Nach mehrtägigen Verhandlungen einigte sich die rot-grüne Koalition am vergangenen Wochenende auf ein zweites Gesetzespaket zur Verschärfung der inneren Sicherheit. Im Vorfeld hatte der von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) vorgelegte Maßnahmenkatalog heftige Kritik ausgelöst. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte protestierten der Deutsche Richterbund und mehrere Anwaltsverbände in einer gemeinsamen Erklärung gegen die geplanten Gesetzesänderungen.
Um eine ernste Koalitionskrise zu vermeiden, gab Otto Schily während den Verhandlungen in einigen strittigen Punkten nach. Der grüne Koalitionspartner feierte dies sofort als großen Erfolg und machte damit deutlich, wie billig er zu haben ist und wie wenig die Partei, die sich gern als Bürgerbewegung bezeichnet, bereit und in der Lage ist, grundlegende Bürgerrechte zu verteidigen.
Denn erstens stellt das geplante zweite "Anti-Terror-Paket" auch in seiner jetzigen Form den weitgehendsten und umfassendsten Angriff auf demokratische Grundrechte seit der Gründung der Bundesrepublik dar. Und zweitens geht Innenminister Schily davon aus, dass die meisten seiner Zugeständnisse im Zuge der parlamentarischen Beratungen mit der Union wieder wegverhandelt werden können.
Der jetzt vorgelegte 110 Seiten starke Entwurf umfasst die Änderung von 14 Gesetzen und einer ganzen Reihe von Vorschriften und Verordnungen, die am 7. November im Bundeskabinett verabschiedet werden sollen. Insbesondere sollen die Befugnisse der Sicherheitsbehörden wie Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst und Polizei in einem seit Kriegsende und faschistischer Diktatur nicht da gewesenen Ausmaß erweitert und gestärkt werden.
Der ursprüngliche Ministerentwurf sah vor, dem Bundeskriminalamt (BKA) eine sogenannte "Initiativ-Ermittlungskompetenz" einzuräumen. Entgegen der bisherigen Rechtslage könnte das BKA dann ohne konkreten Anfangsverdacht gegen jedermann ermitteln. Dieses Vorhaben wird bereits seit 1993 diskutiert, stieß bisher aber auf heftigen Widerstand. Denn wenn gegen jeden, sei er verdächtig oder unverdächtig, ermittelt werden kann, wird die grundlegende Unterscheidung zwischen Beschuldigten und Unbeschuldigten aufgehoben. Jedermann wird dann zum Beschuldigten.
Mit diesen Plänen konnte sich der Innenminister in den Koalitionsverhandlungen zwar nicht durchsetzen, aber die Kompetenz des Bundeskriminalamts wurde deutlich ausgeweitet. Künftig soll das Amt das Recht erhalten, ohne den Umweg über die Länderpolizei Daten und Informationen zu sammeln. Außerdem soll das BKA auch für die Verfolgung von Anhängern ausländischer Terrororganisationen zuständig werden und bei schweren Formen von Datennetz-Kriminalität ermitteln können.
Auch die Speicherung von biometrischen Daten soll beim Bundeskriminalamt zentralisiert werden. Das "Automatisierte Fingerabdruckidentifizierungssystem" (AFIS) wurde schon 1992 installiert und speichert bereits die Fingerabdrücke von 2,9 Millionen Menschen. Außer den Daten von Straftätern und Menschen, die einer Straftat verdächtigt werden, sind dort alle Fingerabdrücke von Asylbewerbern erfasst, die so - auf völlig unfreiwillige Weise - als Versuchsobjekt für die Zentralspeicherung einer ganzen Bevölkerungsgruppe herhalten mussten.
Nach Schilys Plänen könnten in dieser Datei die Fingerabdrücke oder andere Persönlichkeitsmerkmale aller Bundesbürger gespeichert werden und damit erneut jeder Bürger als potenzieller Straftäter behandelt werden. Auch das wurde in den Koalitionsverhandlungen so nicht akzeptiert. Aber SPD und Grüne einigten sich darauf, bestehende Gesetzesformulierungen, die der Aufnahme biometrischer Informationen wie Fingerabdrücke, Handform oder Muster der Augeniris in Personalausweis und Pass entgegenstanden, abzuschaffen. Das ist bereits ein eindeutiger Schritt in Richtung einer zentralen Überwachungskartei. Nur die praktische Durchführung, welche biometrischen Merkmale tatsächlich in Ausweise aufgenommen werden, wurde noch nicht entschieden. Dies bleibt einer Debatte im Bundestag und einem neuen Passgesetz vorbehalten.
Auf die Frage, ob der Finger-, Hand- oder Augenabdruck als elektronischer Code im Pass notwendig auf eine zentrale Datendatei hinauslaufe, antwortete der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Geert Mackenroth: " Sonst würde die Sammlung der biometrischen Daten wohl keinen Sinn machen, oder? Einen Datenfriedhof hat der Innenminister bestimmt nicht im Sinn. Natürlich wäre es der nächste Schritt, die Daten zentral abrufbar zu machen, damit sie an jedem Flughafenterminal, auf jeder Polizeidienststelle zur Verfügung stehen. Das Zentralregister wird kommen, dazu braucht man nicht viel Phantasie."
Neben dem Bundeskriminalamt sieht der Gesetzentwurf des Bundesinnenministers vor, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), den Inlandsgeheimdienst, mit weitgehenden Vollmachten auszustatten. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen geben dem Geheimdienst weit größere Befugnisse gegen die Bevölkerung vorzugehen, als zu Zeiten der Gesinnungsschnüffelei während des Radikalenerlasses in den siebziger Jahren. Damals wurde jeder, der sich zu linken sozialistischen Ideen bekannte, mit Berufsverbot im Öffentlichen Dienst belegt.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll künftig einen nahezu uneingeschränkten Zugriff auf Dateien von Telekommunikationsverbindungen wie Telefon, Mobilfunktelefon, e-mail und Internet erhalten. Die Kontrolle des Briefverkehrs von als verdächtig eingestuften Personen wird wesentlich erleichtert und der Geheimdienst erhält den Zugriff auf Daten von Luftfahrtgesellschaften, um die Flugverbindungen zu überprüfen und zu speichern.
Ebenso soll der Verfassungsschutz Einblick auf Konten und Bankverbindungen erhalten. Dem Verfassungsschutz sollen so Auskünfte über sämtliche Kommunikationswege Verdächtiger zugänglich gemacht werden. Mit Hilfe der Mobilfunkdaten sollen "Bewegungsbilder Verdächtiger" erstellt werden. Bisher benötigten die Ermittler des Geheimdienstes oder der Polizei einen richterlichen Beschluss, um an Telefon- und Briefdaten zu gelangen. "Das Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses... wird insoweit eingeschränkt," heißt es dazu lapidar im Gesetzentwurf.
In den Koalitionsverhandlungen fügten die Grünen lediglich den Satz hinzu: "Diese neuen Befugnisse des Verfassungsschutzes unterliegen der parlamentarischen Kontrolle." Außerdem wurde vereinbart, diese Neuregelung auf fünf Jahre zu befristen.
Eine weitere Neuerung mit weitreichenden Folgen ist die vorgesehene Überprüfung von Beschäftigten in so genannten "sicherheitsempfindlichen" Bereichen durch den Verfassungsschutz. Ausdrücklich genannt sind in der Begründung für den Gesetzentwurf: Mitarbeiter von Telefonunternehmen, pharmazeutischen Firmen, Krankenhäusern, Banken, Bahn, Post, Rundfunk- und Fernsehanstalten. Hunderttausende Arbeiter und Angestellte laufen Gefahr in die Mühlen einer Überwachungsmaschinerie zu geraten.
Dieser Vorschlag ruft die leidvollen Erfahrungen von Menschen in Erinnerung, die in den siebziger Jahren Opfer der damaligen Terroristenfahndung geworden sind. Hunderttausende landeten damals in den Dateien des Verfassungsschutzes. Tausenden wurde der Zugang zu Stellen im öffentlichen Dienst verwehrt, weil sie als Unterstützer oder Sympathisanten von sogenannten verfassungsfeindlichen Organisationen aufgefallen waren oder für solche gehalten wurden.
Erheblich verschärft werden auch die "Ausweisungs-Vorschriften" für Ausländer. So können Flüchtlinge, die eigentlich unter dem Abschiebeschutz der Genfer Flüchtlingskonvention stehen, des Landes verwiesen werden, wenn sie die Sicherheit gefährden, sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen oder einer Vereinigung angehören, die den internationalen Terrorismus unterstützt. Auch die Religionszugehörigkeit von Ausländern soll gespeichert werden. Ein Vorschlag, der erschreckend an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte erinnert, als Menschen jüdischen Glaubens gezwungen wurden, den Judenstern zu tragen.
Betrachtet man die Gesetzesänderungen, die unter der Bezeichnung "Anti-Terror-Maßnahmen" vereinbart wurden, im Zusammenhang, wird deutlich, dass damit ein Wendepunkt in der bundesrepublikanischen Rechtsauffassung eingeleitet wird. Bisher gültige Rechtsprinzipien wie die Unschuldsvermutung werden auf den Kopf gestellt. Alle, auch unschuldige Bürger werden unter Generalverdacht gestellt.
Die bisherige Trennung von Geheimdiensten und Polizei wird weiter gelockert, während gleichzeitig durch die enge Verzahnung der verschiedenen Datenbestände einzelner Behörden und Überwachungsdienste eine zentrale Bundespolizei aufgebaut wird. Bisher war dies mit Blick auf die Erfahrungen mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) während der Nazidiktatur zumindest formal verboten.
Selbst ein konservativer Politiker wie der Vorsitzende der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ), Professor Martin Kutscha, protestiert gegen die schrittweise Schaffung einer Bundespolizeibehörde und macht in einer Stellungnahme vom 18. Oktober darauf aufmerksam, dass die Militärgouverneure der drei Westmächte 1949 ausdrücklich betont hatten, dass ein künftiger deutscher Geheimdienst "keine Polizeibefugnisse" ausüben dürfe. Weiter heißt es in dieser Stellungnahme: "Hintergrund dieser Vorgaben der Westalliierten sowie auch der Debatten des Parlamentarischen Rates zu dieser Frage waren die Erinnerungen an den hochzentralisierten Macht- und Terrorapparat des Nazistaates: 1939 waren Gestapo, Sicherheitspolizei und SD (Sicherheitsdienst) im Reichssicherungshauptamt' zusammengefasst worden."
Auch der Justizminister von Rheinland-Pfalz und derzeitige Vorsitzende der Justizministerkonferenz Herbert Mertin (FDP) kritisierte in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau(26. Oktober 2001) die Gesetzesvorschläge. Er nannte es fragwürdig, Grundsätze des Rechtsstaates auszuhebeln und Bürgerrechte einzuschränken. Die Politik sei im Moment dabei zu überdrehen. Es gehe ihm zu weit, wenn sein Thüringer Amtskollege von der CDU, Andreas Birkmann, beim Eingriff in das Fernmeldegeheimnis richterliche Kontrolle für unnötigen Formalismus halte. Beim Wettlauf um die innere Sicherheit, sagte Mertin, überbiete Schily die CDU und die CDU wolle dann wiederum Schily überbieten.
Gegen diese Kritiker betont Innenminister Schily immer wieder, er orientiere sich am "Grundrecht auf Sicherheit" und dieses Recht auf Sicherheit stehe zwar nicht direkt, "aber sehr wohl indirekt im Grundgesetz". Es ist bezeichnend, dass Schily immer dann, wenn er von einem Recht auf Sicherheit spricht, grundsätzlich Staatssicherheit meint. Früher war Sicherheit eng mit dem Begriff der sozialen Sicherheit in Verbindung gebracht worden. Seit den Gesellschaftstheorien der Aufklärung ist der Zusammenhang zwischen sozialer Not und steigender Kriminalität bzw. umgekehrt, zwischen allgemeinem sozialem Wohlstand und friedlichen Gesellschaftsbeziehungen oft untersucht und erklärt worden.
Schilys Maßnahmenpaket zur Staatsaufrüstung widerspiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung, die dadurch geprägt ist, dass eine privilegierte Elite sich auf Kosten der Allgemeinheit hemmungslos bereichert. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist auch in den drei Jahren rot-grüner Bundesregierung deutlich größer geworden und die ersten Auswirkungen einer weltweiten Rezession haben die Hoffnungen auf wirtschaftliche Stabilität und sinkende Arbeitslosigkeit zunichte gemacht. Die Regierung ist entschlossen, die Last der Wirtschaftkrise auf die Bevölkerung abzuwälzen, während gleichzeitig der Widerstand gegen Sparmaßnahmen und drastische Kürzungen in allen Sozialbereichen immer größer wird.
Hier liegt der Grund, warum Schily die ganze Bevölkerung unter Generalverdacht stellt und die staatlichen Sicherheitsstrukturen zentralisiert. Hinter den wortreichen Beteuerungen über die Verteidigung des Rechtsstaats gegen jeden Versuch einen Polizeistaat zu errichten, werden immer deutlicher autoritäre Formen der politischen Herrschaft sichtbar.