres Kaders hinaus. Wenn die stalinistische Bürokratie unter dem Druck objektiver Ereignisse zum Werkzeug der sozialistischen Revolution werden konnte, war der Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien überflüssig und sogar hinderlich, dann war es notwendig, „alle organisatorischen Erwägungen betreffs formaler Eigenständigkeit der wirklichen Integration in die Massenbewegung, wie sie sich in jedem Land ausdrückt, unterzuordnen“, wie Pablo folgerte. Er zwang ganze Sektionen, sich als unabhängige Organisationen aufzulösen und in stalinistische Parteien einzutreten; eine Taktik, die er als „Entrismus sui generis“ bezeichnete. [71]

132. Diese Perspektive übertrugen die Pablisten auch auf die reformistischen Parteien und Gewerkschaften und auf die bürgerlich-nationalistischen Bewegungen in den Kolonialländern. Unter der Führung Ernest Mandels spezialisierte sich das pablistische Vereinigte Sekretariat darauf, theoretische und politische Formeln zu entwickeln, die den bürokratischen Apparaten und anderen nicht-proletarischen Kräften eine revolutionäre Rolle zuschrieben. Es ersetzte den Marxismus durch eine objektivistische Methode, welche die Bedeutung der revolutionären Partei für die Entwicklung der Weltrevolution leugnete: „Der Standpunkt des Objektivismus besteht darin, zu betrachten anstatt praktisch revolutionär zu handeln, zu beobachten anstatt zu kämpfen, zu rechtfertigen, was geschieht, anstatt zu erklären, was getan werden muss. Diese Methode lieferte die theoretische Untermauerung für eine Perspektive, in der der Trotzkismus nicht mehr als die Lehre zur Anleitung der praktischen Tätigkeit der Partei gesehen wurde, die entschlossen ist, die Macht zu erobern und den Verlauf der Geschichte zu ändern, sondern als eine allgemeine Interpretation eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf der Sozialismus letztlich unter der Führung nicht-proletarischer Kräfte errichtet wird, die der Vierten Internationale feindlich gegenüberstehen. Insofern dem Trotzkismus überhaupt eine direkte Rolle im Gang der Ereignisse zugeschrieben wurde, dann bestand sie lediglich in einer Art unterbewusstem geistigen Prozess, der unbewusst die Aktivitäten der Stalinisten, Neostalinisten, Halbstalinisten und natürlich der kleinbürgerlichen Nationalisten dieser oder jener Prägung anleitete.“ [72]

133. Der pablistische Revisionismus stieß innerhalb der Vierten Internationale auf Widerstand. 1952 lehnte die Mehrheit der französischen Sektion Pablos Kurs ab und wurde deshalb mit bürokratischen Methoden ausgeschlossen. 1953 unterzog die amerikanische Socialist Workers Party den pablistischen Revisionismus einer vernichtenden Kritik. SWP-Führer James P. Cannon wandte sich in einem Offenen Brief an alle orthodoxen Trotzkisten der Welt. Er bekräftigte die Grundsätze, auf denen die Vierte Internationale seit ihrer Gründung beruhte, und fasste sie wie folgt zusammen:

„1. Der Todeskampf des kapitalistischen Systems droht, die Zivilisation durch immer schlimmere Depressionen, Weltkriege und barbarische Erscheinungen wie den Faschismus zu zerstören. Die Entwicklung von Atomwaffen unterstreicht heute diese Gefahr auf das Ernsteste und Nachdrücklichste.

2. Der Sturz in den Abgrund kann nur verhindert werden, indem der Kapitalismus weltweit durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzt und so die Spirale des Fortschritts, die der Kapitalismus in seiner Frühzeit in Gang gesetzt hat, wieder aufgenommen wird.

3. Dies kann nur unter der Führung der Arbeiterklasse geschehen, da sie die einzige wahrhaft revolutionäre Klasse in der Gesellschaft ist. Doch die Arbeiterklasse selbst ist mit einer Krise der Führung konfrontiert, obwohl die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf Weltebene noch nie so günstig wie heute dafür waren, dass die Arbeiter den Weg der Machteroberung beschreiten können.

4. Um sich für die Durchsetzung dieses welthistorischen Zieles zu organisieren, muss die Arbeiterklasse in jedem Land eine revolutionäre Partei nach dem Muster, wie es Lenin entwickelt hat, aufbauen; d.h. eine Kampfpartei, die in der Lage ist, Demokratie und Zentralismus dialektisch zu vereinen – Demokratie in der Entscheidungsfindung, Zentralismus bei der Durchführung dieser Beschlüsse; mit einer Führung, die von den einfachen Mitgliedern kontrolliert wird, Mitgliedern, die fähig sind, diszipliniert vorzugehen, auch wenn sie unter Feuer stehen.

5. Das Haupthindernis hierfür ist der Stalinismus, der dadurch, dass er das Ansehen der Oktoberevolution von 1917 in Russland ausnutzt, Arbeiter anzieht, nur um dann später ihr Vertrauen zu missbrauchen und sie entweder in die Arme der Sozialdemokratie, in Apathie oder zurück zu Illusionen über den Kapitalismus zu treiben. Der Preis für diese Verrätereien hat dann das arbeitende Volk zu zahlen, in Form einer Stärkung faschistischer oder monarchistischer Kräfte und durch neue Kriege, die der Kapitalismus hervorbringt und vorbereitet. Seit ihrer Gründung stellte sich die Vierte Internationale als eine ihrer Hauptaufgaben den Sturz des Stalinismus innerhalb und außerhalb der UdSSR.

6. Viele Sektionen der Vierten Internationale sowie Parteien und Gruppen, die mit ihrem Programm sympathisieren, stehen vor der Notwendigkeit einer flexiblen Taktik. Es ist daher umso dringender, dass sie wissen, wie man den Imperialismus und all seine kleinbürgerlichen Agenturen (wie z.B. nationalistische Organisationen und Gewerkschaftsbürokratien) bekämpft, ohne vor dem Stalinismus zu kapitulieren; dass sie umgekehrt wissen, wie man gegen den Stalinismus kämpft (der letzten Ende eine kleinbürgerliche Agentur des Imperialismus ist) ohne vor dem Imperialismus zu kapitulieren.“ [73]

134. Der Offene Brief verdeutlichte anhand des DDR-Aufstands vom 17. Juni die politischen Konsequenzen des pablistischen Revisionismus. Pablo hatte auf den Aufstand mit der Behauptung reagiert, die Führer der Kommunistischen Parteien würden sich nun gezwungen sehen, „noch weitgehendere und ehrlichere Zugeständnisse zu machen, um nicht Gefahr zu laufen, endgültig die Unterstützung der Massen zu verlieren und noch heftigere Explosionen zu provozieren“. Der Offene Brief kommentierte das mit den Worten: „Anstatt klar und deutlich die revolutionären politischen Hoffnungen der aufständischen ostdeutschen Arbeiter zum Ausdruck zu bringen, deckte Pablo die konterrevolutionären stalinistischen Statthalter, die sowjetische Truppen einsetzten, um den Aufstand niederzuschlagen ... Anstatt den Rückzug der sowjetischen Truppen – der einzigen Kraft, die die stalinistische Regierung an der Macht hielt – zu fordern, nährte Pablo die Illusion, die Gauleiter des Kreml würden ‚noch weitergehende und ehrlichere Zugeständnisse‘ machen. Hätte Moskau sich eine bessere Unterstützung wünschen können, als es sich daran machte, die enorme Bedeutung jener Ereignisse auf das Ungeheuerlichste zu verfälschen und die aufständischen Arbeiter als ‚Faschisten‘ und ‚Agenten des amerikanischen Imperialismus‘ zu verleumden und eine Welle brutaler Unterdrückung zu entfesseln.“ [74]

135. Der Offene Brief gelangte zum Schluss: „Der Graben zwischen Pablos Revisionismus und dem orthodoxen Trotzkismus ist so tief, dass weder ein politischer noch ein organisatorischer Kompromiss möglich ist.“ Es sei Zeit „dass die orthodox-trotzkistische Mehrheit der Vierten Internationale ihren Willen gegen Pablos Machtanmaßung durchsetzt.“ Cannons Offener Brief wurde unter anderem von der britischen Sektion und der ausgeschlossenen französischen Mehrheit unterstützt. Er bildete die Grundlage für die Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. [75]


[68]

Zu den Auffassungen der Frankfurter Schule siehe Punkt 175; zu den „Rückschrittlern“: David North, Das Erbe, das wir verteidigen, Essen 1988, S. 106-112

[69]

ebd., S. 162-163

[70]

ebd., S. 187

[71]

ebd., S. 195

[72]

ebd., S. 191

[73]

ebd., S. 231-232

[74]

ebd., S. 234-235

[75]

ebd., S. 240