Eine Würdigung Wadim Rogowins

Auf einer Versammlung in Moskau gedachten am 15. Mai mehr als 75 Personen des 65. Geburtstags des russischen marxistischen Historikers und Soziologen Wadim Z. Rogowin. Unter ihnen waren überlebende Kinder russischer Mitglieder der Linken Opposition, die vom stalinistischen Regime ermordet worden waren, Wissenschaftler, die mit Rogowin am Moskauer Institut für Soziologie gearbeitet hatten, Vertreter mehrerer sozialistischer Tendenzen in Russland und viele Freunde. Die Versammlung wurde von Wadims Frau Galina Rogowina organisiert.

David North, der Chefredakteur der World Socialist Web Site , war von Galina Rogowina eingeladen worden, den Hauptbeitrag zur Bedeutung von Wadims Leben und Arbeit zu halten. Seine Bemerkungen geben wir hier wieder.

Heute haben wir uns getroffen, um den 65. Geburtstag Wadim Rogowins zu begehen und den siebten und letzten Bandes seines großartigen historischen Zyklus "Gab es eine Alternative zum Stalinismus?" der Öffentlichkeit zu übergeben. Es handelt sich um eine Geschichte des politischen Kampfs gegen den Verrat an der Oktoberrevolution von der Gründung der Linken Opposition 1923 bis zur Ermordung Leo Trotzkis 1940.

In diesem Zusammentreffen der Ereignisse liegt eine tiefe und bewegende Symbolik. Indem wir seines 65. Geburtstags gedenken, würdigen wir Wadims Leben. Indem wir die Veröffentlichung des siebten Bandes seiner Geschichte begrüßen, ehren wir Wadims Werk.

Jedes Menschenleben ist sowohl endlich, als auch unendlich. Es ist endlich in seiner Individualität und physischen Sterblichkeit. Aber es ist unsterblich als ein Element des kollektiven gesellschaftlichen Seins der Menschheit und sofern es, auf dieser Grundlage, der universellen menschlichen Erfahrung bewussten Ausdruck gibt und dadurch über die Grenzen der endlichen Existenz hinausweist.

Es gibt Menschen, die, um mit den Worten Trotzkis zu sprechen, "einen kleinen Teil des Schicksals der Menschheit auf ihren Schultern tragen". In solchen Menschen findet dieses wertvolle Element unendlicher Transzendenz außergewöhnlich intensiven Ausdruck. Ihr Beitrag zur Zukunft der Menschheit lebt nach ihrem Tod weiter. Das Erbe ihres Lebens geht in das Bewusstsein nachfolgender Generationen ein und wird zum wertvollen und kollektiven Erbe der gesamten Menschheit. Ein solches Leben war das Leben Wadim Sacharowitsch Rogowins.

Worin lag die Größe von Wadim Rogowins Leben? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn man es in den Kontext der Zeit stellt, in der er lebte - besonders in den Kontext des letzten Jahrzehnts seines Lebens, der Periode von Wadims größter intellektueller Kreativität. Viel hat sich in den letzten 15 Jahren in der Sowjetunion verändert. Es ist heute nicht meine Absicht, über den Charakter der Veränderungen in der gesellschaftlichen und ökonomischen Struktur der post-sowjetischen Gesellschaft zu streiten. Ich bin sicher, dass es unter den Anwesenden recht unterschiedliche Meinungen über den Charakter und die Konsequenzen dieser Veränderungen gibt. Es war Wadims Meinung, die mit der der internationalen trotzkistischen Bewegung übereinstimmt, dass die jahrzehntelange Krise des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion in den späten achtziger und den neunziger Jahren in einer politisch reaktionären und gesellschaftlich rückwärtsgewandten Weise gelöst wurde.

Aber auf ein besonders bemerkenswertes Element der intellektuellen Umgebung der letzten 15 Jahre möchte ich doch hinweisen. Ungeachtet der Ereignisse seit Mitte der achtziger Jahre hat sich aus den Umwälzungen der sowjetischen und post-sowjetischen Gesellschaft nicht eine politische Figur entwickelt, die international Respekt, geschweige denn Bewunderung errungen hätte. Insoweit die Menschheit nach neuen und vielversprechenden Ideen sucht, kommt es niemandem in den Sinn, sie im post-sowjetischen Russland zu suchen. Buchstäblich alle, die berühmt oder berüchtigt wurden, stellten sich als Mittelmäßigkeiten oder glatte Schurken heraus. Wer könnte heute über die "Größe" eines Gorbatschow, Jelzin, Lebed, Sobtschak (an einige dieser Namen wird man sich wahrscheinlich kaum noch erinnern) und, entschuldigt bitte, des heutigen Bewohners des Kreml sprechen, ohne dass das Publikum in Gelächter ausbricht? Diese Leute waren, oder sind, unbewusste Instrumente eines historischen und gesellschaftlichen Prozesses, den sie weder voraussahen, noch verstanden.

Ich sollte hinzufügen, dass Blindheit und Mittelmäßigkeit nicht nur das politische Leben prägen. Vielleicht bin ich schlecht unterrichtet, aber ich glaube, man kann ohne ernsthaften Widerspruch sagen, dass das kulturelle Leben Russlands genauso verarmt ist wie seine Wirtschaft. Ist in den letzten zehn Jahren ein einziger großer Roman, ein wichtiges Gedicht, eine bedeutsame Komposition oder auch nur eine Filmproduktion entstanden, die wirklich internationale Aufmerksamkeit verdienen würde? Vor diesem Hintergrund einer intellektuellen und kulturellen Wüste hebt sich das Werk Wadim Rogowins um so mehr als eine monumentale Errungenschaft ab.

Die sieben Bände von Wadims Geschichte werden als ein wesentlicher Beitrag nicht nur zur russischen, sondern auch zur Weltliteratur überdauern. "Große Geschichte wird dann geschrieben," schrieb E.H. Carr, "wenn die Vision des Historikers von der Vergangenheit von Einsichten in die Probleme der Gegenwart erhellt ist." Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung von Wadims Arbeiten. Es war Wadims Beschäftigung mit den Problemen seiner eigenen Zeit, seine Sorge um die Zukunft der Menschheit, die ihn trieben, die Vergangenheit zu studieren, zu analysieren und zu erklären. Wadims intensive Beschäftigung mit dem Problem der historischen Wahrheit entprang nicht einfach moralischen Überzeugungen. Vielmehr war sie das Ergebnis einer tiefen Einsicht in das große Problem der Epoche, in der er lebte - er sah den allgegenwärtigen Verlust einer gesellschaftlichen Perspektive, den Niedergang des Klassenbewusstseins, die alles durchdringende politische Verwirrung und Benommenheit des öffentlichen Bewusstseins als den Preis für Jahrzehnte stalinistischer Lügen und Fälschungen. Die Zerstörung von historischem Bewusstsein hat ein verwirrtes und desorientiertes Volk hinterlassen, das nicht in der Lage ist, den Charakter der gesellschaftlichen und politischen Probleme zu verstehen, mit denen es konfrontiert ist, und eine progressive Lösung der Probleme seiner Gesellschaft zu finden.

Welche Aufgabe hatte sich Wadim im letzten Jahrzehnt seines Lebens gestellt? Die groben Fälschungen der Rolle Trotzkis in der sowjetischen Geschichte gerade zu rücken; der Lüge entgegenzutreten, der Stalinismus sei das notwendige und organische Produkt des Marxismus und der Oktoberrevolution; die Behauptung zu widerlegen, dass es in der UdSSR keine Alternative zum Stalinismus gegeben habe. In Diskussionen und in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale entwickelte Wadim seine Interpretation der stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre als einer Form politischen Völkermords gegen die Repräsentanten marxistischer Politik und Kultur in der sowjetischen Arbeiterklasse und Intelligenz. Wadim interpretierte den Terror der dreißiger Jahre als eine Art Bürgerkrieg Stalins und seiner Handlanger (Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow, Beria, Jeschow, Mikojan u.a.) gegen eine unterdrückte, aber immer noch mächtige sozialistische Opposition, deren herausragende Stimme die von Leo Dawidowitsch Trotzki war.

Dieser historischen Analyse lag eine tiefe philosophische Einsicht zugrunde. Wadim betonte, dass die Motivation, die den mörderischen Charakter des stalinistischen Regimes bestimmte, das Streben nach gesellschaftlichen Privilegien war - die Aneignung materieller Vorteile durch Wenige auf Kosten der Vielen. Die Gesellschaftspolitik der Bürokratie, die in den Verbrechen Stalins ihren Ausdruck fand, war die Förderung und Verteidigung von sozialer Ungleichheit. Der grundlegende Unterschied zwischen Bolschewismus und Stalinismus war genau dieser: das historische Ziel des ersteren war die Erreichung sozialer Gleichheit; das Ziel des letzteren war der Schutz individueller Privilegien. Wadim schrieb: "Stalins Gier nach materiellen Dingen, sein Jammern nach grenzenlosem Luxus im täglichen Leben wurden an seine Nachfolger bis hin zu Gorbatschow weitergegeben, die, anders als die Alte Garde der Bolschewisten, nicht bereit waren, die Probleme und die Entbehrungen des täglichen Lebens mit dem Volk zu teilen."

Im Zentrum von Wadims Geschichtsphilosophie stand die unerschütterliche Überzeugung von der ontologischen Gültigkeit objektiver Wahrheit. Die Anerkennung der Wahrheit als Übereinstimmung des subjektiven Denkens mit den objektiven Eigenschaften und Prozessen des gesellschaftlichen Seins ist die wesentliche Grundlage wissenschaftlichen Geschichtsbewusstseins. Dieses Axiom muss nicht nur Grundlage des Studiums der Geschichte der UdSSR sein. Es geht hier um ein wahrhaft internationales Problem: um das Verständnis der historischen Erfahrungen und Lehren des gesamten 20. Jahrhunderts. Nicht nur in Russland verdient diese Frage Aufmerksamkeit.

Mit meinen Bemerkungen über den beklagenswerten Zustand der post-sowjetischen Gesellschaft wollte ich nicht den Eindruck erwecken, dass in Amerika und Europa eine intellektuelle Blüte zu verzeichnen wäre. Jenseits der Grenzen Russlands ist die Lage nicht weniger schlimm. In unterschiedlichen Formen und in unterschiedlichem Ausmaß entdeckt man auf der ganzen Welt die gleiche Desorientierung, Verwirrung und Ignoranz. Wie in Russland ist die Quelle dieser Desorientierung die Unfähigkeit, die historischen Ereignisse und Lehren zu verstehen, aus denen heraus sich die Gegenwart entwickelt hat. Und wie können die Lehren der Vergangenheit aufgenommen und verarbeitet werden, wenn schon die geschichtlichen Fakten - besonders die, die die Oktoberrevolution und die Zeit danach umgeben - verborgen und verfälscht sind? Aus diesem Grund ist das Werk von Wadim Rogowin von weltweiter Bedeutung und hat ein internationales Publikum angesprochen.

Es gibt geschichtliche Perioden, in denen revolutionäre gesellschaftliche Umwälzungen alte Barrieren niederreißen und den Weg für große Fortschritte auf jedem Gebiet der menschlichen Kultur freimachen. In der Vorbereitungsperiode solcher Umwälzungen treten die Genies auf, die als die Sprecher der neuen Zeit fungieren. Sie verstärken alle progressiven Impulse ihrer Zeit und geben ihnen die tiefste, universellste und zeitloseste Form.

Aber es gibt andere, schwierigere und schmerzlichere Perioden der Geschichte, in denen kreative Genies in Isolation und Opposition zu arbeiten gezwungen sind. Die herausragenden Figuren einer solchen Epoche sind nicht Männer und Frauen ihrer Zeit, sondern Männer und Frauen gegen ihre Zeit. In diesem Sinne gibt es eine Parallele zwischen dem Leben Trotzkis und dem Leben Rogowins. Wäre Trotzki 1923 gestorben, wäre er wahrscheinlich als einer der großen Führer der aufblühenden russischen Revolution in die Geschichte eingegangen. Aber es sind die Errungenschaften der letzten 17 Jahre seines Lebens, von 1923 bis 1940 - sein unnachgiebiger Kampf gegen den Verrat des Stalinismus an der Weltrevolution - der ihm die historische Unsterblichkeit als wichtigster revolutionärer Denker und Führer des 20. Jahrhunderts, und vielleicht sogar des 21., sicherte.

Wadims Größe, wie die Trotzkis, zeigte sich in seiner politischen, intellektuellen und moralischen Opposition - in seiner mutigen, prinzipienfesten und unermüdlichen Ergebenheit gegenüber der historischen Wahrheit in einer von Jahrzehnten der Lügen, des Zynismus, der Heuchelei und der Feigheit verdorbenen Umgebung. In Opposition zu der Zeit, in der er lebte, schuf Wadim Rogowin sieben Bände, die als moralische und intellektuelle Meilensteine der Rekonstruktion des revolutionären Erbes der Menschheit in die Weltliteratur eingehen werden.

Der Titel des siebten Bands von Wadims Buch lautet Das Ende ist der Anfang. Dieser Titel könnte auch als passende Grabinschrift für Wadim selbst dienen. Nur seine physische Hülle hat uns am 18. September 1998 verlassen. Was in Wadims Leben und Werk unsterblich ist, lebt in uns weiter und gewinnt mit jedem Tag an Stärke.

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