179. Die kleinbürgerlichen Konzeptionen der Nachkriegszeit fanden ihren konzentrierten Ausdruck bei den Wortführern der 68er-Bewegung. Die Radikalisierung der Studenten hatte mehrere Motive: Rebellion gegen die konservativen Zustände in der Gesellschaft und an den Universitäten, Opposition gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze, Protest gegen den Vietnamkrieg und das Regime des persischen Schah und vor allem die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Naziregimes, die in der Adenauer-Ära unterdrückt worden war. Die Revolte der Studenten war eng mit der Offensive der Arbeiterklasse verbunden, doch ihre politischen und theoretischen Konzeptionen schnitten sie von der Arbeiterklasse ab. Die deutsche Studentenbewegung zählte nicht nur zu den weltweit größten, sondern auch zu den ideologisch produktivsten Bewegungen. Maßgeblichen Einfluss übten die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und mit ihr verwandte Strömungen der Neuen Linken aus. Die Schriften von Max Horkheimer, Theodor Adorno, Karl Korsch, Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Erich Fromm und Wilhelm Reich fanden weite Verbreitung.
180. Anstelle der kapitalistischen Ausbeutung stellten die Wortführer der Neuen Linken den Begriff der Entfremdung in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftsanalyse, den sie psychologisch oder existenzialistisch interpretierten. Die Arbeiterklasse galt ihnen nicht als revolutionäre Klasse, sondern als rückständige, durch Konsum, Medien und repressive Erziehung ins bürgerliche System integrierte Masse. Herbert Marcuse, Heidegger-Schüler und Mitglied der Frankfurter Schule, entdeckte in der Arbeiterklasse sogar „das Vorhandensein eines protofaschistischen Syndroms“. [99] Die „Revolution“ sollte nicht von der Arbeiterklasse, sondern von der jungen Intelligenz, von sozialen Randgruppen oder von Guerillabewegungen ausgehen; ihre treibende Kraft waren nicht die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft, sondern das kritische Denken und Handeln einer aufgeklärten Elite. Ziel der Revolution war nicht – oder nicht vorrangig – die Umwälzung der Macht – und Eigentumsverhältnisse, sondern die Veränderung der sozialen und kulturellen, darunter auch der sexuellen Gewohnheiten. Eine solche kulturelle Veränderung galt den Vertretern der Neuen Linken als Voraussetzung für eine gesellschaftliche Revolution. Studentenführer wie Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit unterstrichen die Bedeutung der provokativen Aktion. Sie sollte die Masse der Bevölkerung aus ihrer Trägheit reißen.
181. Die Frankfurter Schule verwandelte den Marxismus aus einer theoretischen und politischen Waffe des proletarischen Klassenkampfes in eine über den Klassen stehende Form der Kulturkritik, die den politischen Pessimismus, die gesellschaftliche Entfremdung und die persönliche Frustration von Teilen der Mittelklassen zum Ausdruck brachte. Max Horkheimer und sein engster Mitarbeiter, Theodor Adorno, griffen auf philosophische Traditionen zurück, die der Marxismus bekämpft hatte – die kritische Theorie Kants, die „kritische Kritik“ der Junghegelianer und unterschiedliche Formen des philosophischen Subjektivismus von Schopenhauer bis Heidegger. Traumatisiert durch die Erfahrung des Nationalsozialismus bestritten sie das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse. Im Gegensatz zu Marx, nach dessen Auffassung der Fortschritt der Produktivkräfte die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse sprengt und eine Epoche sozialer Revolution auslöst, stieß ihrer Meinung nach der Fortschritt der Produktivkräfte die Gesellschaft in die Barbarei zurück und verfestigte die kapitalistische Herrschaft: „Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft. ... Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression.“ Den einzigen Ausweg aus dieser gesellschaftlichen Sackgasse sahen sie im kritischen Denken: „Es ist der Knecht, dem der Herr nicht nach Belieben Einhalt tun kann.“ Zum revolutionären Subjekt erhoben sie demnach das aufgeklärte Individuum, und nicht das Proletariat. [100]
182. Im Sommer 1968 erreichte die Studentenrevolte in Deutschland ihren Höhepunkt. Danach brach der SDS in konkurrierende Fraktionen auseinander. Eine kleine Minderheit zog aus der Verherrlichung des Guerillakampfs die letzte Konsequenz und wandte sich dem individuellen Terror zu. Andere schlossen sich anarchistischen Organisationen und so genannten K-Gruppen an, die im Stalinismus maoistischer Prägung einen Ersatz für eine sozialistische Perspektive entdeckten. Die große Mehrheit machte sich auf den „Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke) und wandte sich der SPD zu. Ende der 1970er Jahre sammelten sie sich alle wieder bei den Grünen, die innerhalb von zwanzig Jahren zu einer Hauptstütze des deutschen Imperialismus werden sollten.
183. Das Programm der Grünen machte zahlreiche Anleihen bei der Frankfurter Schule, wie die Ablehnung des Klassenkampfs, die Konzentration auf Fragen des Lebensstils und die Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt. An die Stelle der antikapitalistischen Rhetorik des SDS traten Pazifismus, Umweltschutz und das Versprechen, der bürgerlichen Demokratie zu neuer Blüte zu verhelfen. Ausgeklügelte Formen der Basisdemokratie sollten verhindern, dass die Partei durch Macht korrumpiert wird. Tatsächlich befreiten sie die Führung von jeder Kontrolle durch die Mitgliedschaft, so dass die zynischsten und skrupellosesten Elemente schließlich in die höchsten Staatsämter gelangten. Im Grunde waren die Grünen rückwärts gewandt und konservativ. Am deutlichsten zeigte dies ihr Wirtschaftsprogramm, das für „eine Abkehr von der nationalen und internationalen Arbeitsteilung“ und „eine verbrauchernahe Produktion in lokalen und regionalen Wirtschaftsräumen“ eintrat. [101]
184. Ihrer sozialen Zusammensetzung nach waren die Grünen eine Partei des akademisch gebildeten Mittelstandes. Ihre führende Schicht bestand – und besteht bis heute – vorwiegend aus Ex-Mitgliedern der Studentenbewegung und diverser anarchistischer und maoistischer Gruppen. Ihre Basis fanden sie in dem mehr als tausend Bürgerinitiativen umfassenden Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Ihre besten Stimmergebnisse erzielten sie in den mittelständischen Wohngebieten der Groß – und Universitätsstädte. Mittlerweile weisen sie das höchste durchschnittliche Mitgliedereinkommen und den höchsten durchschnittlichen Bildungsgrad aller Parteien auf.
185. Die Übernahme von Regierungsämtern durch die Grünen zerstörte endgültig den Mythos, sie stellten eine Alternative zum bürgerlichen Politikbetrieb dar. Sie bewiesen nachhaltig, dass man die bestehende Gesellschaft nicht positiv verändern kann, ohne das kapitalistische Privateigentum anzutasten. In Hessen fiel die größte Umweltverschmutzung durch den Hoechstkonzern in die Amtszeit des grünen Umweltministers Joschka Fischer. Die Grünen unterstützten den Abbau von Stellen im öffentlichen Dienst und die Kürzung von Sozialleistungen (Berlin), den Bau neuer Gefängnisse (Hessen), die Errichtung von Sammellagern für Asylbewerber (Niedersachsen) und die Stilllegung von Betrieben (Brandenburg). In Hamburg regieren sie mittlerweile auch als Koalitionspartner der CDU. 1998 traten die Grünen auch in die Bundesregierung ein. Die ehemaligen Pazifisten übernahmen die Aufgabe, den in der Bevölkerung tief verwurzelten Widerstand gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr zu überwinden. Zu diesem Zweck wurde dem früheren Straßenkämpfer Joschka Fischer das prestigeträchtige Außenministerium anvertraut. Mittlerweile sind die Grünen begeisterte Befürworter des deutschen Militarismus. Gemeinsam mit der SPD haben sie auch den umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik durchgesetzt und einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen.