Am 30. April sprach David North, der leitende Redakteur der World Socialist Web Site, auf einer Versammlung vor Studenten an der Notre Dame University in South Bend, im amerikanischen Bundesstaat Indiana. Wir veröffentlichen im Folgenden eine editierte Version des Manuskripts seiner Rede.
Noch nicht einmal ein Monat ist vergangen seit dem Ende des amerikanischen Kriegs gegen den Irak - oder vielleicht wäre es richtiger zu sagen, seit dem Ende der letzten Stufe des Kriegs, denn es soll nicht in Vergessenheit geraten, dass die Vereinigten Staaten seit zwölf Jahren in der einen oder anderen Form Militäroperationen gegen den Irak ausgeführt haben. Der Irak erleidet das tragische Schicksal, der längsten militärischen Operation ausgesetzt zu sein, die die Vereinigten Staaten jemals unternommen haben.
Bis heute gibt es keine umfassende Analyse, wie sich die verheerenden militärischen und wirtschaftlichen Maßnahmen de Vereinigten Staaten auf die irakische Gesellschaft insgesamt ausgewirkt haben.
Aus politischen Gründen weigert sich das amerikanische Militär, eine grobe Schätzung, geschweige denn die genaue Anzahl der irakischen Soldaten zu nennen, die seit Beginn der Operationen, seit dem ersten Golfkrieg im Januar 1991 getötet wurden. Es kann kaum Zweifel daran geben, dass die Zahl der Kriegsopfer im irakischen Militär sich in der Zeit der heftigsten Militäroperationen - im Januar-Februar 1991 und im März-April 2003 - auf Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende belief. Nach dem ersten Golfkrieg gab es entsetzliche Berichte über das Massaker an Tausenden wehrlosen irakischen Soldaten, die sich auf dem Rückzug befanden. In den vergangenen Monaten wurden Tausende von Computern gelenkte Bomben und Raketen eingesetzt, um ganze Einheiten der irakischen Armee zu zerstören, die keinerlei Mittel hatten, um sich gegen solche Angriffe zu verteidigen.
Wie wehrlos die irakischen Truppen waren, konnte man deutlich an den begrenzten Berichten über das Ergebnis des amerikanischen Angriffs auf den Flughafen von Bagdad erkennen. Laut Presseberichten wurden schätzungsweise zweitausend bis dreitausend Irakis getötet, während das amerikanische Militär weniger als ein halbes Dutzend Leute verlor. Einen oder zwei Tage später wüteten amerikanische Panzer in einem Teil Bagdads, töteten wieder Tausende Soldaten (und Zivilisten) und zählten auf der eignen Seite wiederum nur eine Handvoll Opfer.
Aufgrund des gewaltigen Ungleichgewichts der militärischen Ressourcen der beiden gegnerischen Armeen fällt es schwer, hier von Gefechten zu sprechen. Sie erinnern vielmehr an die blutigen Massaker der Kolonialzeit, wie die berüchtigte Schlacht von Omdurman, als zehn- bis fünfzehntausend Sudanesen von britischen Truppen niedergemetzelt wurden und die Briten selbst nur ein paar Dutzend Männer verloren.
Es gibt auch kaum präzise Informationen über die Zahl der irakischen Zivilisten, die durch amerikanische Militäroperationen ums Leben gekommen sind - weder für die Zeiträume Januar-Februar 1991 und März-April 2003, noch in Bezug auf die unzähligen Bombardements, die die Vereinigten Staaten im Laufe des vergangenen Jahrzehnts durchgeführt haben. Wir wissen ein wenig mehr über die Folgen der von den Vereinigten Staaten durchgesetzten Wirtschaftssanktionen für die irakische Gesellschaft und besonders ihre Kinder. Das Sanktionsregime, das mit dem Ende des ersten Golfkriegs verhängt wurde, hat nach Schätzungen einer halben bis einer Million Kindern das Leben gekostet.
Ich hoffe, dass niemand in diesem Raum vergessen hat, wie die hauptsächliche Rechtfertigung lautete, die die Regierung der Vereinigten Staaten für den Krieg gegeben hat. Nicht nur die Invasion des Iraks im vergangenen Monat sondern auch das Leiden, das sie seit dem "Desert Storm" 1991 über die irakische Bevölkerung gebracht hat, wurden damit begründet, dass das Regime von Saddam Hussein angeblich über so genannte "Massenvernichtungswaffen" verfügte, die eine immense und unmittelbare Gefahr für die Vereinigten Staaten und den Rest der Welt darstellten.
Man müsste ein ganzes Buch schreiben, um die massive Propagandakampagne zu rekapitulieren und zu analysieren, die im letzten Jahrzehnt über das Thema "Massenvernichtungswaffen" entwickelt wurde. Dies war keine Erfindung der jetzigen Bush-Regierung. Saddams "Massenvernichtungswaffen" wurden von der Clinton-Regierung beschworen, um das Bombardement zu rechtfertigen, das sie 1999 gegen den Irak begann. Tatsächlich reicht die Kampagne zurück bis in die unmittelbare Zeit nach dem ersten Golfkrieg. Sie geht zurück auf rechte Kräfte, die enttäuscht waren, dass Bush Senior nicht Bagdad erobert, Saddam Hussein gestürzt und das Land besetzt hatte, und eine Rechtfertigung für eine zweite Invasion des Iraks suchten.
Konzentrieren wir uns nur auf die jüngste Periode, die Zeit vor dem Ausbruch des Krieges.
Am 12. September 2002 erklärte Präsident Bush vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass Hussein "weiterhin Massenvernichtungswaffen entwickelt. Wirklich sicher sein, dass er eine Atomwaffe besitzt, könnten wir erstmals sein, wenn er sie, Gott behüte es, einsetzt."
Am 7. Oktober 2002 erklärte Bush, dass der Irak "chemische und biologische Waffen besitzt und produziert... Der Irak könnte sich an jedem beliebigen Tag dazu entscheiden, einer terroristischen Gruppe oder einem einzelnen Terrorist eine biologische oder chemische Waffe zur Verfügung zu stellen... Angesichts dieser Tatsachen darf Amerika die Bedrohung nicht ignorieren, die sich gegen das Land zusammenbraut. Angesichts der deutlichen Beweise für die Gefahr können wir nicht auf den endgültigen Beweis warten - den unwiderlegbaren Beweis - der in Form einer pilzförmigen Wolke kommen könnte."
Die Behauptung, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze, bildete die Grundlage für die nicht-verhandelbare Forderung, die von der Bush-Regierung vorgebracht wurde. Wie Bush am 7. Oktober 2002 sagte: "Saddam Hussein muss sich entwaffnen oder wir werden um des Friedens willen eine Koalition anführen, um ihn zu entwaffnen."
Natürlich setzte diese Forderung voraus, dass der Irak tatsächlich die Massenvernichtungswaffen besaß, deren Existenz die Vereinigten Staaten behaupteten. Wenn der Irak nicht über solche Waffen verfügte, war die Forderung bedeutungslos. Er konnte sich nicht der Waffen entledigen, die er gar nicht hatte. Aber die Vereinigten Staaten behaupteten, es stände außer Frage, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze und bereit sei, sie einzusetzen. Nachdem die Inspektoren unter der Leitung von Hans Blix und Mohammed ElBaradei ihre Arbeit begonnen hatten, wurde die Tatsache, dass keine Massenvernichtungswaffen oder glaubwürdige Hinweise auf ihre Existenz gefunden werden konnten, von der Bush-Regierung sogar als Beweis präsentiert, dass sie sehr wohl existierten - nur ein Regime, das Massenvernichtungswaffen besitze, würde sie so gut verstecken!
In einem Artikel, der am 23. Januar in der New York Times erschien und den Titel trug "Warum wir wissen, dass der Irak lügt", versicherte die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice: "An Stelle der Bereitschaft abzurüsten gibt es im Irak eine hohe politische Bereitschaft die Waffen zu behalten und zu verbergen. Dies geschieht unter der Regie von Saddam Hussein und seinem Sohn Qusay, unter dessen Kontrolle sich die Spezielle Sicherheitsorganisation befindet, die die Verheimlichungsaktivitäten im Irak leitet."
Powells Gründe für den Krieg
Die Massenvernichtungswaffen-Kampagne der Bush-Regierung erreichte ihren Höhepunkt am 5. Februar 2003, als Außenminister Colin Powell vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trat, um die Gründe der amerikanischen Regierung für den Krieg darzulegen. Ich möchte einige Passagen aus seiner Rede zitieren:
1. "Wir wissen von Quellen, dass eine Raketenbrigade außerhalb Bagdads Raketenwerfer und Gefechtsköpfe mit biologischen Kampfstoffen auf verschiedene Orte im westlichen Irak verteilte, als wir im vergangenen Herbst hier im Rat die Resolution 1441 diskutierten."
2. "Wir wissen, dass der Irak mindestens sieben dieser mobilen Fabriken zur Herstellung biologischer Kampfstoffe besitzt. Diejenigen, die auf Lastkraftwagen installiert sind, bestehen jeweils aus zwei oder drei Lastwagen."
3. "Es kann keinen Zweifel geben, dass Saddam Hussein biologische Waffen besitzt und über die Fähigkeit verfügt, viele, viele mehr in kurzer Zeit herzustellen. Und er hat die Möglichkeiten, diese tödlichen Gifte und Krankheiten auf solche Art freizusetzen, dass sie ein Massensterben und gewaltige Zerstörungen verursachen."
4. "Unsere konservative Schätzung lautet, dass der Irak heute über ein Arsenal von 100 bis 500 Tonnen chemischer Kampfstoffe verfügt. Das reicht aus, um 16.000 Gefechtsköpfe zu bestücken."
5. "Saddam Hussein hat chemische Waffen [...] Wir haben Quellen, die uns mitteilen, dass er kürzlich seine Kommandeure angewiesen hat, sie einzusetzen."
6. "Das irakische Dementi, den Terrorismus zu unterstützen, gehört zu der Reihe der anderen irakischen Dementis, Massenvernichtungswaffen zu besitzen. Das ist alles ein großes Lügengespinst."
7. "Saddam Hussein für ein paar weitere Monate oder Jahre im Besitz von Massenvernichtungswaffen zu lassen ist keine Option, nicht in der Welt nach dem 11. September."
Die Massenmedien waren bezaubert von Powells Auftritt vor den Vereinten Nationen und behaupteten uneingeschränkt, dass er eine nicht zu widerlegende Anklage gegen das irakische Regime präsentiert hätte. Die politisch bedeutendste Reaktion kam aus dem Bereich der traditionell liberalen Presse, die die von Powell geschaffene Gelegenheit nutzte, um sich vollständig hinter die Kriegspläne der Bush-Regierung zu stellen.
Richard Cohen von der Washington Post behauptete in einer Kolumne, die am Tag nach Powells Auftritt erschien: "Die Beweise, die er den Vereinten Nationen vorlegte - einige davon Indizienbeweise, einige ließen einem in ihren Details das Blut gefrieren - müssen jeden überzeugen, dass der Irak nicht nur keine Rechenschaft über den Verbleib seiner Massenvernichtungswaffen abgelegt hat, sondern auch zweifellos immer noch in ihrem Besitz ist. Nur ein Idiot - oder wahrscheinlich ein Franzose - könnte zu einem anderen Schluss gelangen."
Mary McGrory schrieb am gleichen Tag in der Washington Post : "Ich weiß nicht, wie es den Vereinten Nationen erging, als sie Colin Powells J’accuse -Rede gegen Saddam Hussein hörten. Ich kann nur sagen, dass er mich überzeugte, und ich war genauso schwer zu überzeugen wie Frankreich. [...] Ich habe genug gehört, um zu wissen, dass Saddam Hussein mit seinem Arsenal an Nervengas und tödlichen Chemikalien eine größere Bedrohung darstellt, als ich gedacht hatte."
Eine Woche später, am 15. Februar 2003, stellte die New York Times fest: "Es gibt weit reichende Beweise, dass der Irak das hochgiftige Nervengas VX und Anthrax hergestellt hat und über die Fähigkeit verfügt, noch wesentlich mehr zu produzieren. Er hat diese Materialien verheimlicht, in Bezug auf sie gelogen und in jüngster Zeit gegenüber den Inspektoren keine Rechenschaft über sie abgelegt."
Man muss betonen, dass die Massenmedien nicht von der Bush-Regierung hinters Licht geführt wurden, sondern bereitwillig als Komplizen bei der absichtlichen Täuschung der amerikanischen Bevölkerung einsprangen. Die Propagandakampagne der Regierung war in keinerlei Hinsicht besonders ausgefeilt oder spitzfindig. Vieles von dem, was gesagt wurde, stand im Widerspruch zu feststehenden Tatsachen und elementaren logischen Überlegungen. Selbst als herauskam, dass die Behauptung der Regierung, der Irak habe versucht nukleares Material zu erhalten, auf plump gefälschten Dokumente beruhte, entschlossen sich die Medien, aus dieser vernichtende Enthüllung keine große Sache zu machen.
Nun ist der Krieg vorbei und hat vielen Tausenden Irakis das Leben gekostet. Das Land liegt in Trümmern. Ein Großteil seiner industriellen, sozialen und kulturellen Infrastruktur ist zerstört worden. Während der vergangenen drei Wochen haben amerikanischen Streitkräfte den Irak durchkämmt, um Massenvernichtungswaffen zu finden, mit denen die Regierung und die Medien den Krieg rechtfertigen könnten. Und was ist gefunden worden? Nichts.
Die Medien haben sich mittlerweile darauf eingestellt, dass die tödlichen Waffen nicht gefunden werden, die die Begründung für den Krieg und die vorausgegangenen mörderischen Sanktionen waren.
Die New York Times veröffentlichte am 25. April auf der Titelseite ein Foto von einem Schädel, der angeblich einem Opfer von Saddam Husseins Regime gehört. Das mag sogar der Wahrheit entsprechen. Niemand hat je den brutalen Charakter von Saddam Husseins Regime in Zweifel gezogen - auch wenn diejenigen, die mit der Geschichte des Iraks vertraut sind, wissen, dass er seine schlimmsten Verbrechen begangen hat, als er noch die politische Unterstützung der Vereinigten Staaten genoss.
Irakische Sozialisten wissen seit langem, dass die erste Machtübernahme der Baathisten im Staatsstreich von 1963 mit Hilfe der Kennedy-Regierung geschah. Die CIA versorgte die Baathisten mit den Namen von irakischen Kommunisten und Sozialisten, die sie liquidiert sehen wollten. Die Beziehungen zwischen den Baathisten und den Vereinigten Staaten wechselten in den nachfolgenden 27 Jahren, je nachdem wie die internationalen und regionalen Beziehungen sich entwickelten und auf die Feinheiten der amerikanischen Außenpolitik zurückwirkten.
Wenn man ein wenig Kenntnis von dieser Geschichte hat, konnte man kaum zweifeln, dass das Foto aus einem bestimmten politischen Grund auf der Titelseite der Times war. Dieses sollte wenig später klar werden. Zwei Tage danach veröffentlichte die Times eine Kolumne von Thomas L. Friedman mit dem Titel "Die Bedeutung eines Schädels". Sie begann folgendermaßen:
"Die Times vom Freitag hatte auf der Titelseite ein Foto von einem Schädel, umgeben von einer Gruppe Irakis. Der Schädel stammte von einem politischen Gefangenen von Saddam Husseins Regime und die trauernden Irakis waren Verwandte, die ihn auf einem Friedhof exhumiert hatten, der mit anderen Folteropfern von Saddam gefüllt ist. Direkt unter dem Bild war ein Artikel über Präsident Bush, der gelobte, dass Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden werden, wie er es versprochen hat.
Was mich betrifft, müssen wir keine Massenvernichtungswaffen finden, um den Krieg zu rechtfertigen. Dieser Schädel und die Tausende, die noch ausgegraben werden, sind für mich genug. Herr Bush schuldet der Welt keinerlei Erklärung für fehlende chemische Waffen (selbst wenn sich herausstellen sollte, dass das Weiße Haus diese Frage hochgespielt hat)."
Friedman fährt fort: "Wenn kümmert es, ob wir nun ein paar vergrabene Fässer mit Gift finden? Haben sie wirklich mehr moralisches Gewicht als jene vergrabenen Schädel? Auf keinen Fall."
Dass Herr Friedman gerade zu diesem Zeitpunkt versuchte, in der Entdeckung von Husseins Opfern und ihren sterblichen Überresten eine nachträgliche Rechtfertigung für den Krieg gegen den Irak zu finden, bedeutete nicht gerade einen Glückstreffer. An demselben Wochenende, an dem seine Kolumne erschien, wurde die Welt daran erinnert, dass die Vereinigten Staaten selbst viele Skelette haben, die in unmarkierten Gräbern auf der ganzen Welt liegen. Justizvertreter von Honduras gaben die Entdeckung von mindestens vier geheimen Friedhöfen bekannt, wo die Todesschwadronen, die von den Vereinigten Staaten ausgebildet und finanziert worden waren, ihre Opfer begraben hatten. Unter den sterblichen Überresten, die auf einem dieser Friedhöfe freigelegt wurden, befanden sich auch diejenigen von James Francis Carney, einem amerikanischen Jesuitenpriester, der vor 20 Jahren in Honduras verschwunden war. Die Zahl der Todesopfer in diesem Land belief sich in den 1980-er Jahren auf Zehntausende. Viele der honduranischen Armeeoffiziere, die Teil der staatlichen Todesschwadronen waren, erhielten ihre Ausbildung in den Vereinigten Staaten.
Der Fall von Honduras ist keine Ausnahme. Es gibt kaum ein Land in Latein- oder Zentralamerika, das nicht mit der direkten Unterstützung der Vereinigten Staaten grausame Akte der Repression durchgeführt hat.
Die politische Bedeutung der staatlichen Lügen
Meine Aufgabe heute Abend besteht aber nicht darin, die Verbrechen amerikanischer Marionettenregime gegen jene aufzurechen, die der irakische Staat unter Saddam Hussein begangen hat. Viel wichtiger ist es, uns ausführlich mit der politischen Bedeutung der Tatsache zu befassen, dass die US-Regierung den Krieg gegen den Irak mit Lügen gerechtfertigt hat, und dass die amerikanischen Medien, als diese Lügen platzten, völlig gleichgültig reagierten, mit einem großen "Ja und?"
Es gab nie ein goldenes Zeitalter der amerikanischen Politik. Die letzte wirklich ehrenhafte Regierung in der Geschichte der Vereinigten Staaten, die sich vorbehaltlos den höchsten demokratischen Idealen verpflichtete, war jene Abraham Lincolns. Dennoch wäre es eine Karikatur der Wirklichkeit, würde man die moderne amerikanische Geschichte als endlose Saga der Reaktion darstellen.
Selbst im Rahmen der bürgerlichen Politik gab es nicht wenige Perioden bedeutsamer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, in denen demokratische und egalitäre Stimmungen einen Widerhall in breiten Schichten der Gesellschaft fanden. Diese Stimmungen schlugen sich sogar in den Medien nieder, deren Eigentümer zumindest einen Teil ihrer Autoren, Reporter und Herausgeber aus jenen Mittelschichten rekrutieren mussten, die ernsthaft für demokratische Grundsätze eintraten.
Noch vor einer Generation fand man Reporter und Leitartikler, die überzeugt waren, dass staatliche Lügen entlarvt und verurteilt werden müssen. Die Medien benutzten in den sechziger Jahren den Begriff "Glaubwürdigkeitslücke" so häufig, dass er sprichwörtlich wurde. Gemeint war die Kluft zwischen der offiziellen Begründung, welche die Johnson-Regierung für das amerikanische Eingreifen in Vietnam gab, und der historischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit dieses Konflikts Ein Jahrzehnt später erschütterte die Veröffentlichung der Pentagon Papers durch die New York Times die Nixon-Regierung, und deren Lügen führten schließlich zum Watergate-Skandal, der im Rücktritt eines kriminellen Präsidenten gipfelte.
Jetzt hat die Regierung das amerikanische Volk und die Welt offensichtlich plump belogen, um einen Krieg zu rechtfertigen, der völkerrechtswidrig ist. Aber obwohl diese ungeheure politische Lüge geplatzt ist, wird sie von den Medien nicht verurteilt, sondern noch unverschämter gerechtfertigt.
Wir haben es hier mit einer politischen und gesellschaftlichen Erscheinung zu tun, die einer sorgfältigen Untersuchung und Erklärung bedarf. Sie enthüllt vor den Augen der Bevölkerung wichtige und beunruhigende Aspekte der Gesellschaft, in der wir leben.
Beginnen wir mit der objektiven Bedeutung der politischen Lüge. Man sollte sie nicht als moralisches Problem, sondern als gesellschaftliches Phänomen betrachten. Die Lüge ist der Ausdruck eines Widerspruchs in der Gesellschaft. Lügt ein Individuum, versucht es damit, die Kluft zwischen seinen persönlichen Interessen und den allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Normen zu überbrücken oder zu verdecken. In diesem Sinn erwächst die Lüge aus dem Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Ausmaß, Tiefe und Schärfe dieses Konflikts bestimmen Ausmaß und Schwere der Lüge - ob sie die Form einer relativ gutmütigen und gutgelaunten Ausrede annimmt oder die beunruhigendere Form einer Falschaussage unter Eid.
Auch staatliche Lügen sind Ausdruck eines Widerspruchs - nicht zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern zwischen gesellschaftlichen Klassen. In letzter Analyse ist der Staat ein Zwangsinstrument, das den Interessen der gesellschaftlich herrschenden Klasse - der Kapitalistenklasse - dient und diese beschützt. Aber in der bürgerlichen Demokratie wird diese Rolle als Zwangsinstrument durch einen ausgefeilten politischen und juristischen Überbau vermittelt und verdeckt, der es dem Staat ermöglicht, als mehr oder weniger unparteiischer Schiedsrichter aufzutreten, der zwischen unterschiedlichen Klassen und sozialen Interessen vermittelt und im Interesse der Nation als ganzer handelt. Die Legitimität, die der Staat in den Augen breiter Bevölkerungsschichten genießt, ist davon abhängig, dass er so gesehen wird - als demokratisch gewählter Vertreter des gesamten Volkes.
So lange die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für eine Politik des Klassenkompromisses gegeben sind und diese sogar begünstigen, bleiben die demokratischen Illusionen bestehen - und die staatlichen politischen Lügen halten sich in Grenzen. Aber in Zeiten scharfer gesellschaftlicher Spannungen, wenn sich die Klasseninteressen weit auseinander entwickeln, zerstört der Staat in seiner Rolle als Werkzeug der Klassenherrschaft zunehmend den demokratischen Schein. Gerade in solchen Perioden nehmen die staatlichen Lügen krasse und abstoßende Formen an. Aufgabe der Lüge ist es, die tiefe Kluft zwischen den Interessen der herrschenden Elite an den Schalthebeln der Macht und der breiten Masse der Bevölkerung zu vertuschen.
Die Kampagne über angebliche Massenvernichtungswaffen ergab sich organisch aus dem Bedürfnis der herrschenden Elite, vor den Augen der Bevölkerung die räuberischen Klasseninteressen zu verbergen, die die Ursache der Kriegstreiberei bilden.
Wie hätte eine Rede geklungen, die ehrlich die Kriegsgründe erklärt? Stellen wir uns für einen Augenblick vor, Herr Bush hätte beschlossen, dem amerikanischen Volk die tatsächlichen Kriegsgründe zu erklären. Das hätte sich etwa so angehört:
"Liebe amerikanische Mitbürger: Heute Nacht haben die Vereinigten Staaten eine massive Bombardierung des Irak begonnen, denen bald eine Bodeninvasion des Landes folgen wird. Da dieses Vorgehen gegen das Völkerrecht verstößt, ist es umso wichtiger, dass ich Ihnen die Gründe für das Vorgehen Ihrer Regierung ehrlich erkläre.
Wie Sie wissen, haben die meisten meiner Kabinettsmitglieder lukrative Stellungen in großen Konzernen inne gehabt und viele von uns unterhalten enge Beziehungen zur Ölindustrie. Mein Dad hat, wie Sie vielleicht wissen, sein Vermögen im Ölgeschäft gemacht und ist auch weiterhin stark daran interessiert. Den einzigen ernsthaften Beruf, den ich ausübte, bevor ich in die Politik ging, war auch im Ölgeschäft, und obwohl ich nicht besonders viel Erfolg hatte, bin ich für seine Anliegen sehr empfänglich. Unser Vizepräsident Dick Cheney, ein guter Mann, war bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender von Halliburton und kassiert auch weiterhin 600.000 Dollar jährlich von diesem Konzern, der im Ölerschließungsgeschäft eine wichtige Rolle spielt.
Aus diesem Grund reagiert meine Regierung äußerst empfindlich auf die Probleme der internationalen Ölindustrie. Öl ist leider ein endlicher Rohstoff, und viele glauben, ab 2025 werde es starke Engpässe geben. Obwohl man im Ölgeschäft viel Geld machen kann, entspringt unsere Kriegsentscheidung also nicht ausschließlich persönlichen Überlegungen. Außerdem glauben wir, dass die USA ihre Vormachtstellung auf der Welt absichern müssen, indem sie sich mit militärischen Mitteln den unbeschränkten Zugang zu den Ölreserven am Persischen Golf sichern.
Tatsächlich wurde seit etwa zehn Jahren an den Plänen zur Eroberung des Irak gearbeitet. Nach dem Fall der Sowjetunion war klar, dass niemand die Vereinigten Staaten daran hindern kann, zu tun, was sie wollen, und so haben die Vereinigten Staaten mit der Entwicklung von Plänen für die uneingeschränkte Weltherrschaft begonnen. In diesen Plänen spielt das Öl eine wichtige Rolle und der Irak - das Land mit den weltweit zweitgrößten nachgewiesenen Ölreserven - wurde zu einem vorrangigen Angriffsziel. Wir konnten natürlich nicht einfach sagen, dass die Vereinigten Staaten den Irak wegen seinem Öl wollen, daher mussten wir einen anderen Grund vorbringen. So sind wir auf die Idee der Massenvernichtungswaffen gekommen.
Besonders nach dem 11. September wurde das Thema der Massenvernichtungswaffen zum Renner. Offen gesagt wussten wir, dass der Irak nichts mit dem 11. September zu tun hatte - und schon gar nicht mit den Anthrax-Anschlägen in den Vereinigten Staaten, die von einigen überschwänglichen rechten Fanatikern unter meinen eigenen Anhängern durchgeführt wurden. Aber wer fragt schon danach.
Der Krieg fängt jedenfalls heute an. Er kostet weiß Gott wie viele Milliarden. Aber wir glauben, dass wir die geplanten Steuersenkungen beibehalten und den Krieg trotzdem bezahlen können, wenn wir bei der Gesundheitsversorgung, der Sozialhilfe und der Erziehung kürzen. Ihnen gefallen die Folgen vielleicht nicht, aber so ist das Leben. 2004 steht vor der Tür, und wir werden alle so tun, als würden wir dann eine Wahl abhalten.
Vielen Dank und Gottes Segen für Sie alle. Meine Freunde und ich werden uns um Sie kümmern."
Natürlich erwartet niemand eine derart offene Rede von einem amerikanischen Präsidenten - schon gar nicht von einem, der durch Wahlbetrug ins Amt kam. Dennoch sind das Ausmaß der unverschämten Lügen, mit denen dieser Krieg begründet wurde, und die gleichgültige und zynische Reaktion der Medien ein wichtiger Gradmesser für den allgemeinen Zusammenbruch bürgerlich demokratischer Normen. Das politische Leben der Vereinigten Staaten widerspiegelt auf groteske Weise den zunehmend oligarchischen Charakter des amerikanischen Staates.
Während ein wachsender Anteil des nationalen Reichtums in die Hände eines immer kleineren Teils der Bevölkerung gelangt, können die herrschenden Eliten keine wirkliche Massenunterstützung für die staatliche Politik gewinnen. Da die Interessen der Oligarchie an der Spitze des Staates und der breiten Masse der Bevölkerung immer weiter auseinander driften, spielen Lügen eine entscheidende Rolle dabei, das öffentliche Bewusstsein Tag für Tag zu manipulieren und das zu produzieren, was die Medien als "öffentliche Meinung" bezeichnen. Vorübergehende und kurzfristige Erfolge sind auf dieser Grundlage möglich. Aber das langfristige Ergebnis dieser täglichen Manipulation und Täuschung ist die nicht wieder gut zu machende Entfremdung der Bevölkerung von der offiziellen Politik.
Diese Entfremdung nimmt anfangs eine Form an, die ein oberflächlicher Beobachter für Gleichgültigkeit und Apathie halten könnte. Aber unter der Oberfläche der offiziellen Politik spielt sich ein komplexer gesellschaftlicher und intellektueller Prozess ab. Die Belastungen des täglichen Lebens zeigen langsam aber sicher Wirkung im Massenbewusstsein.
Sicher, das Bewusstsein hinkt dem Sein hinterher. Aber der Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und der verstärkten Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse ist kein sozialistischer Mythos, sondern eine objektive Tatsache. Die sozialen Auswirkungen dieser neuen Eruption des amerikanischen Imperialismus werden für die amerikanische Arbeiterklasse immer deutlicher spürbar werden.
Sozialisten dürfen die Erneuerung eines politischen Klassenbewussteins nicht nur voraussehen, sie müssen sie auch beschleunigen, indem sie eine neue gesellschaftliche und programmatische Grundlage für den politischen Kampf schaffen. Dazu muss man verstehen, dass die wirkliche Massenbasis für die Entwicklung einer Bewegung gegen den Imperialismus - in den Vereinigten Staaten und international - die Arbeiterklasse ist. Und man muss wissen, dass der Kampf gegen den Krieg nicht vom Kampf gegen das kapitalistische System getrennt werden kann.